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In dem unendlichen Parallelogramm der Kräfte und Motive, die zum Nazi-Regime geführt haben, gibt es verborgene Linien die zeigen: Böse politische Entwicklungen werden schrecklicher, wenn man sie genauer erklärt. Wie das nationalsozialistische Leben dort, wo es nicht um Hochfinanz und Militär ging, ideologisierend in den Alltag eindrang, wird in den großen geschichtlichen und politischen Abrechnungen leicht übersehen, kann vielleicht überhaupt nur erzählend reflektiert werden. Wenn das nun aus der Perspektive eines sehr jungen Menschen geschieht - eingebettet in die Zufälligkeiten seines…mehr

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Produktbeschreibung
In dem unendlichen Parallelogramm der Kräfte und Motive, die zum Nazi-Regime geführt haben, gibt es verborgene Linien die zeigen: Böse politische Entwicklungen werden schrecklicher, wenn man sie genauer erklärt. Wie das nationalsozialistische Leben dort, wo es nicht um Hochfinanz und Militär ging, ideologisierend in den Alltag eindrang, wird in den großen geschichtlichen und politischen Abrechnungen leicht übersehen, kann vielleicht überhaupt nur erzählend reflektiert werden. Wenn das nun aus der Perspektive eines sehr jungen Menschen geschieht - eingebettet in die Zufälligkeiten seines Aufwachsens - mag der Leser die Wahrheit bezweifeln, sowohl des Erlebten wie seiner Darstellung. Wählt diese, wie im vorliegenden Text, die Sprache des Erwachsenen, wächst das Misstrauen. Aber hier gilt, was Peter Weiss gesagt hat: "Ich spreche Dinge aus, die ich mir erarbeitet habe, das Ich hat sich verschoben, was damals angelegt war, wird jetzt ausgeführt, aber alle Details sind authentisch." Bis heute hat jene Generation ja weitgehend geschwiegen, die in Krieg und Politik nicht noch ernsthaft verwickelt werden konnte, deren Fähigkeit aber, Nahes und auch Fernes auf diesem Gebiet schon wahrzunehmen und mitzuerleben, begünstigt (oder, wenn man will, beschädigt) war durch eine den Zeitläufen gemäße, früh entstandene Empfindsamkeit. Sie knüpft sich an in Familien und andere private oder vom Privaten dominierte Verhältnisse reichende politische Einflüsse. Sie werden vom Großräumig-Spektakulärem nach wie vor verdeckt, und spielten doch einen schwer zu definierenden aktiven Part. Sie waren heimliche Grundlage, offener Anspruch, aber auch zähes, nie richtig registriertes Hemmnis, repräsentiert durch Eindrücke aus früher Jugend, die - überall hin dringende - totalitäre Regime hinterlassen. So wird aus diesem Buch - lange Perioden akademischen Lebens geisterhaft überspringend - eine politische Erzählung am Rande der Kindheit. Klaus Lüderssen, geb. 1932, ist seit 1971 Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Interessen konzentrieren sich gegenwärtig vor allem auf Grundfragen der Kriminalpolitik, wissenschaftstheoretische Probleme strafrechtsgeschichtlicher und rechtsphilosophischer Forschung; Wirtschaftsstrafrecht; Recht und Literatur.
Autorenporträt
Klaus Lüderssen, geb. 1932, ist emeritierter Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie. Er ist Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2010

Erinnerung, schreib
Klaus Lüderssens selbstkritische Autobiographie

Die Berührungspunkte zwischen Recht und Literatur zählen schon lange zu den Spezialinteressen dieses Frankfurter Rechtswissenschaftlers; seine Abhandlung zum Modell einer wünschenswerten Rechtsordnung, das Heinrich von Kleist im "Prinzen von Homburg" entwirft (1985), oder seine Bücher zum Thema "Schiller und das Recht" (2005) und "Eichendorff und das Recht" (2007) haben bereits eine stattliche Wirkungsgeschichte. Nun hat Klaus Lüderssen seine Lebenserinnerungen vorgelegt. Sie sind in ihrem wesentlichen Teil selbst ein veritables Stück Literatur. Der Titel "Kein Gershwin mehr in Wernigerode" bringt schon ein Dreifaches ins Bild: einen Ort, westliche Musikkultur und deren Verbotensein (in einer zweimal reglementierten Jugend).

Dieses Lebenszeugnis fällt nicht mit einfachen Tatsachenberichten ins Haus. Es nähert sich im Anfangsteil der Kindheit und Jugend von späteren, durch scheinbar zufällige Wahrnehmungen ausgelösten Reflexionen her. Lüderssens Assoziationsstil folgt einem modernen Erzählprinzip; die Rekonstruktion des Gewesenen entwickelt sich aus Perspektiven, die ein bestimmter Moment und der Bewusstseinsstrom vorgeben. Das hat mit Abstraktion nichts zu tun. Es verhindert keineswegs die Entstehung großer Anschaulichkeit.

Neun Jahre alt ist Lüderssen, als der Vater, Forstmeister in Germerode am Meißner, als Reserveoffizier die ersten Wochen des Krieges in Polen nicht überlebt. Die Mutter zieht mit der Familie nach Wernigerode am Harz, in die Nähe von Verwandten. Hier überlagern sich bald die Ansprüche gehobener Bürgerlichkeit, in der die Klavierstunde Pflicht ist, die Anforderungen des Gymnasiums und die "Suggestion des Kollektivs" in der nationalsozialistischen Jugendorganisation, dem "Jungvolk". Die Freude an "Heimabenden" und Geländespielen, aber auch die Verschwommenheit eines Ehrbegriffs, der zur üblen Misshandlung eines vermeintlichen "Verräters" verführt, werden eindringlich beschrieben. An diese Analyse einer unschuldig mitschuldigen Jugend mag sich der Leser erinnert fühlen, wenn der Rechtswissenschaftler später seine Theorie der "Unrechtsteilnahme" erklärt.

Das eigentlich abenteuerliche Leben setzt ein, als die Amerikaner das Land befreien, Teile Ostdeutschlands aber der Sowjetarmee überlassen. Wer nur die Wachttürme aus der Zeit des Kalten Krieges kennt, kann kaum einen rechten Begriff von der Durchlässigkeit der "grünen Grenze" in den ersten Nachkriegsjahren haben. Immer wieder macht sich der junge Lüderssen zu halsbrecherischen Schwarzmarktstreifzügen in die Westzone (bis hin nach Braunschweig) auf, von gelegentlicher Filzung bei der Westpolizei und vorübergehender Kerkerhaft bei der russischen Grenzpolizei nicht abgeschreckt. Selbst die Flucht der Familie über die Grenze und das Nachholen der Möbel über Berlin haben Züge phantastischer Geschichten. Noch der Schüler des Realgymnasiums in Fulda bricht wie zu einem Wildostabenteuer über die Grenze auf. Der Begriff der "Legalität" ist völlig ins Wanken geraten, und es scheint, dass sich die Differenziertheit der Rechtstheorien Lüderssens oder die Gedanken zur Reform des Strafvollzugs auch eigenen Erfahrungen aus der Zeit relativer Gesetzlosigkeit mitverdanken.

In der Regel haben Angehörige der Generation Lüderssens die erinnerungsträchtigen Jahre bereits in ihrer Jugend erlebt, während die folgenden Lebensjahrzehnte planbar sind, ihren gemächlichen Gang gehen, aber eben doch auch matt wirken - der Stoff für interessantes Erzählen hat sich vorerst erschöpft. Diesem Dilemma weicht Lüderssen aus, wenn auch unter einem nicht unbeträchtlichen Preis. Wo andere Autobiographen die Schilderung ihres beruflichen Werdegangs in fade Ereignisgeschichten einschmuggeln, kündigt er mit dem Titel des IV. Teils, "Das akademische Leben", spartanische Lesekost an. In diesem Teil verengt sich der Adressatenkreis. Hinter der Parade der vielen Namen wird ein weitgespanntes Kommunikationsnetz sichtbar. Mit gewisser Beharrlichkeit taucht der Name von Helmut Coing auf; er verrät eine Annäherung Lüderssens an die Rechtshistorie und -philosophie, auch wenn sie nicht alleinbestimmend wird. Die Gründung des "Instituts für psychoanalytische Soziotherapie und Kriminalsoziologie", dem am Ende der finanzielle Rückhalt fehlte, die Diskussion um das Problem des "öffentlichen Strafanspruchs" oder des "rechtsfreien Raums" und die Forschungen auf dem Grenzgebiet zwischen Recht und Literatur, sie sind nur ein paar der trigonometrischen Punkte im Feld seiner rechtswissenschaftlichen Studien.

Dann nimmt der Autor wieder die Frage nach der Verlässlichkeit seiner "ungleichmäßigen Erinnerungen" auf. Der Titel des Schlussteils, "Beharrliche Wiederkehr des Vergangenen", deutet auf Bedrängung durch Vergangenheit. Und tatsächlich haben Dokumente zum Polenfeldzug von 1939 die Truppe, der Lüderssens Vater angehörte, in den Verdacht willkürlicher Erschießung von Gefangenen gebracht. Auch hartnäckige Nachforschungen bestätigen keine Mitverantwortung des Vaters, aber es bleibt der Schatten des Zweifels, der auf das Bild der Mutter vom tragischen "Heldentod" ihres Mannes fällt. Der Sohn hütet sich vor Schuldzuweisung, empfindet aber Ferne zum Vater: "Das Politisch-Kriegerische in seiner Person bleibt mir verborgen." So endet die "Vatersuche" enttäuschend.

Ein anderes Wiedereintauchen in Räume der Erinnerung, bei Besuchen in Wernigerode, überrascht mit einer paradoxen Entdeckung. Fehlenden Investitionen im westlichen Randgebiet der früheren Grenze zur DDR steht im östlichen ein Modernisierungsschub entgegen. "Der Westen an der alten Grenze grau, der Osten bunt." Der Anblick löst eine neue Assoziation aus, ruft ein anderes Erinnerungsbild ab: "1989, die Vopos, die freundlich den Schlagbaum hoben."

Und noch einmal bedrängten den Autor Fragen der "Authentizität". Bewusst wird ihm der Abstand zwischen dem, was er als wirklich erinnert, und dem, was keine Erinnerung mehr zurückholt. Sinkt die Vergegenwärtigung von Vergangenheit nicht ins "bodenlos Unverbindliche", weil sie ihre Bedeutung nur durch das erhält, "was man schreibend dabei denkt"?

Der Leser ist gewarnt. Aber gerade die Skepsis des Autors gegen einen unbedingten Wahrheitsanspruch macht diese Lebensgeschichte so authentisch. Die Kunst, in der Schwebe zu halten, was als Erinnerungsfluss zur Sprache geronnen ist, erreicht hier ein Niveau, wie man es ganz selten in zeitgenössischen Autobiographien antrifft.

WALTER HINCK

Klaus Lüderssen: "Kein Gershwin mehr in Wernigerode". Ungleichmäßige Erinnerungen.

Bouvier Verlag, Bonn 2009. 219 S., geb., 25,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Hinck weiß den Rechtswissenschaftler Klaus Lüderssen nicht nur für seine Brückenschläge zwischen Recht und Literatur zu schätzen, dessen jetzt vorgelegte Autobiografie ist für den  Rezensenten selbst ein "veritables Stück Literatur". Beeindruckt zeigt sich der Kritiker nicht nur von der ambitionierten Erzählweise der Erinnerungen, die Vergangenheit stets von einem späteren Punkt aus reflektieren. Überraschenderweise blieben die Erinnerungen dennoch sehr anschaulich und, wie Hink meint, durch die gebrochene und durchaus problematisierte Erzählperspektive besonders authentisch. Fasziniert hat er von den Erfahrungen einer "relativen Gesetzlosigkeit" der frühen Nachkriegszeit gelesen, und sieht davon die späteren Rechtspositionen des Autors durchaus geprägt. Das Dilemma der Darstellung der späteren Jahre, die in Memoiren häufig in einen mit blasser Erlebnisgeschichte durchdrungenen Bericht des beruflichen Werdegangs ausartet, umgeht Lüderssen durchaus kühn, indem er sich gleich auf sein "akademisches Leben" konzentriert, stellt Hinck fest. Deutlich mache der Autor auch immer wieder seine "Skepsis" gegenüber der Authentizität der Erinnerung, was für den faszinierten Rezensenten zu einem "selten erreichten Niveau zeitgenössischer Autobiografien" führt, wie er preist.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr