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Mit der Besetzung Ostdeutschlands 1945 exportierte die Sowjetunion unter Stalin auch ihr Justizsystem nach Deutschland. Etwa 35.000 Zivilisten wurden zwischen 1945 und 1955 in der SBZ/DDR von sowjetischen Tribunalen wegen Staats-, Kriegs- und Alltagsverbrechen zu hohen Strafen verurteilt, über eintausend hingerichtet. Der Zugang zu den sowjetischen Akten dieser Prozesse war bis in die 1990er Jahre hinein versperrt, Tätigkeit und Motive der sowjetischen Richter blieben im Dunkeln. In diesem 2. Band werden die Prozesse und die Urteile erstmals auf breiter Quellengrundlage aus historischer und…mehr

Produktbeschreibung
Mit der Besetzung Ostdeutschlands 1945 exportierte die Sowjetunion unter Stalin auch ihr Justizsystem nach Deutschland. Etwa 35.000 Zivilisten wurden zwischen 1945 und 1955 in der SBZ/DDR von sowjetischen Tribunalen wegen Staats-, Kriegs- und Alltagsverbrechen zu hohen Strafen verurteilt, über eintausend hingerichtet. Der Zugang zu den sowjetischen Akten dieser Prozesse war bis in die 1990er Jahre hinein versperrt, Tätigkeit und Motive der sowjetischen Richter blieben im Dunkeln. In diesem 2. Band werden die Prozesse und die Urteile erstmals auf breiter Quellengrundlage aus historischer und juristischer Sicht untersucht. Die Beiträge russischer und deutscher Autoren belegen, dass die UdSSR von Beginn an nicht nur der Bestrafung von nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltverbrechen, sondern auch der repressiven Absicherung ihrer Besatzungspolitik große Bedeutung beimaß.
Autorenporträt
Andreas Hilger ist seit November 2016 wissenschaftlicher Leiter des deutsch-russischen Projekts "Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte" am Deutschen Historischen Institut Moskau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2004

Brutale Repression
Deutsche Zivilisten vor sowjetischen Militärtribunalen

Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt (Herausgeber): Sowjetische Militärtribunale. Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955. Böhlau Verlag, Köln 2003. 900 Seiten, 69,90 [Euro].

Mit den sowjetischen Besatzungstruppen kamen 1945 deren Militärgerichte nach Deutschland - und schon bald begannen sie, auch Zivilisten zu verfolgen. Eine Gruppe renommierter Historiker hat jetzt mit Unterstützung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden den Versuch unternommen, diesem dunklen Kapitel nachzugehen. Führend dabei ist Andreas Hilger, der sich bereits mit sehr soliden Veröffentlichungen zur Lage der deutschen Kriegsgefangenen einen Namen gemacht hat. An den Anfang haben die Herausgeber zwei Beiträge über die juristischen Grundlagen der Verurteilung deutscher Zivilpersonen durch die sowjetischen Militärgerichte gestellt. Es ist kriegsvölkerrechtlich ja keineswegs unproblematisch, wenn Gerichte der Besatzungsmacht ihr eigenes Recht auf Taten anwenden, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung diesem Recht nicht unterlagen. Deutlich wird schon hier, daß diese "Rechtsprechung" vieles zugleich war: Ahndung tatsächlicher Kriegsverbrechen, Wahrung berechtigter Sicherheitsinteressen der sowjetischen Besatzungsmacht, aber eben auch zunehmend Durchsetzung des stalinistischen Herrschaftsanspruchs der SED. Überwogen 1945 und 1946 Verurteilungen nach dem Ukas über die Ahndung deutscher Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944, so wurden ab 1947 immer mehr "Diversanten", "Spione" und "Saboteure" nach Paragraph 58 des russischen Strafgesetzbuchs abgeurteilt.

An diesen rechtstheoretischen Teil schließen sich mehrere Studien zur tatsächlichen Spruchpraxis an. Spätestens die Beiträge über Urteile gegen SED-Angehörige - zumeist ehemalige Sozialdemokraten, die den Einheitskurs nicht mitzutragen gewillt waren - und gegen Angehörige der anderen Blockparteien lassen überdeutlich hervortreten, daß "Justiz" im Stalinismus vor allem dazu dienen sollte, Mißliebige und Andersdenkende zu eliminieren. Die Durchführung der Verfahren entsprach in keiner Weise rechtsstaatlichen Normen: Häufig gab es keine Verteidiger, Entlastungszeugen wurden nicht gehört, die Ermittlung der Sachverhalte erfolgte schematisch, und vor Beginn der Hauptverhandlung stand das Strafmaß zumeist schon fest.

Entsprechend drastisch waren die Urteile: Zwar galt von 1947 bis etwa 1950 die Todesstrafe in der UdSSR als abgeschafft, aber an ihre Stelle trat dann zumeist eine 25jährige Haftstrafe. Angesichts der Lebensbedingungen in den "Speziallagern" (häufig genug ehemalige NS-Konzentrationslager wie Sachsenhausen oder Buchenwald) oder in den sowjetischen Arbeitslagern lief eine langjährige Haftstrafe für viele auf nichts anderes als ein Todesurteil hinaus. Alle übrigen waren auf Jahre hinaus von ihrer Umwelt abgeschnitten, und ihre Angehörigen wußten nicht einmal, ob die Abgeholten noch lebten oder wo sie sich aufhielten.

War die Urteils- und Vollstreckungspraxis der sowjetischen Militärtribunale Ausdruck stalinistischer Herrschaft, so mußten die unzähligen Häftlinge nach dem Tod des Diktators 1953 zu einer Belastung für Moskau und Ostberlin gleichermaßen werden. Die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" in West-Berlin, die evangelische Kirche unter Bischof Dibelius und Propst Grüber, ja sogar einzelne Gliederungen der SED forderten immer nachdrücklicher Aufklärung über das Schicksal Verhafteter oder deren Entlassung. Daß die "Rechtsprechung" der Militärtribunale überwiegend Funktion des Herrschaftssystems gewesen war, zeigt sich zuletzt daran, daß im Zuge der Entstalinisierung die meisten Verurteilten entlassen wurden. Fast alle waren bis Ende 1956 wieder frei, teils in die DDR, teils auch nach Westdeutschland zurückgekehrt - bis auf wenige, die bis in die sechziger Jahre hinein in Haft blieben, und bis auf jene, die in den Kellern sowjetischer Gefängnisse erschossen worden waren.

Nach der Wende hat die russische Justiz Verfahren in Gang gesetzt, um zu Unrecht Verurteilte im nachhinein zu rehabilitieren. Der frappierendste Aufsatz dieses gewichtigen Bandes ist der des für Rehabilitierungen zuständigen Abteilungsleiters in der russischen Militärstaatsanwaltschaft. Hier liest man viel von deutschen Kriegsverbrechen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges und von deren gerechter Sühne. Den weit überwiegenden Teil der Ausführungen nimmt die Rechtfertigung der seinerzeitigen Justizpraxis ein, die in den meisten Fällen heute eine Rehabilitierung auszuschließen scheint.

Immer häufiger ist zu hören, die Phase der kritischen Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit in Rußland sei schon wieder vorbei; im Zeichen eines neuen Nationalismus werde auch der Stalinismus wieder positiver gesehen. Unter einem aus dem KGB stammenden russischen Präsidenten kann das kaum überraschen. Der hier abgedruckte Aufsatz, von den Herausgebern zu Recht mit einer einführenden Erläuterung versehen, bestätigt solche Befürchtungen. Den Erkenntnissen des übrigen Buches über den Mißbrauch juristischer Formen zur Herrschaftssicherung und zur brutalen Repression schlägt er ins Gesicht.

WINFRIED HEINEMANN

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Dieser Band des Dresdener Hannah Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, herausgegeben von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, nähere sich "behutsam" einer heiklen Frage, lobt Stefan-Ludwig Hoffmann zunächst: Wie lassen sich die ungefähr 35.000 Urteile gegen deutsche Zivilisten bewerten, die nach 1945 von der sowjetischen Militärjustiz verhängt wurden? Doch dann moniert der Rezensent, dass die zentrale These der Herausgeber sowie eines "instruktiven" Beitrags des Bandes, von Natalja Jeske und Ute Schmidt, "etwas im Widerspruch" stehe zu den übrigen Studien des Bandes. Eine vor wenigen Jahren abgeschlossene parallele Untersuchung einer Forschergruppe um Lutz Niethammer, so erfährt man, kam zu dem Ergebnis, dass die harte Verfolgung durch die Besatzungsmacht vor allem politischen Gegner wie Sozialdemokraten oder "Bürgerlichen" galt und nicht ehemaligen NS-Tätern. Hier nun, so der Rezensent, sei versucht worden, den Akzent etwas anders zu setzen; aber genau dies sei letztlich nicht gelungen. Das "Herzstück" des Bandes, so Hoffmann, bilden fünf biographische Studien, und die hier nacherzählten Schicksale belegten eben vor allem, dass das Vorgehen gegen ehemalige Nazis, die Ausschaltung politischer Gegner wie den Sozialdemokraten und reine Willkür auf sowjetischer Seite oft zusammengingen: der Band könne also nicht nachweisen, dass es den sowjetischen Behörden "in erster Linie um das legitime Ziel einer Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft ging".

© Perlentaucher Medien GmbH
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