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Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 318
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 493g
  • ISBN-13: 9783421052889
  • ISBN-10: 3421052883
  • Artikelnr.: 25572371
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2000

Wann sind wir quitt?
Zwischen Vergessen- und Versessenheit – eine Studie zum Umgang mit deutschen Vergangenheiten in West und Ost
Geschichtsversessenheit und Geschichtsvergessenheit schließen sich keineswegs aus. Im Gegenteil, eines kann zur Steigerung des Anderen beitragen. Im geteilten Deutschland ergänzten sich das ritualisierte Gedächtnis in der DDR und die nachhaltige Hypothek des Schweigens in der Bundesrepublik.
Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann aus Konstanz und Ute Frevert, Historikerin aus Bielefeld, untersuchen den unterschiedlichen Zugang zur NS-Geschichte in Deutschland-West und Deutschland-Ost – ehe in den Achtzigern eine systemtranszendierende Geschichtsbesessenheit über die Deutschen gekommen ist, die Nietzsche einst wohl als „historisches Fieber” bezeichnet hätte.
Seit Mitte der Achtziger ist kaum ein Jahr vergangen ohne ein öffentliches Geschichtsärgernis: Kohls Bitburg, der Historikerstreit, die Jenninger-Rede, die Goldhagen-Studie, die Wehrmachtsausstellung, das Holocaust-Mahnmal, die Walser-Bubis-Debatte, die Entschädigung für Zwangsarbeiter. Walsers demagogischer Satz „Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte” drückte erneut das spezifisch deutsche Problem der „Nicht-Integrierbarkeit von Vergangenheit und Gegenwart” aus.
Die Autorinnen untersuchen die drei Phasen der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte. Zuerst gab es die massive Abwehr von Erinnerung zwischen 1945 und 1957, dann kam die Kritik der Vergangenheitsbewältigung zwischen 1958 und 1984: die ausgebliebene Strafverfolgung von NS-Tätern, der Eichmann- und Auschwitz-Prozess, die Debatte um die Verjährungsfrist bis zur Ächtung der verstrickten Elterngeneration durch moralisierende 68-er. Die dritte Phase ab 1985 steht ganz im Zeichen der deutlichen Zunahme von „offizieller Kommemoration und ihrer Symbole”.
Assmann untersucht deutsche Geschichtsdebatten an Hand von Schlagworten. Zum Beispiel „Schlussstrich”, das heißt der Wunsch nach einer Tilgung von Schuld. Durch den Schlussstrich sollen politische Amnestie gewährt und die böse Kraft des Opfergedächtnisses gebrochen werden. Komplementär dazu wurde die Wiedergutmachung zum Sammelbegriff für die Anerkennung von Ansprüchen der Opfer auf materielle Entschädigung. „Schlussstrich durch Wiedergutmachung” war die typische „Wir sind quitt”-Formel in den Zeiten des aufkommenden Wirtschaftswunders.
Schlagwort Moralkeule, Meinungspolizei: Hier drückt sich eine alte Empfindlichkeit gegen jedweden Oktroi aus – vom „Versailler Diktat” bis zur Reeducation-Politik der Alliierten. Die Unterstellung einer fremdbestimmten Erinnerung, gar einer „Erinnerung als Zwangsarbeit” (Lepenies) führt notwendigerweise zur Desidentifikation mit der Aufgabe einer gemeinsamen Erinnerung.
Der Begriff der Kollektivschuld wurde in gewisser Weise von Hitler selbst geprägt, der das deutsche Volk im April 1945 in toto verurteilte, weil es nicht in der Lage gewesen sei, sich als dominantes Herrenmenschenvolk in der Welt zu behaupten. Während Thomas Mann auf der Kollektivschuld der Deutschen insistierte, prägte Frank Thiess das Wort von der inneren Emigration. Das deutsche Trauma sei das Trauma der Scham, nicht der Schuld, hob Karl Jaspers hervor. Eugen Kogon kritisierte die Schockpädagogik der These von der deutschen Kollektivschuld, mit der nicht die Kräfte des Gewissens geweckt worden, sondern Wahrnehmungsblockaden entstanden seien.
„Selbstentlastungsmechanismen” waren für die Schuldabwehr und das Einfrieren von Erinnerungen verantwortlich wie das „kommunikative Beschweigen” (Lübbe), das die Komplicenschaft der NS-Volksgemeinschaft verlängerte, oder das Opfersyndrom – die Trennung von schuldigem Regime und unschuldigem Volk. Hier tritt an die Stelle der Kollektivschuld die Kollektivunschuld; der Antikommunismus, Adenauers abendländische Vorstellung einer besonders reinigenden Mission, „Hüter zu sein für den Westen gegen die gottlosen Einflüsse aus dem Osten”.
Assmann unterscheidet drei Modelle von nationaler Identität, einen positiven Nationalismus der Homogenisierung deutscher Geschichte, bei der dem Grauen der NS-Zeit keine größere Bedeutung zukommt. Das Modell eines negativen Nationalismus, in dessen Mittelpunkt eine Sakralisierung des Holocaust steht. Schließlich das Modell des Verfassungspatriotismus, das eine postnationale Identität unterstellt.
Im zweiten Teil wird von Ute Frevert die offensive Geschichtspolitik der DDR mit ihrer antifaschistischen Gründungslegende untersucht. Die Staatspropaganda produzierte eine Opferideologie, die durch Begriffe wie Hitler-Faschismus und Hitler-Regime die Masse der Bevölkerung vom Regime schon semantisch zu trennen versuchte. Die Gedenkstätten wurden zu Kranzabwurforten einer systemloyalen Akklamation von Schwurerneuerern. Schließlich erklärte sich die SED 1976 auf ihrem 9.  Parteitag zur Alleinerbin alles Progressiven in der deutschen Geschichte – von Luther bis Friedrich dem Großen. Derweil machte in der Bundesrepublik Helmut Kohl die Geschichte zu seiner Chefsache. Dennoch wurde hier keine stringente Geschichtspolitik entwickelt. Immerhin entstand in den Achtzigern und Neunzigern eine Vielfalt von öffentlichen Erinnerungen, die sich zu einem „relativ homogenen Kollektivgedächtnis” gefügt haben.
Wo also stehen die Gesamtdeutschen heute zu ihrer Geschichte? Immerhin macht die Studie deutlich, dass das rituelle Gedenken am Ende des geteilten Deutschland mehr Gemeinsamkeiten aufwies, als den Sympathisanten hüben wie drüben sympathisch sein konnte. Die Wiedervereinigung verspricht eher eine Stärkung von Walsers Tradition einer protestantischen Innerlichkeit, nach der dem Gewissen nichts fremder ist als Symbolik.
NORBERT SEITZ
ALEIDA ASSMANN, UTE FREVERT: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 318 S. , 36 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Norbert Seitz schildert ausführlich, wie die Autorinnen ihre Studie über die bundesdeutsche Erinnerungsgeschichte aufgebaut haben: Im ersten Teil des Buches wird die westdeutsche Geschichtsdebatte anhand von Schlagworten wie "Schlussstrich" oder "Moralkeule" untersucht. Dabei geht es um die drei großen Phasen deutscher Vergangenheitsbewältigung, referiert Seitz weiter, erst die "massive Abwehr" in den ersten Jahren nach dem Krieg, dann die Kritik der 68er an der Elterngeneration und schließlich die "systemtranszendierende Geschichtsbesessenheit der 80er und 90er Jahre. Im zweiten Teil gehe es dann um die offizielle Geschichtspolitik der DDR mit ihrer "antifaschistischen Gründungslegende". Eine Meinung mag Seitz zu dem Buch nicht recht äußern. "Immerhin", schließt er sein Referat ab, zeige der Band, dass "das rituelle Gedenken" in der Bundesrepublik und der DDR "mehr Gemeinsamkeiten aufwies, als den Sympathisanten hüben wie drüben sympathisch sein konnte".

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