Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 237
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 415g
  • ISBN-13: 9783421054678
  • ISBN-10: 3421054673
  • Artikelnr.: 24628585
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2001

Phantom hinter der Milchglasscheibe
Das Porträt des Bundesinnenministers, Parteipolitikers und Rechtsanwaltes Otto Schily bleibt im Ungefähren – zum Menschen hinter all den Funktionen dringt es nicht vor
REINHOLD MICHELS: Otto Schily. Eine Biographie, Deutsche Verlagsanstalt, München 2001. 250 Seiten, 39,80 Mark.
„Am Berliner Savigny-Platz, im Restaurant Zwiebelfisch, sitzt ein kleiner, graziler Mann und löffelt eine Zwiebelsuppe. Daneben steht ein Glas Rotwein, das er in akkurat langsamen Zügen leert. Unauffällig sein grauer Anzug mit ebenso grauer Weste, über der als einziger Luxus eine goldene Uhrkette blinkt. Der Mann provoziert Distanz. Unmöglich die Vorstellung, dass ihm hier, wo Linke und Liberale diskutieren, wo sich die Leute duzen, jemand auf die Schultern klopft, obwohl jeder, der weiß, wer er ist, seine Fähigkeiten schätzt.” Die Szene spielt in den 70er Jahren in Berlin, und der da sitzt, ist der Anwalt Otto Schily. Er hat die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin verteidigt, den RAF-Mitbegründer Horst Mahler vertreten. Damals zählte er zu den Hassfiguren der bürgerlichen Gesellschaft; 20 Jahre später war er Innenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Einst war er Grüner, wechselte dann zur SPD und scheiterte fast an seinen bayerischen Genossen, er errang die Hochachtung von Axel Springer und trieb Wirtschaftsbosse im Flick-Untersuchungsausschuss zur Weißglut. Ein interessanter Mann also, ein widersprüchlicher Werdegang. Eine Biographie über diesen Mann sollte verlockend zu lesen sein. Und doch ist die Geschichte aus dem Restaurant Zwiebelfisch in Berlin eine der ganz wenigen Szenen im Buch von Reinhold Michels, in denen der Mensch Schily deutlich wird, in denen er lebt, in denen der Autor seinem Objekt näher kommt. Das Problem dabei ist: Diese Passage ist nicht von Michels. Sie stammt aus der Schriftenreihe Strafverteidiger in Deutschland. Und damit ist das ganze Problem des Buches umrissen.
Schroff und distanziert
Es ist nicht einfach, an Otto Schily heranzukommen. Er ist distanziert, verschlossen, schroff, ist sich seiner selbst und seiner intellektuellen Überlegenheit sehr bewusst. Das macht ihn zu einem schwierigen Gesprächspartner, zum noch schwierigeren Objekt einer Biographie. Aber wenn man sich einen Mann wie ihn schon aussucht, dann sollte man zumindest versuchen, mehr aus ihm herauszuholen, als längst bekannt ist. Reinhold Michels, verantwortlicher innenpolitischer Redakteur bei der Rheinischen Post in Düsseldorf, hat Freunde befragt, Weggefährten – und kommt dennoch nicht an den Mann heran. Der Mensch Schily bleibt ihm verborgen – und das verdecken auch die Schilderungen seiner Geschwister nicht, mit denen Michels ebenfalls ausführlich gesprochen hat. Sie können den erwachsenen Schily, den Juristen, den Politiker nicht erklären. Das ganze Buch hindurch bleibt Schily der Industriellen-Sohn aus dem Ruhrgebiet, der Mann hinter der Mauer einer großbürgerlichen Villa, der entrückte Musenfreund. Es bleibt unklar, wie er Politik organisiert – etwa die schwierigen Verhandlungen um das neue Staatsbürgerschaftsrecht, an denen Schily maßgeblich beteiligt war.
Der Mangel an Leben in diesem Buch macht es so mühselig zu lesen. Es gibt kaum Szenen, kaum Begebenheiten, bei denen der Autor selbst dabei war – und falls doch, tut er alles, um das zu verbergen. Der Autor beschränkt sich auf die Nacherzählung von Fakten, die bereits zu Geschichte geronnen sind. Er vermag es nicht, die Irrungen und Ausfälle Schilys gerade in seiner Zeit als Strafverteidiger von Gudrun Ensslin zu erklären, als Schily sagte, Anschläge der RAF seien eine Form des Widerstandes gegen den Völkermord in Vietnam gewesen. Michels steht ratlos davor, wirkt peinlich berührt und verwundert, wie dieser feinsinnige, Kunst und Musik liebende Mensch sich zu solch radikalen Äußerungen versteigen kann.
Vielleicht liegt das auch daran, dass das Buch keinerlei Wert auf die private Seite Schilys legt. Über seine erste Ehe liest man nur, dass seine Frau ihn mit dem Marxismus infiziert, sich später aber distanzierter dazu verhalten habe als ihr Mann. Das Ehepaar sei „politisch auseinander gedriftet”. Über Schilys zweite Frau schreibt Michels, sie sei „apart”, was immer das bedeutet, sei Polin und gelernte Stadtplanerin, die sich aber jetzt „als Atemtherapeutin betätigt”. Welchen Einfluss sie auf Schily hat, ob und wie er sich durch sie verändert hat – kein Wort.Dorthin, wo Schily interessant wird, dringt der Autor nicht vor: Ins Haus in der Toscana etwa, wo der Politiker, so schreibt Michels, „ein ganz anderer Mensch” wird – aber diesen Menschen lernt der Leser nicht kennen.
Mangel an Selbstkritik
Schily bleibt hinter einer Milchglasscheibe verborgen. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Autor zwar heftig im Archiv gewühlt, aber nur kurz mit Schily über Aktuelles gesprochen hat. So wenig Selbstkritisches, Nachsinnendes, Reflektierendes von Schily selbst ist in diesem Buch zu finden, dass auch die vielen vermeintlich erklärenden Wörter wie „vermutlich” und „wahrscheinlich” nicht weiterhelfen. Michels schreibt Schily Gefühlsregungen zu, die er nicht belegen kann – weder durch Szenen noch durch aktuelle Selbsteinschätzungen Schilys. Er dringt nicht durch den Panzer Schilys.
Ein Wort zum Stil: Spätestens nach der dritten Seite hat man verstanden, dass Schily ein Individualist ist und sich seit seiner Jugend elegant kleidet. Dies auf jeder Seite zu betonen, ihn immer wieder als Anzugträger, als Schlipsträger, als Bürgerlichen zu apostrophieren, wirkt einfach langweilig. Überdies hat das Buch auch noch das Problem, dass sein Autor das hohe Lied auf die Unabhängigkeit Schilys singt, der sich bereits früh erklärt habe und nach dem Ende dieser Legislaturperiode sein Ministeramt aufgeben werde. Gerade erst hat Schily aber angekündigt, doch noch einmal weiterzumachen. Dafür immerhin kann der Autor nun wirklich nichts.
ANNETTE RAMELSBERGER
Der Kanzler wünscht, dass er weitermacht: Otto Schily gilt als eine der Säulen im Kabinett Schröder.
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2001

Nie den Streit gefürchtet
Otto Schily: Vom RAF-Verteidiger zum Anwalt des Staates

Reinhold Michels: Otto Schily - Eine Biographie. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2001. 237 Seiten, 39,80 Mark.

Als Anfang dieses Jahres mehrere Minister von der deutschen Medienöffentlichkeit nochmals daraufhin geprüft wurden, ob sie ihren politischen Lebensweg auf der politischen Linken wirklich immer innerhalb des parlamentarischen Konsenses verbracht hätten, da fehlte neben den Ministern Fischer und Trittin als dritter Name der des Bundesinnenministers. Er hätte nach oberflächlicher Erinnerung dazugehören können. Auch Schily sah sich aufgerufen, durch Studentenrevolte und Vietnamkrieg politisch aktiv zu werden; später war er "RAF-Anwalt".

Militant war Schily nie, das verkürzt auf den zweiten Blick schon die Entfernung zwischen dem linken Juristen der siebziger Jahre und dem Bundesminister der Jahrhundertwende. Wesentliche andere Unterschiede - die Prägung durch das großbürgerliche Elternhaus, die stete, auch egozentrisch motivierte Suche nach Unabhängigkeit - sind jetzt von dem Journalisten Reinhold Michels in einer biographischen Beschreibung Schilys aufgeblättert worden.

Der Biograph markiert den Weg Schilys unter anderem mit dem Wort, er sei vom Strafverteidiger zum "Staats-Anwalt" gereift. Er sieht den Grund vielerlei charakterlicher Eigenheiten des älteren Ministers in den Umständen seiner Jugend; in dem aufgeklärten, anthroposophisch bestimmten Geist einer Bochumer Fabrikantenfamilie, zu deren Vorfahren Künstler, aber auch Revolutionäre zählten und deren fünf Kinder allesamt zu beeindruckenden, willensstarken Persönlichkeiten geformt wurden. Eine stärker von historischer Forschung denn von politischer Beschreibung bestimmte Studie hätte allerdings noch profundere Aussagen darüber gewagt, welche Prägungen Elternhaus, Schule und Zeitumstände Schily als Kind und Jugendlichen bestimmt haben.

Mehr Sorgfalt verwendet Michels darauf, Schilys Lebensgeschichte in ihren einzelnen Stationen nochmals zu vergegenwärtigen. Schily erscheint als politisch engagierter Anwalt der achtundsechziger Zeit in Berlin, als RAF-Verteidiger der bleiernen Siebziger in Stuttgart, als unkonventionell-konventioneller Exponent des Grünen-Protestmilieus der achtziger Jahre in Bonn. Wie sehr er sich auf den wechselnden Bühnen doch treu blieb, bestimmte Posen erhielt, Motive und Interessen zum Antrieb seines Handelns machte, davon erfährt der Leser eher in Andeutungen, als daß es der Autor zum Gegenstand einer zusammenfassenden Analyse machte.

Statt dessen bietet Michels mehrfach Persönlichkeitsvergleiche an, um die Unterschiede in Absichten und Lebenswegen zu markieren. Da steht am Anfang von Schilys politischem Leben der Vergleich zu Horst Mahler, der von der gemeinsamen Basis im Berliner "Republikanischen Club" linker Anwälte in den politischen Gegensatz eines Parteiverbots-Verfahrens führt, in dem Mahler als Anwalt und Gesinnungsgenosse der extremistischen NPD gegen den antragstellenden Bundesinnenminister agiert. Am gegenwärtigen Endpunkt von Schilys öffentlichem Wirken steht der Vergleich zwischen ihm und seinem Kabinettskollegen Fischer - bei dem wiederum Unterschiede in der Herkunft die Frage beantworten müssen, warum Schilys goldene Uhrkette an der Anzugweste zwar auffällig, aber weniger aufgesetzt wirken mag als manche Accessoires in der Ausstattung des Bundesaußenministers.

Die Summe der Rollen, die Schily stets mit Einsatz und Engagement spielte, offenbart - unabhängig von wechselnden Themen und Standpunkten - mancherlei Kontinuitäten. Schily hat auf allen Bühnen den Streit, die Auseinandersetzung mit einer selbstgewissen Macht gesucht, die er als einfallsreicherer, intelligenterer Gegenspieler in ihrer Ignoranz treffen wollte - zum Nutzen einer pluralistischen Allgemeinheit, aber auch zu eigenem Ruhm. Diese Anwaltsfunktion probierte Schily in Berlin Ende der sechziger Jahre, er testete ihre Grenzen im Stammheimer RAF-Prozeß, er nutzte ihre Möglichkeiten im Bundestagsuntersuchungsausschuß zur Flick-Affäre und suchte auch als Vorsitzender des Treuhand-Untersuchungsausschusses des Bundestags in den neunziger Jahren nach Profilierungschancen, die diese Rolle bieten könnte.

Als Bundesinnenminister, als "Staats-Anwalt", hat Schily manche Angriffsinstrumente beiseite legen müssen; der "Doyen des Kabinetts" findet jedoch in den Möglichkeiten des Amtes reiche Entschädigung. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts entsprach seinem politischen Credo, sie wurde als progressiv oder "links" verstanden. Zum politischen Wesen Schilys gehören aber gleichermaßen konservative Elemente, die auch ganz bewußt gesetzt werden, etwa die immer wieder beiläufig geäußerten Mahnungen, Kinder gehörten von ihren Eltern aufmerksam erzogen und gebildet, musisch, körperlich und geistig. Folgt man der Idee seines Biographen Michels, so ist der Minister selber ein Beispiel dafür.

JOHANNES LEITHÄUSER

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Annette Ramelsberger räumt zwar ein, dass es durchaus schwierig ist, an einen so verschlossenen Menschen wie Otto Schily heranzukommen. Doch etwas mehr hätte sie sich von dieser Biografie schon erhofft. Zwar habe der Autor zahlreiche Freunde, Verwandte und Weggefährten befragt, doch viele wesentliche Fragen bleiben nach Ramelsberger unbeantwortet, etwa wie Schily "Politik organisiert", wie er zu seiner Aussage (damals noch als Ensslin-Verteidiger) gekommen ist, die "Anschläge der RAF seien eine Form des Widerstandes gegen den Völkermord in Vietnam gewesen" oder auch wie bzw. ob sich Schily durch seine Ehefrauen verändert hat. Was Schilys Gefühlsregungen betrifft, so findet die Rezensentin zahlreiche Äußerungen des Autors nicht ausreichend belegt, Schily zugeschriebene Reflektionen gar spekulativ. Und nicht zuletzt findet sie es unnötig, "auf jeder Seite" zu lesen, dass Schily - schon seit seiner Jugend - großen Wert auf elegante Kleidung legt. Summa summarum meint die Rezensentin: "Schily bleibt hinter einer Milchglasscheibe verborgen".

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