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War der Marquis de Sade (1740 - 1814) ein Sadist, Verbrecher und Geisteskranker oder ein Aufklärer, ja ein Vorkämpfer gegen Triebunterdrückung und scheinheilige Moral? Der Historiker Volker Reinhardt legt in dieser ersten seriösen De-Sade-Biographie seit Jahrzehnten das wahre Leben des südfranzösischen Adeligen hinter den zahlreichen Mythen und Bildern frei. Er beschreibt auf der Grundlage zahlreicher Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert die freigeistige, ausschweifende Jugend des schönen Marquis, seine ersten Experimente mit unschuldigen Opfern, die lange Zeit der Flucht und…mehr

Produktbeschreibung
War der Marquis de Sade (1740 - 1814) ein Sadist, Verbrecher und Geisteskranker oder ein Aufklärer, ja ein Vorkämpfer gegen Triebunterdrückung und scheinheilige Moral? Der Historiker Volker Reinhardt legt in dieser ersten seriösen De-Sade-Biographie seit Jahrzehnten das wahre Leben des südfranzösischen Adeligen hinter den zahlreichen Mythen und Bildern frei. Er beschreibt auf der Grundlage zahlreicher Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert die freigeistige, ausschweifende Jugend des schönen Marquis, seine ersten Experimente mit unschuldigen Opfern, die lange Zeit der Flucht und Gefangenschaft, sein Engagement in der Französischen Revolution und schließlich seine letzten Jahre in einem Irrenhaus. Besonderes Augenmerk gilt dabei den philosophischen Romanen de Sades, in denen Männer und Frauen auf abgelegenen Schlössern sexuelle Konstellationen testen, auf grausamste Weise die moralische Widerstandskraft ihrer Opfer auf die Probe stellen, dabei über die Natur des Menschen räsonieren und so in Wort und Tat das Böse vermessen. Am 2. Dezember 1814 starb de Sade, aber die Erinnerung an ihn ließ sich nicht auslöschen. In einem eindrucksvollen Schlusskapitel zeigt Volker Reinhardt, wie der "göttliche Marquis" von der Psychoanalyse über Nietzsche und die Kritische Theorie bis hin zu Surrealismus und Existentialismus zu einer Schlüsselgestalt der Moderne geworden ist.
Autorenporträt
Volker Reinhardt, geb. 1954, ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Wie aktuell de Sade als Aufklärer ist, kann Tim Caspar Boehme anhand dieser Biografie von Volker Reinhardt ermessen, aber auch, dass der Moralnegierer nicht unbedingt zu den sympathischsten Zeitgenossen gehörte. Was de Sade dazu veranlasst haben könnte, außer arrogant und empathiefrei auch möglichst unmoralisch aufzutreten, lernt der Rezensent gleichfalls bei Reinhardt. Dass der Autor de Sades Fortleben bei Lacan und Deleuze nicht erwähnt, sehr wohl aber die begeisterte Aufnahme seiner Schriften durch die Surrealisten oder auch Feministinnen, wie Susan Sontag, hält Boehme für "partielle" Voreingenommenheit.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014

Die Natur des Marquis braucht Verbrechen

Marquis de Sades Zerstörungsdrang, seine Ästhetik des Schreckens versteht man erst, wenn man auch sein Leben versteht. Eine neue Biographie hilft

Wer war dieser Marquis de Sade, der das einzigartige Kunststück vollbrachte, für alle Regime und alle Mächtigen seiner Zeit zum Staatsfeind Nummer eins zu werden? Der es schaffte, für einen gesalbten Monarchen wie Ludwig XVI., einen revolutionären Tugendwächter wie Robespierre oder einen skrupellosen Militärdiktator wie Napoleon Bonaparte zum gefährlichsten Unterwanderer von Sitte und Moral zu werden? Und der es, nicht zuletzt, auch noch schaffte, unter diesen Bedingungen vierundsiebzig Jahre und sechs Monate alt zu werden und friedlich in seinem Bett zu sterben?

Für einen Aristokraten wie de Sade, der 1740 geboren wurde, sei das ein ungewöhnlich später Tod, behauptet Volker Reinhardt in seiner Biographie "De Sade oder Die Vermessung des Bösen". Für Reinhardt, der an der schweizerischen Universität Fribourg Geschichte der Neuzeit lehrt, ist eine Auseinandersetzung mit de Sades Wirken und Werken und auch mit seiner immensen Nachwirkung dabei nur möglich, wenn man sein Leben kennt. Nur im Nachvollzug dieses Lebens selbst kann man die Sprengkraft des Marquis tatsächlich freilegen. Jeder Versuch, den Marquis und seine Gedankenwelt in andere ästhetische, politische oder philosophische Zusammenhänge zu integrieren, laufe darauf hinaus, die darin enthaltenen Ideen zu entschärfen, letztlich zu domestizieren und zu zähmen.

An diesem Befund ändern, so Reinhardt, auch die großartigen Momente in der modernen Kunst nichts, in denen das beispiellose Zerstörungspotential der Texte de Sades zum Bezugspunkt wurde. Wenn der Dichter Charles Baudelaire in de Sades Ästhetik des Schreckens sein Schlüsselerlebnis findet oder der Maler Max Ernst in der Unwirklichkeit de Sadescher Schreckensszenarien einen Vorläufer des Surrealen und der darin freischwebenden Komik sieht, dann machen sie aus dem Marquis zuerst eine Projektionsfläche ihrer eigenen Befindlichkeiten und der Moderne selbst. Auch das kann natürlich ein Grund sein, Leben und Werk des Marquis zu studieren, nur sollte man damit nicht anfangen.

Und das tut Reinhardt auch nicht. Im Vorwort legt er allerdings ein paar Minen aus, deren Sprengstoffgehalt einem erst richtig klar wird, wenn man das Buch durchgelesen hat. Vom Standpunkt der Menschenrechte aus, der heute ja zumindest für uns im Westen selbstverständlich ist, sind die Taten und Phantasien de Sades natürlich zu verurteilen, erklärt Reinhardt. Als Historiker könne er darauf aber insofern keine Rücksicht nehmen, als es ihm darum gehen müsse, die Geschichte so zu erzählen, wie sie geschehen sei, was die Menschenrechtsverletzungen de Sades einschließe.

De Sade hatte sich aber nicht nur an den Menschenrechten vergriffen, er hatte auch ältere Gesetzestafeln verletzt. Von den Zehn Geboten hatte der Marquis nur eines unangetastet gelassen: Du sollst nicht töten. Wobei Reinhardt mit dieser Hervorhebung einen subtilen Schlag nicht nur gegen die Regierungen vermutlich aller Zeiten einführt, der nicht ohne Wirkung bleibt. Denn auch wenn die Regierungen, mit denen de Sade zu tun hatte, ihn am Leben ließen, so haben sie mit Sicherheit nicht nach diesem Gebot gehandelt. Und mit diesem Hinweis führt Reinhardt in de Sades Leben einen Widerspruch ein, der sein ganzes Buch durchzieht: eine Ethik des Widerstandes gegen das Christentum, die sich zumindest in einem Punkt an der Ethik des Christentums orientiert, nämlich am: Du sollst nicht töten.

Herausgekommen ist auch dadurch ein Werk, das sich von der ersten bis zur letzten Seite wie ein rasender Gang durch die Dialektik von Gesetz und Begehren, von Gesetz und Sünde, von Strafe und Lust und von Tugend und Unlust liest, ohne dass es daraus ein Entrinnen zu geben scheint. Das wirklich Tolle an dieser rasanten Fahrt zwischen Gesetz und Übertretung ist, dass sie Reinhardt allein aus dem Stoff zieht. Es gibt im ganzen Buch kein Experiment mit der Form oder der Sprache. Reinhardt erzählt die Biographie des Sades rein chronologisch, von der Geburt bis zum Tod, im ruhigen, sensationslosen Tonfall des seriösen Historikers.

Wenn zum Beispiel die Tatsache, dass die Taufe des kleinen Marquis ohne Vater, Mutter und Verwandte stattfand, den Schluss nahelegen könnte, es handele sich hier um Vernachlässigung, rückt Reinhardt das gleich zurecht. "Hochgeborene Säuglinge wurden fast immer zu Ammen gegeben, von frühkindlicher Mutterbindung konnte kaum die Rede sein. Das musste nicht heißen, dass Eltern ihrem Nachwuchs gleichgültig gegenüberstanden", erklärt er und nervt damit überhaupt nicht. Ein paar Zeilen später beschreibt er dann die Fürsorge des Vaters, der dem zum Soldaten gewordenen Marquis bis in dessen Regiment im Siebenjährigen Krieg nach Deutschland folgte, um ihn im Feldlager von "Ausschweifungen" abzuhalten. Der Vater wird gewusst haben, warum. Führte er doch selbst ein Leben zwischen Affären, Kurtisanen und hochdotierten Kirchenjobs. Dem jungen de Sade führte der Vater aber vor allem eines vor: Liebe und Krieg bildeten für die jungen Aristokraten eine Einheit. Was im Schlafzimmer wie auf dem Schlachtfeld zählte, war die persönliche Bravour, die sich in der Zahl der gebrochenen Herzen, in entflammter Eifersucht und im Neid der Konkurrenten niederschlug. Um romantische Herzenssachen ging es dabei nie, "solche Beziehungen waren purer Stress", wie Reinhardt schreibt.

In Reinhardts ruhiger Geschichtskorrespondentendarstellung erwartet man fast wie von selbst den Moment, an dem de Sade diese ganze verlogene Stressbigotterie anödet und nicht mehr ausreicht. Der Marquis will weitergehen beziehungsweise wissen, wie weit man mit Menschen gehen kann. Dafür macht er dann seine drei berühmten Experimente, für die er sich Prostituierte und Diener kauft, um mit ihnen vom Analverkehr bis zum Auspeitschen all das zu testen, was heute in jedem besseren SM-Zirkel wahrscheinlich ähnlich oder schlimmer zum Betrieb gehört. Reinhardt beschreibt wie de Sade die Experimente relativ detailliert, ohne allerdings auch nur eine Zeile erotische Literatur zu produzieren. Er bleibt wie der Marquis im Tonfall eines fast naturwissenschaftlich zu nennenden Experimentators. Dramatisch werden dann nur die Folgen der Experimente. Sie führen zu den ersten Verurteilungen de Sades und bringen ihn nach Festnahmen und Ausbrüchen im Juli 1778 für mehr als elf Jahre in Haft.

Im Gefängnis wird aus dem Experimentator dann der Autor, dessen Weltruhm bis heute reicht. Es entstehen Werke wie "Die 120 Tage von Sodom", in denen es im Kern immer um den einen Gegner geht: das Christentum. So sollten die 120 Tage von Sodom den endgültigen Beweis erbringen, dass es keinen Gott gibt. Dafür treten de Sades Libertins alles, was Gott und den Menschen heilig ist, mit Füßen. Sie schänden, profanieren und provozieren, was das Zeug hält, und siehe da, es passiert nichts. Es meldet sich kein Blitz, kein Vorhang zerreißt. Denn, so folgert de Sade, "das Verbrechen ist ein Modus der Natur, eine Methode, den Menschen anzutreiben. Warum soll ich mich nicht genauso durch das Verbrechen belegen lassen wie durch die Tugend?", fragt er und schließt: "Die Natur braucht das eine wie das andere."

Die Natur, die beides, Tugend und Verbrechen, braucht, wird in den Texten aus den Gefängnisjahren zum großen Gegenspieler von Gott, Moral und Gesetzen.

Dadurch wird sie aber auch zum Problem im System de Sades. Denn letztlich ist sie nicht der elementare, neutrale Begriff der Natur als Mechanismus, der neutral und gleichgültig einfach seinen Gang geht. Bei de Sade drängt sie die Libertins zum Bösen, zur Überschreitung des Gesetzes, und die jungen Mädchen fordert er zum Laster auf, weil die Natur das brauche, um weiter blühen zu können wie die Blumen.

Ohne es besonders herauszustellen, wird in Reinhardts Lebens- und Texterzählung ziemlich deutlich, dass hier der sozusagen aktuelle Punkt des Marquis offen oder ungelöst liegt. Indem er eine Welt beschreibt, wie sie gemäß den Gesetzen der Natur aussehen müsste, taucht deren Mangel auf. Eine Welt ohne Gott, ohne Sinn, ohne Menschlichkeit kann den Libertins zwar bestimmte Genüsse verschaffen, sie hält sie aber in einer immerwährenden Abhängigkeit von der Natur wie von ihren Opfern. Denn wenn der Mensch von der Natur zum Egoismus bestimmt ist, wird er eines bestimmt nie erreichen: das Glück als ein elementares Bedürfnis, das es nur ungeteilt gibt.

Was de Sade nämlich nie verschweigt, ist das Unglück seiner tobenden Folterer, die immer weitermachen müssen, weil mit jedem ihrer Schritte auch das Ziel des Glücks einen Schritt von ihnen zurückweicht. Denn solange sie sich im Akt des Verstoßes gegen das Gesetz bewegen, kommen sie nicht an den Punkt der Freiheit. Sie bleiben an die alten Zeiten der Verbote gebunden, deren Übertretung sie aufrechterhielt. Dem Marquis wird es noch einmal plastisch vorgelebt, als die Französische Revolution ihn erst aus dem Gefängnis holt und dann wieder einsperrt, weil er als Verächter der Tugend den neuen Zielen der Revolutionäre buchstäblich in die Quere kommt. Der Marquis weiß auf seine Art, dass es in der Freiheit kein Zurück zu neuen oder alten Verboten gibt. Jede Beschränkung kann man sich nur selbst setzen. Er findet seine als Regisseur in der Irrenanstalt von Charenton, wo er seine letzten Jahre "glücklich" arbeitet und lebt.

CORD RIECHELMANN.

Volker Reinhardt: "De Sade oder Die Vermessung des Bösen". C. H. Beck, 464 Seiten, 26,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2014

Wiederkehr des Gleichen, grausam ausgeklügelt
Volker Reinhardts Biografie des Marquis de Sade, erzählt als Parallelgeschichte zur Geschichte Frankreichs
War der Marquis de Sade ein Sadist? In seinen allerdings nur sehr eingeschränkt ausgelebten sexuellen Neigungen im Sinne Freuds sicherlich, meint sein Biograf Volker Reinhardt, allerdings ein unvollkommener, „da sich seine Destruktivität nur partiell gegen andere richtet und sich über den ausgeprägten Hang zur Selbstzerstörung hinaus vor allem literarisch manifestiert“. Zur Charakterisierung seiner Handlungslogik bietet sich somit eher das Freud’sche Theorem der Triebsublimierung in der kulturellen und künstlerischen Leistung an. Dafür spricht auch die Tatsache, dass de Sade gerade in den langen Zeiten seiner Inhaftierungen (mit kurzen Unterbrechungen von 1777 bis 1789, 1793/94 und dann erneut 1801 bis zu seinem Tod im Dezember 1814), in denen er seine Neigungen nicht ausleben konnte, seine umfassende literarische Produktion (auch als Selbsttherapeutikum?) entfaltete.
  Zwar plädiert Reinhardt für eine strikte Trennung zwischen Leben und Werk des berühmt-berüchtigten Verfassers der „Justine“ und der „120 Tage von Sodom“, um biografistische Kurzschlüsse zu vermeiden. Dennoch präsentiert er die Biografie des 1740 geborenen Herrn von Lacoste, die stets als Parallelhistorie zur Geschichte Frankreichs erzählt wird, als eine dramatische, „alle Gattungsgrenzen sprengende Mischung aus griechischer Tragödie, deftigem Schwank, tränenreichem Melodram, Psychothriller und Schauerballade“ – ein Leben als literarisches Kunstwerk also. Die adäquate Rhetorik und einen wahren Überfluss an Stilmitteln beherrscht Reinhardt zur Behandlung jedes dieser Genres virtuos, auch wenn Epitheta wie „Outlaw“, „Superschurke“ und „Superschurkin“ oder der „Teufel in Menschengestalt“, der „Staatsfeind Nummer eins“, der „Alpha-Knabe“ etwas zu vollmundig oder zuflapsig sind, um mehrfach verwendet zu werden.
  Reinhardts erklärtes Ziel ist es, die unbestreitbare „Anstößigkeit“ der de Sade’schen Vita wie die seiner Texte wiederzubeleben, die sich in einer selektiven und verharmlosenden Rezeption der letzten 200 Jahre verloren habe. Das letzte Kapitel ist ein kritischer Parcours durch die literarische, philosophische und künstlerische Rezeptionsgeschichte der Ideen de Sades von Baudelaire, Apollinaire (dessen „11 000 Ruten“ in direkter pornografisch-literarischer Traditionslinie zu den Romanen des Marquis stehen), Max Ernst und Man Ray sowie natürlich Pasolini über Nietzsche, Bataille, Barthes bis hin zu Horkheimer, Adorno und Susan Sontag. Auch der verlegerische Mut von Jean-Jacques Pauvert wird gewürdigt, dessen de-Sade-Ausgaben in den 1940er- und 50er-Jahren ihm mehrere Prozesse einbrachten. Pauverts flott geschriebene Darstellung von Leben und Werk des „göttlichen Marquis“ (3 Bde. unter dem Titel „Sade vivant“, Paris 1986–90, auf Deutsch dann in zwei Bänden München 1991) fehlt jedoch erstaunlicherweise in Reinhardts Literaturverzeichnis.
  Das ideologische Gedankengebäude de Sades, das sich mehr durch Egomanie und Mitmenschenverachtung als durch philosophischen Tiefgang auszeichnet, prägt sich früh aus und wird dann bis in die letzten Werke immer wieder repetiert – nur unterbrochen durch die radikalisierte Endphase der Französischen Revolution, die Terreur, in der sich „der Aristokrat im Jakobinergewand“ aus überlebenstechnischen Gründen wie auch unter Napoleons Herrschaft während des Directoire einer gewissen inneren Zensur unterwarf. Zwei Hauptintentionen prägen de Sades strikt materialistisch orientierte Werke: Zum einen will er den ultimativen Beweis von der Nicht-Existenz Gottes erbringen, der sich gegen die Rituale seiner Profanierung nicht zur Wehr setzt; zum anderen möchte er das Natur- und Staatskonzept Rousseaus abschließend widerlegen, womit er dem Tugendterror Robespierres den ideologischen Boden entzieht. Der Marquis verstand sich als „empirischer Menschenforscher“, der in seinen literarischen Versuchsanordnungen und sexuellen Experimenten nach Belegen für seine fatalistische Annahme einer von Grund auf bösen Natur des gewalttätigen „Tieres“ Mensch suchte.
  Den de Sade’schen Argumentationsduktus beschreibt Reinhardt zutreffend als ewige Wiederkehr des Gleichen in immer ausgeklügelteren Grausamkeitsszenarien, in denen in allen nur denkbaren Varianten Sex als zwanghaft durchchoreografierter Massensport betrieben und dem Triebdiktat der menschlichen Natur im Massenmord Tribut gezollt wird. De Sades Texte sind, so Reinhardt, in ihrer sarkastischen Übersteigerung von Schrecklichkeiten und schwarzem Humor schärfstmögliche Zeitkritik, die den Leser jedesmal erneut zum Versuchskaninchen macht: Empfindet dieser wider Erwarten Lust am Text, so bestätigt er die negative Anthropologie des Autors, da er selbst zum Exemplum der bösen Natur wird; wendet er sich voller Abscheu ab, so demonstriert er, dass dem Menschen trotz aller Prädestination zum Bösen ein Rest an Wahlfreiheit zur Güte bleibt. Dem rhetorischen Duktus der Einhämmerung durch mechanische Repetition schließt sich Reinhardt stellenweise an, indem er fast alle Texte de Sades in extenso referiert statt seinem umfangreichen Buch durch etwas Straffung größere argumentative Schlagkraft zu verleihen.
  Besondere Highlights sind die Unterkapitel zu den „120 Tagen von Sodom“ und zu „Aline et Valcour ou le Roman philosophique“, einem Briefroman, in dem de Sade die Utopie eines glücklichen und geglückten menschlichen Zusammenlebens in einer humanen Gesellschafts- und Staatsordnung in einem Südseeinsel-Paradies entwirft, in der der Einzelne seinen wie auch immer gearteten Neigungen frönen darf, ohne in Konflikt mit den geltenden Regeln zu geraten – ob es sich hierbei um einen ernst zu nehmenden Gegenentwurf zur eigenen Gegenwart oder um eine sarkastische Persiflage der aufklärerischen Glückshoffnungen handelt, mag Reinhardt nicht abschließend entscheiden.
  Auch als Theaterimpresario von Laienspielgruppen hat de Sade im Buch fulminante Auftritte, zuletzt dann in der Irrenanstalt von Charenton. Wann die bisweilen doch recht weitreichenden charakteriologischen Urteile des Autors über seinen Helden durch die zeitgenössischen Quellen gestützt sind oder doch eher auf extemporierenden Spekulationen des Biografen beruhen, wird aufgrund des extrem reduzierten Endnotenapparats nicht immer ganz klar. Auch würde man gerne einmal einen französischen Original-Ton lesen, doch die Verlagspolitik von C. H. Beck scheint auf die völlige Vermeidung alles Fremdsprachlichen zu zielen – nicht einmal das Verständnis des sprichwörtlichen „Divide et impera“ traut man dem Leser dort noch zu.
CHRISTINE TAUBER
In der Französischen Revolution
war de Sade „der Aristokrat
im Jakobinergewand“
De Sade hinter Gittern – eine Erinnerungsbüste neben dem alten Schloss des göttlichen Marquis in Lacoste in der Provence.
Foto: Fedephoto/StudioX
  
  
  
  
Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Verlag C. H. Beck, München 2014. 464 Seiten, 26,95 Euro, E-Book
21,99 Euro.
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