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Jacob Burckhardts Vorliebe, durch das unmittelbare, lebendige Wort zu wirken, verdanken wir einen reichen Nachlaß an Vortragsmanuskripten. Deren Bandbreite reicht von literarischen über geschichtliche bis zu kunstgeschichtlichen Themen: von Homer über Thomas Morus bis Schiller, von Demetrios Poliorketes bis Napoleon, vom Gang durch das vaticanische Museum bis zur Besichtigung altdeutscher Bilder. Die Vorträge gehören zum Kostbarsten, was sich von Burckhardts Werken erhalten hat. Seine Reflexionen und Betrachtungen zeigen einen eigenständigen Zugang zu Kunst und Kultur und gelten bis heute als…mehr

Produktbeschreibung
Jacob Burckhardts Vorliebe, durch das unmittelbare, lebendige Wort zu wirken, verdanken wir einen reichen Nachlaß an Vortragsmanuskripten. Deren Bandbreite reicht von literarischen über geschichtliche bis zu kunstgeschichtlichen Themen: von Homer über Thomas Morus bis Schiller, von Demetrios Poliorketes bis Napoleon, vom Gang durch das vaticanische Museum bis zur Besichtigung altdeutscher Bilder. Die Vorträge gehören zum Kostbarsten, was sich von Burckhardts Werken erhalten hat. Seine Reflexionen und Betrachtungen zeigen einen eigenständigen Zugang zu Kunst und Kultur und gelten bis heute als Fundgrube für kulturwissenschaftliche Erkenntnisse. Sein Blick für das Wesentliche und die Schärfe seines Urteils machen die Vorträge zu einer höchst anregenden Lektüre. Die vorliegende Ausgabe folgt dem Text der Handschriften und dokumentiert erstmals alle überlieferten Vorträge aus den Jahren 1870 bis 1892.

"Sollten Burckhardts öffentliche und Universitätsvorträge wirklich nichtveröffentlicht sein, dann erlaube ich mir, daran zu erinnern, daß es sich bei Burckhardts Vorträgen nicht bloß um die Wissenschaft der Geschichte handelt, sondern um viel mehr und namentlich um etwas ganz anderes, viel höheres, ganz unvergleichliches. Um was, das zu erklären oder auch nur ahnen zu lassen, dazu wäre eine ganze Abhandlung nötig. Ich muß mich hier mit dem Bekenntnis begnügen, daß ich den Verlust der kleinsten beiläufigen Seitenbemerkung Burckhardts für einen unersetzlichen Verlust halte."
Carl Spitteler, Schweizer Nobelpreisträger für Literatur
Autorenporträt
Maurizio Ghelardi, geb. 1952, lehrt an der Scuola Normale Superiore in Pisa. Er hat zahlreiche Beiträge zur Historiographie und Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und mehrere Burckhardt-Editionen publiziert. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehört La scoperta del Rinascimento: l'"età di Raffaello" di Jacob Burckhardt (1991).
Susanne Müller, geb. 1955, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut in Florenz / Max-Planck-Institut und arbeitet an verschiedenen Editionsprojekten
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003

Zum Gabelfrühstück bei Perikles
Einmal laut und einmal leise, stets auf seine eigne Weise: Jacob Burckhardt in seinen Vorträgen
Es gibt Schwierigkeiten, die man mit Jacob Burckhardt haben kann. Der Basler Professor schrieb über anspruchsvolle historische Themen, machte sich aber nichts aus aktueller wissenschaftlicher Literatur. Er lebte und lehrte in einem Land mit alter Demokratie, aber er scheint von der Staatsform nicht viel gehalten zu haben. Seine Bewunderer sind unzählbar. Man kann auch deshalb ihm nicht aus dem Wege gehen. Doch das ist die geringste aller Schwierigkeiten, denn für leidenschaftliche Leser ist jede Begegnung mit Burckhardt eine Freude.
Der zeitweilige Freund Nietzsches ist ein selbstbewusster Stilist. Allerdings liegt die Schönheit seines Stils nicht in der Melodie seiner Sprache, sie verdankt sich vielmehr der Klarheit seiner Einsichten. Burckhardt will, dass das, was ist, möglichst genau so benannt und beschrieben wird, wie es ist. Er hat sehr viel geschrieben und veröffentlicht. Meistens ist es ihm gelungen, sein Stilideal zu verwirklichen. Was das an gelehrter und formsuchender Arbeit zur Voraussetzung hatte, wird an der Publikation von Vortragsmanuskripten sichtbar, die aus dem Nachlass herausgegeben werden.
Der Band 13 der „Kritischen Gesamtausgabe” der Werke Burckhardts bietet nur 45 solcher Vorträge, von denen 23 bislang nicht veröffentlicht waren. Die Themen reichen von der Kochkunst der Griechen bis zur Philosophie, von der Kunstgeschichte bis zur blutigen Historie, von der Betrachtung gewaltiger Dramen bis zu verspielten Reichen der Phantasie. Zumeist wird das Vortragskonzept nur in Stichworten gegeben. Anderes ist – ebenfalls stichwortartig – in einer Weise entwickelt, dass die Blätter sich kaum dazu geeignet haben dürften, dem Redner bei seinem Vortrag als Leitfaden zu dienen. Mehrfach wird ein Zeitungsbericht abgedruckt, in dem ausführlich das Vorgetragene referiert wird. Über die „Mailänderkriege seit 1521” etwa – Thema: Was ein Land ausstehen kann, das dabei ein Culturland von erstem Rang ist” – hatte Burckhardt sich Notizen gemacht, die jetzt anderthalb Seiten füllen. Das Zeitungsreferat beansprucht sechseinhalb Seiten.
Der Gelehrte formuliert gern bündig: „Begabte wollte er nicht”, heißt es über den Spanierkönig Philipp II. Über Talleyrand: „merkwürdig, dass ein so delicater Geist zugleich ein so indelicater Finanzmann sein konnte.” Was Burckhardt in Fülle dazu mitteilt, wird niemand vergessen, der es gelesen hat.
Wer weiß, dass Thomas Mann 1944 im fernen Kalifornien das 16. Jahrhundert als ein bewundernswertes in Deutschland zu favorisieren scheint, wird mit Faszination lesen, wie Burckhardt bei Gelegenheit der altdeutschen Bilder – „Die vorwaltende Gesamteigenschaft: der Ernst” – notiert: „Endlich das XVI. Jahrhundert und die Kunst der völligen Belebung und schönen Erscheinung.” Oft wird wie beiläufig erkennbar, worin der eigensinnige Historikerkopf bedeutend gewirkt hat. Zur niederländischen Genremalerei steht da knapp: „Welches war die öconomische Basis des belgischen Genrebildes? Fürsten oder Große? Oder auch Bürger? – Wichtigkeit der Frage.”
Burckhardt war ein beliebter Vortragsredner. Er verschmähte auch literarische Stoffe nicht, sprach über den Don Quixote, über Macbeth und über Schillers „Wallenstein”. Er spendet Lob, wie es Spätere sich kaum noch getraut haben: Bei Schiller gebe es „Farben, mit welchen Shakespeare nie gemalt, feine Übergänge und Halbtöne, die er nie gebraucht hat.” Wer möchte über diese Bemerkung nicht sogleich gründlich nachdenken und sich dafür das große Drama wieder vornehmen?
JÜRGEN BUSCHE
JACOB BURCKHARDT: Vorträge 1870 bis 1892. Werke Band 13. Hrsg. von Maurizio Ghelardi und Susanne Müller et al.. C. H. Beck, München, und Schwabe, Basel 2003. 966 S., 148 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003

Es muß ein Genuß gewesen sein, mit ihm zu sprechen
Wie hat Jacob Burckhardt das gemacht? Eine fesselnde Ausgabe seiner Vorträge vor gemischtem Publikum / Von Henning Ritter

Von Burckhardt lernen - diese Devise klingt verwegen und anachronistisch. Die Bildungswelt, die mit dem Namen des Basler Historikers verbunden ist, ist seit dem Ende seines Jahrhunderts nicht nur einmal untergegangen. Reiche Erfahrung haben wir mit den vergeblichen Bemühungen um Wiederbelebung gemacht. Und doch kann man von Burckhardt lernen, im buchstäblichen Sinne: Wie hat Jacob Burckhardt das gemacht? Eine Gelegenheit, solchen Fragen nachzugehen, bietet jetzt ein Band mit Vorträgen aus den Jahren 1870 bis 1892 in der neuen Kritischen Gesamtausgabe. Ein zweiter Band mit den Vorträgen von 1844 bis 1869 ist angekündigt. Insgesamt werden es um die neunzig von etwa 170 Vorträgen sein, die Burckhardt in nahezu fünfzig Jahren in Basel vor einem "gemischten Publikum" über Kunst, Geschichte und Literatur gehalten hat, in der Aula der Universität, im Bernoullianum oder auch vor dem Verein junger Kaufleute. Das meiste dieser Vortragstätigkeit entsprang dem Pflichtgefühl gegenüber Universität und Stadt Basel: Er wollte den Basler Bürgern etwas von dem zurückerstatten, was sie der Universität gegeben hatten.

Ein großer Teil dieser Vorträge wurde 1918 von Emil Dürr zum ersten Mal veröffentlicht, mit dem gehörigen Bedenken gegenüber einer Publikation aus dem Nachlaß, die gewiß nicht die Billigung des Autors gefunden hätte. Denn seine Vorträge waren für den Augenblick gedacht, wie Dekorationen, die wieder eingerollt werden, wenn das Fest vorüber ist. Burckhardt sprach gerne von der Rolle der Augenblicksarchitektur in der Geschichte des Bauwesens. Hier wurden Dinge gewagt, die in die dauerhaften Werke nicht eingingen und doch im Gedächtnis der Mitlebenden hafteten. Die Kunstdürre der Zeit der Französischen Revolution ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die großen Künstler wie David hauptsächlich damit beschäftigt waren, Dekorationen zu schaffen. Ähnlich verhält es sich auch mit Burckhardts Vorträgen vor städtischem Auditorium. Kaum etwas von dem, was er seit 1844 bei solchen Anlässen vortrug, ist in seine Publikationen eingegangen (seit Ende der sechziger Jahre publizierte er überhaupt nicht mehr). Erst in die nachgelassenen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" und die "Griechische Kulturgeschichte" wurden einige Vortragsmanuskripte aufgenommen.

Den Eigentümlichkeiten des mündlichen Vortrags wird in der neuen Ausgabe vorbildlich Rechnung getragen. Jacob Burckhardt pflegte frei zu reden. Alles Schriftliche, was überliefert ist, entstand zum Zweck des Memorierens, nicht des Vortrags, in dem der Redner auf der Grundlage von Übersichtsblättern aber auch sorgfältigere Ausarbeitungen frei vortrug und auch gelegentlich improvisierte. Die erhaltenen Texte dokumentieren also die Art seiner jeweiligen Vorbereitung. So kommen sehr unterschiedliche Textsorten zusammen, einige bestehen nur aus Stichworten, andere kommen einer druckreifen Ausarbeitung nahe. Wer sich an den Aufzeichnungsstil Burckhardts gewöhnt hat, wird bald feststellen, daß auch der Leser es lernen kann, aus den hingeworfenen Notizen eine eine volltönende Rede erstehen zu lassen: Alles ist darauf angelegt, leicht erfaßt und gemerkt werden zu können. Das Verfahren, das dem Verfasser diente, kommt heute dem Leser zugute. Er hat ein lesbares, ein fesselndes Buch vor sich.

Durch die glückliche Entscheidung der Herausgeber Maurizio Ghelardi und Sussanne Müller wird es in vielen Fällen möglich, einen Eindruck von den Vorträgen, wie sie gehalten wurden, zu gewinnen durch den Abdruck von Zeitungsreferaten, die oft ein Vielfaches der Länge der Aufzeichnungen Burckhardts ausmachen. Seitenlange stenographische Mitschriften wurden oft in mehreren Ausgaben der Zeitungen zum Druck gebracht. In späteren Jahren klagte Burckhardt gelegentlich über redigierende Eingriffe oder hinzugefügte saloppe Bemerkungen. Er behielt sich deswegen die Durchsicht der Fahnen vor. Aber im ganzen ist es ein kleines Wunder, wie die Zeitungen der Zeit mit solchen Bildungsstoffen umgingen.

Der Leser erhält also weit mehr Einblicke in die Werkstatt des Autors, als üblich ist, nicht aber als ihm lieb sein kann. Denn ein charaktervoller und eigenwilliger Autor, wie Burckhardt es war, teilt die Stimmung seines Geistes auch noch in bloßen Umrissen mit - eine Leistung, die er der Fotografie zutraute, von der er glaubte, daß sie auch noch in schwachen Reflexen das Wesentliche großer Werke übermitteln könnte, wenn diese einmal zerstört wären. Raffael, glaubte er, würde auch dann noch in seiner Größe erkannt, wenn seine Werke nur in Fotografien weiterexistierten.

Dies alles ist aber nur ein Bruchteil des großen Handwerks, das diese Vorträge zu erkennen geben. Zu einem guten Vortrag gehört es, daß Zeit und Gegenstand richtig erfaßt und aufeinander eingestellt sind. Das geschieht durch Akzente, durch eine durchlaufende Frage oder eine Pointe, auf die alles hinausläuft. Wie kann man über die "Mailänderkriege seit 1521" sprechen, ohne die Zuhörer nur mit Zahlen und Tatsachen zu belasten, die sie gar nicht mitnehmen wollen? Burckhardts Thema ist hier, "was ein Land ausstehen kann, das dabei ein Kulturland vom ersten Range ist", er will ein Beispiel davon geben, wie "die Späteren für die Früheren litten", oder auch erraten, "was in den Quälern vorgeht". So kann selbst Entlegenstes interessant werden.

Man entdeckt den eigenwilligen Zugriff auf die Gegenstände oft schon in der Formulierung des Vortragsthemas: "Das Phäakenland Homers", "Pythagoras (Wahrheit und Dichtung)" oder auch "Bei Anlaß von Vereinsphotographien". Von Vereinsfotografien handelte dieser 1873 vor Kaufleuten gehaltene Vortrag nicht. Aber er nahm den damals verbreiteten Usus, daß Vereine sich mit Hilfe fotografischer Ablichtungen dokumentierten und ihre Vereinslokale mit solchen Bildern schmückten, zum Anlaß, um an einen Brauch des holländischen siebzehnten Jahrhunderts zu erinnern, an die Doelen- oder Schützenstücke: "Massen von homogenen Leuten (in Alter, Tracht, Geschlecht etc.) ohne eigentliche Handlung vereinigt, bloß so weit bewegt als es zur unumgänglichen Belebung dient." Burckhardt verdeutlicht dieses Motiv der anonymen Existenz, wenn er resümiert: "fast lauter verschollene Leute. Aber sie sind doch beisammen gewesen."

Da war auf einmal zwischen der Gegenwart und einer entrückten Vergangenheit eine Gemeinsamkeit entstanden, die nicht ohne herben Beigeschmack war: die Vitalität der Geselligkeit bei völliger Namenlosigkeit der einzelnen, von denen jeder damals in Holland für sein Porträt die Maler Frans Hals, van der Helst, Rembrandt und ungezählte andere zu entlohnen hatte und dafür Porträtähnlichkeit erwarten durfte. Die moderne "Sitzungsmüdigkeit", merkte der Vortragsredner an, habe man damals noch nicht gekannt.

Daß Burckhardt ein eminenter Zeitbeobachter war, dafür bedarf es keines umständlichen Beweises. Seine "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" und sein Briefwechsel mit Preen enthalten die grandiosesten Beispiele prognostischer Wachheit in der Beobachtung der Gegenwart. Daß Zeitbeobachtung und Prognose Steckenpferde Burckhardts waren, zeigt sich nun auch in dem wiederum im Verein junger Kaufleute gehaltenen Vortrag über das "Englische als künftige Weltsprache" (1872/73). Es sollte wohl ein Dämpfer sein für die durch die Reichsgründung beflügelten Zukunftserwartungen der Deutschen.

Der Genfer Botaniker De Candolle sagte damals voraus, daß das Englische im zwanzigsten Jahrhundert die einzige Weltsprache sein werde, und diese Voraussage präzisierte er auch zahlenmäßig für das Jahr 1970: 860 Millionen würden dann Englisch sprechen, 124 Millionen Deutsch und knapp 70 Millionen Französisch. Für Burckhardt war all dies nur ein Anlaß, um die Linien einer durch "Geschäft und Erwerb", also englisch bestimmten Zukunft deutlich nachzuziehen, in der Erwartung "daß dies ganze Riesenvolk auf dem jetzigen Niveau der anglo-amerikanischen ,Kultur' bleiben und dasselbe noch erhöhen werde". Das war für ihn ein weltgeschichtliches Faktum, dem er Dauer zusprach. Erstaunlich ist auch seine Einschätzung der Vereinigten Staaten, die er aufgrund der Monroe-Doktrin als imperialistische Macht eigenen Gepräges sieht, mit ihrer "faktischen Herrschaft" über die südamerikanischen Regierungen und einer bald zu erwartenden "Okkupation von ganz Polynesien". Eine aktuelle weltgeschichtliche Betrachtung.

Will man dem Vortragsredner Burckhardt seine Geheimnisse ablauschen, so muß man darauf hinweisen, in welchem Maße die Freiheiten der Betrachtung auf der Diszplin des Umgangs mit dem Primären beruhen: mit den Quellen, die Burckhardt in seinen Vorträgen meist auswendig wiederzugeben pflegte. Die beiden großen Porträts, die in diesem Band enthalten sind, "Talleyrand" und "Napoleon I. nach den neuesten Quellen" sind in diesem Bemühen, das Primäre zu erfassen, ein kursorisches Rezensieren von Zeugnissen über sie, ohne die Absicht, ein Bild endgültig zu fixieren. Angesichts der Mythen und Legenden lautet weniges ohne Vorbehalt. Über Napoleon nur dies: "Es muß ein Genuß gewesen sein, mit ihm zu sprechen." Ohne ein Verdammungsurteil zu sprechen, bleibt es gegenüber der mächtigen Figur beim Sichwundern. Burckhardt der Beobachter sieht in Napoleon die Ersetzung der Idee des Ruhms durch den Erfolg: "Absolut nur auf den Sukzeß eingerichtet." Alles dient diesem Erfolg, sogar Napoleons "Spezialaberglaube" an seine "Fortune" - "für sie glaubte er sich Alles erlaubt". Das ist in einer Gestalt ein Durchbruch der modernen Welt.

Mit Talleyrand hat es eine ähnliche Bewandtnis. Burckhardts Notizen zeichnen freilich ein dämonischeres Porträt als das Napoleons. Hier war auch ein noch dichteres Geflecht von Nachreden, Anekdoten und geistreichen Worten zu durchdringen, eine fast kriminalistische Untersuchung gefordert. Wenn Burckhardt über den biegsamen, von jeder Macht angezogenen Talleyrand spricht, glaubt er es mit lauter Ungewißheiten zu tun zu haben. Denn Talleyrand pflegte sich gegen öffentliche Nachrede und gegen Gedrucktes über ihn nicht zu wehren, so daß es nahezu unmöglich war, zwischen echt und falsch zu unterscheiden. Nur einmal berief er sich auf seine Aufrichtigkeit - als Napoleon ihn entließ: "Die Ungnade war die Frucht meiner Aufrichtigkeit." Burckhardt war wohl auch deswegen der Ansicht, daß Talleyrand "eigentlich mehr durch sein Schweigen imponiert als durch seine Worte", trotz der vielen geistreichen Wendungen, die von ihm in Umlauf waren.

Ein Wort aber wollte Burckhardt ihm keinesfalls absprechen: "les choses se font, en ne les faisant pas". Burckhardt gibt den brillanten Aphorismus wieder: "Die Sachen geschehen, wenn man sie nicht selber bewirken will; wenn man die Sache kommen läßt, hat man Zeit, daneben zu stehen und gehörigen Orts den gehörigen Griff zu tun. Mögen andre die Arbeit machen." Es gelte zu erraten, "wo die Dinge hinauswollen". Näher kann ein Historiker einem verrufenen Politiker nicht nachgehen, als Burckhardt es hier tut - zweifellos, weil er eine unvermutete Ähnlichkeit des politischen und des historischen Geschäfts wahrnahm.

Bedauerlicherweise besteht ein anderes Wort von Talleyrand - "Dies ist schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Fehler" - die Echtheitsprobe Burckhardts nicht. Die Unsicherheiten gehen allerdings zu Lasten von Talleyrand, der im Gespinst der von ihm selbst angezettelten Intrigen - "Intriguer c'est faire", soll er gesagt haben - selbst verschwunden zu sein scheint. Burckhardt entgeht nicht, daß diese Tatsache selbst Aufschluß über die Person gibt. Daß Talleyrand keine Memoiren hinterließ, in denen manches verwirrt, aber vieles auch hätte richtiggestellt werden können, erklärt er sich damit, daß dieser die Nachwelt ebenso verachtet habe wie die Mitwelt, vor der sich zu rechtfertigen er keinen Anlaß sah. Ebensowenig glaubte er solcher Rechtfertigung vor der Nachwelt zu bedürfen. In Geldgier und Käuflichkeit sah Burckhardt das "Komplement" einer Persönlichkeit, die sich von jeder Festlegung auf Zwecke völlig frei zu halten suchte. Eine Ahnung über eine Tatsache der modernen Welt, die Entfesselung der Mittel, mag Burckhardts Zuhörern hier aufgegangen sein.

Auch für die Redepraxis kann man aus Burckhardts Vorträgen Lehren ziehen. Es darf nicht von oben herab doziert werden. Kein guter Vortrag, dessen Ergebnis für den Redner schon von vornherein feststeht. Wer wie Burckhardt über sein Thema in der Zeit einer Stunde disponiert, muß es so anlegen, daß er sich die Möglichkeit eigener Entdeckungen nicht verbaut. Das ist besonders an den zu Recht berühmten Kunstvorträgen Burckhardts zu beobachten. Manchmal entsteht durch die Wahl eines Themas ein ganzes Gebiet. Beispielhaft dafür ist "Format und Bild", eine scheinbar banale Frage, die aber unabsehbar viele Implikationen hat, beispielsweise wenn Sammler um der Wirkung willen Formatgleichheit herstellen, indem sie die Bilder beschneiden.. Eine empfindliche Angelegenheit. Aber es liegt darin mehr, als gewöhnlich dabei gedacht wird.

Mit einem seiner charakteristischen Seufzer erweckt Burckhardt den Eindruck, als sei ihm die Dimension seines Themas erst durch seine Behandlung aufgegangen: "wie groß die Formatfrage ist - und von wie hoch und weit sie herkommt". Die Bildformate gehören, so sein Fazit, zu den "Lebensbedingungen" der Bilder, und eines der charakteristischen Merkmale der zeitgenössischen Kunst war für Burckhardt die Freigabe der Formatwahl für den Künstler, ein, wie wir sagen können, bis heute nachwirkender Emanzipationsakt, der die Lebensbedingungen der Kunst fundamental veränderte.

Auf dieser Ebene der Lebensbedingungen oder der "Präzedentien" der Kunst hat Burckhardt über alte und neue Werke nachgedacht. Was dem Historiker die Quelle, ist dem Kunsthistoriker die eigene Anschauung. Wenn Burckhardt weitläufig über die großen Kunstsammlungen Europas spricht, so spürt man selbst in der Kurzschrift seine intime Vertrautheit mit jedem der Museen - daß er den Prado und die Eremitage nicht kannte, spürt man als eine der wenigen bedauerlichen Lücken. Und bei jeder Erwähnung eines Bildes ist zu merken, daß der Schreibende sich auf sein Bildgedächtnis verläßt. Selbst die knappste Charakterisierung ist prägnant, weil sie ein Extrakt aus dem Bildgedächtnis des Redners ist. Wie Burckhardt keine Sitzungsmüdigkeit kannte, weil er das Milieu mied, so kannte er keine Galeriemüdigkeit, weil er ein lebenslanges Training absolviert hatte.

Aus der Fülle der Bildeindrücke tauchen, sehr sparsam, Konturen eines Allgemeinen auf, das keineswegs von der Art der von Burckhardt mit Geringschätzung bedachten Ästhetik ist. Jedes Pathos meidend, macht er gleichwohl in bestimmten Augenblicken Andeutungen seiner Idee von Kunst, am eindrucksvollsten aus Anlaß der niederländischen Genremalerei: Dort sei "ein Moment des Weltganzen dargestellt, welchen der Maler im Nu fixiert habe und ohne welchen unsere Kunst von der Welt unvollständig wäre. Dem Künstler ist der Anblick zur Vision geworden; und diese wirkt dann als Stimmung auf die Stimmung des Beschauers. Man empfindet die ausgezeichnetsten dieser Bilder als Notwendigkeiten."

Zu Unrecht hat man Burckhardt zu einem rückwärtsgewandten Kunstliebhaber erklärt. Sicherlich galt seine Verehrung der klassischen Kunst von den Griechen an, rangierte er Raffael und Rubens am höchsten, zweifelte er an Rembrandt und der von ihm errichteten Herrschaft von Licht und Luft, polemisierte er gegen die moderne Diktatur der Kunstmittel. Aber die Sammlung seiner Vorträge, die fast zur Hälfte kunsthistorische Betrachtungen enthält, kann darüber belehren, daß es sich nicht so sehr um eine Abwendung von der zeitgenössischen Kunst handelte, sondern um den Versuch, sich in das künftige Zusammenleben von alter und neuer Kunst hineinzudenken. Vielleicht als einziger im neunzehnten Jahrhundert hat Burckhardt die Risiken des modernen Kunstbetriebs hellsichtig analysiert. Die Beschleunigug war ihm als historische Tatsache vertraut - "Die Welt hat seit 1830 politisch und sozial sehr rasch gelebt". Aber welche Folgen mußte diese Tatsache für das Bewußtsein der Gebildeten und für die Kultur haben?

An unerwarteter Stelle, im Vortrag über "Leben und Sitten des Adels um 1500", findet sich ein gedrängtes Exposé dieses Jahrhundertproblems: "Der Fortschritt hält natürlich Alles, was nach unserer Ansicht ,retardiert', für ein Unglück und alle Ungleichheit (mit Ausnahme derjenigen des Geldbesitzes) für ein Verbrechen. Und als ob wir wüßten, was man in 300 Jahren an unserm jetzigen Zustand retardierend finden wird und was (im Gegenteil) allzuschnell rotierend (die Aufnützung der Erdoberfläche etc.). So lange ein Historiker mit dem Terminus ,Glück' operiert und darunter einen durch Denken, Wollen und Tun von Menschenmassen oder -kategorien erreichbaren seligen und dauernden Zustand versteht, ist ihm nicht zu helfen. In die höhere Ökonomie der Weltgeschichte sehen wir nie klar hinein und dann am allerwenigsten, wennn wir Wünsche der modernen Zeit in die Vergangenheit hineintragen." Es ist bei Burckhardts Vorträgen wie in der Kunst: Man kann nicht vorher sagen, wo man die stärksten Eindrücke erhalten wird.

Jacob Burckhardt Werke. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von der Jacob Burckhardt-Stiftung, Basel. Band 18: Vorträge 1870-1892. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Maurizio Ghelardi und Susanne Müller unter Mitarbeit von Reinhard Bernauer. C. H. Beck Verlag / Schwabe Verlag, München und Basel 2003. VI, 966 S., geb., 148,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Hanno Helbling liefert einen sachlichen Bericht zum Erscheinen des dreizehnten Bandes der kritischen Gesamtausgabe Jacob Burckhardts, in dem die zweite Hälfte der öffentlichen Vorträge Burckhardts Eingang gefunden hat. Genau setzt uns Helbling auseinander, dass neunmal antike Themen abgehandelt werden, elf Vorträge sich mit europäischer Geschichte befassen, vier der Literatur gelten und weitere einundzwanzig der Bildenden Kunst gewidmet sind - alles einmalige Vorträge vor "gemischtem Publikum". Solche Vorträge vor einer ausgewählten und sicher hochgebildeten Laienhörerschaft waren Pflicht für den Basler Dozenten, informiert Helbling. Allerdings wüsste man kaum, setzt er hinzu, ob Burkhardt die Vorträge tatsächlich so gehalten habe, da er zu improvisieren und frei zu sprechen beliebte. Dennoch sei hiermit erstmals, betont Helbling, der genaue Textbestand der erhaltenen Vortragsmanuskripte veröffentlicht. Helbling vergleicht den Textbestand mit Notenmaterial, aus dem der Kundige bei genauerem Studium auch Musik zaubern könnte. Die textkritischen Anmerkungen und vorzüglichen Kommentare der Herausgeber trügen hierzu ihren Teil dazu bei, so Helbling.

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