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Der alltägliche Antisemitismus ist in seinen historischen und aktuellen Ausprägungen ebenso stereotyp wie böse. Oft begegnet man ihm selbst dort, wo man ihn nicht ohne weiteres erwarten würde, bei Theodor Fontane zum Beispiel. Wolfgang Benz analysiert in diesen eindringlichen Beiträgen Erscheinungsformen, Spielarten und Wirkungsweisen antijüdischer Verhaltensmuster vom 19. Jahrhundert bis heute.

Produktbeschreibung
Der alltägliche Antisemitismus ist in seinen historischen und aktuellen Ausprägungen ebenso stereotyp wie böse. Oft begegnet man ihm selbst dort, wo man ihn nicht ohne weiteres erwarten würde, bei Theodor Fontane zum Beispiel. Wolfgang Benz analysiert in diesen eindringlichen Beiträgen Erscheinungsformen, Spielarten und Wirkungsweisen antijüdischer Verhaltensmuster vom 19. Jahrhundert bis heute.
Autorenporträt
Wolfgang Benz, geboren 1941, ist Mitgründer und Mitherausgeber der Dachauer Hefte und war von 1969 bis 1990 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Er ist Prof. em. der Technischen Universität Berlin; Wolfgang Benz leitete bis März 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. 1992 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2001

Zerrbilder überleben die Wirklichkeit
Vorurteile sind langlebig, auch wenn sie scheinbar ihren Charakter und ihren Gehalt ändern – insbesondere, wenn es um Juden in Deutschland geht
Eigentlich könnte man zufrieden sein – wenigstens vordergründig. Die alten judenfeindlichen Bilder von der Gartenlaube bis zum Stürmer sind heute bis auf winzige Reste aus Deutschland verschwunden. Die antijüdischen Klischees der Rassisten und Nationalsozialisten gehören seit 1945 der Vergangenheit an. Sie wiederzuerwecken ist weder schlicht denkenden Neonazis und Skinheads noch ernster zu nehmenden Personen wie dem für den Antisemitismus anfälligen Rainer Werner Fassbinder („Der Müll, die Stadt und der Tod”) gelungen.
Auch die Kirchen haben antijüdisches Bildgut und Brauchtum, das aus christlicher Wurzel stammte, beiseite geräumt. Seit langem wird in katholischen Kirchen am Karfreitag für „die Juden” (nicht mehr wie früher für die „treulosen Juden”) gebetet. In Wittenberg wird die Darstellung der „Judensau” im Skulpturenschmuck der Pfarrkirche durch eine erläuternde Bronzetafel erklärt und relativiert. Steht also alles zum Besten, ist der „alltägliche Antisemitismus” in unserem Land nur noch eine unerfreuliche Reminiszenz an frühere Zeiten?
Stereotypen in den Köpfen
Nein, meint Wolfgang Benz, der Berliner Zeithistoriker und Antisemitismusforscher. Nein, weil die Zerrbilder „vom Juden” bei uns auch heute noch weiterleben – nur dass sie sich ins Innere, in die Köpfe der Menschen zurückgezogen haben. Hier nämlich, im Unterbewusstsein und Unbewussten, so die zentrale These dieser Aufsatzsammlung, überwintern die Stereotypen von einst, die Bilder „vom Wucherer, vom Weltverschwörer, vom Geizhals, vom Krummbeinigen mit der Judennase, vom Fremden ... Als Wirkungen dieser Stereotypen in realer Existenz finden wir geschändete Friedhöfe, Hakenkreuze auf jüdischen Grabmalen und jüdischen Kultstätten. Und – dies wiederum nur schwer greifbar – judenfeindliches Geraune im alltäglichen Antisemitismus, der sich in den bekannten Bildern kristallisiert”.
Man ist gespannt, wie Benz diese weitausgreifende These im einzelnen belegt. Doch das kleine Buch enttäuscht: Die meisten Aufsätze führen nicht in die Gegenwart hinein, sondern in die Vergangenheit zurück. Aber dieses Feld ist längst – und eingehender – bestellt, unter anderem durch Autoren wie Dantine, Eckert, Lill, Rengstorf.
Es mag nützlich sein, das Bild vom „reichen und mächtigen Juden” noch einmal im Zeitraffer vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert zu verfolgen; für die Gegenwart hat das nur noch eingeschränkte Bedeutung. Denn die Bedrohungen sind subtiler geworden. Und Sündenbocktheorien werden längst nicht mehr allein am jüdischen Beispiel festgemacht. Benz widmet den „Protokollen der Weisen von Zion” eine gründliche Betrachtung – zu Recht. Aber das paranoide Machwerk des russischen Autors Nilus ist längst als Fälschung enttarnt. Im übrigen hat es nicht nur in Deutschland gewirkt, sondern weltweit Verheerungen angerichtet.
Stärker ins Zentrum der deutschen Diskussion zielt der Aufsatz über Theodor Fontane. Dass ein so freiheitlicher und feinsinniger Geist antijüdischen Klischees der Zeit anhing, muss verwundern und schockieren. Aber darf man Fontane mit Richard Wagner, Heinrich von Treitschke, ja sogar Houston Stewart Chamberlain des Antisemitismus zeihen – ohne den Einzelfall, die Quellenlage, die Art der Äußerungen, das literarische Genre zu untersuchen? Fontane hat sich in privaten Briefen mehrfach antisemitisch geäußert, das ist leider wahr – aber keineswegs in seinem Werk. (Das Gegenbeispiel ist Gustav Freytag, der kein Antisemit war, aber mit den Figuren Veitel Itzig und Hirsch Ehrenthal aus „Soll und Haben” der antisemitischen Propaganda des folgenden Jahrhunderts die Muster geliefert hat).
Hier vermisst man in den Darlegungen von Benz historisches Unterscheidungsvermögen und den Sinn für Proportionen. Muss man nicht auch bedeutenden Autoren eine Privatsphäre zugestehen, in der sie dumm daherreden können? Ich fürchte, mit Privatbriefen, oft erst postum ans Licht gekommen, kann man fast jeden Autor „erledigen”.
In die Gegenwart führt der aus Vorträgen entstandene Aufsatz „Juden in Deutschland nach 1945”. Benz sieht die jüdische Minderheit in Deutschland – mit etwa 80000 Menschen ungefähr ein Promille der Gesamtbevölkerung – inmitten einer Mehrheit, die zwischen Philosemitismus und Antisemitismus schwankt. Zuwendung zum Judentum bezeugen die Wiederherstellung zerstörter Synagogen an vielen Orten, die Gründung jüdischer Museen, das Interesse an jüdischer Geschichte und (Volks)Kultur, die Gesellschaften für christlich- jüdische Zusammenarbeit, die „Woche der Brüderlichkeit” – der Autor hätte auch die neue Beliebtheit jüdischer Vornamen in der Nachkriegszeit anführen können.
Der Gegenpol eines fortdauernden antijüdischen Ressentiments ist weniger ausgeprägt. „Offene Judenfeindschaft zu zeigen ist in Deutschland ebenso verpönt wie das Leugnen des Völkermords. Das zwingt die einen zur Zurückhaltung und ermuntert die anderen, aus sicherem Dunkel zu agieren”.
Lässt sich das Dunkel durchdringen? Benz stellt fest, dass nach demoskopisch erhobenen Trends Antisemitismus in Deutschland kein zentrales politisches Problem ist, dass judenfeindliche Äußerungen insgesamt rückläufig sind. Immerhin ist nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa von 1998 jeder fünfte Deutsche „latent antisemitisch” – was immer das heißt.
Wolfgang Benz ist Professor für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Seine Aufgabe sieht er darin, die sozialen Wirkungen von Ressentiments und Vorurteilen zu untersuchen, die sich in einer Gesellschaft bilden; der Antisemitismus ist für ihn „der Prototyp des sozialen und politischen Ressentiments und darum vor allem ein Indikator für den Zustand der Gesellschaft”.
Dem kann man zustimmen. Antisemitismusforschung als Vorurteilsforschung kann vieles erkennen, begreiflich machen und – im günstigen Fall – auflösen und überwinden, was sich in einer Mehrheitsgesellschaft an Ablehnung des Fremden, an Deprivationsangst, an Feindbildern speichert.
Aber Vorurteilsforschung ist zu eng, um das Thema Antisemitismus zu erschöpfen. Antisemitismus ist ja bei weitem mehr als nur ein Sonder- und Unterfall der alten Jagd nach dem Sündenbock. Ist die funktionalistische Verengung des Antisemitismus auf ein „Vorurteil” nicht in Gefahr, das Spezifische und Geschichtliche der immer wieder aufflackernden Judenfeindschaft zu verkennen?
Zu kurz gesprungen
Mit Verwunderung liest man auf den letzten Seiten im Buch des verdienten Zeithistorikers den Satz, Antisemitismus habe mit Studien, die jüdischer Kultur, Religion und Geistigkeit gewidmet seien, „primär nichts zu tun”. Als Vorurteilsforschung interessierte sie sich „für Verhaltensweisen und Einstellungen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, und sie muss streng genommen nicht einmal Kenntnis haben von der diskriminierten Minderheit .” Aber wie will man ein Ressentiment beschreiben ohne Beziehung zum Gegenstand? Wie will man es auflösen, kritisch überwinden ohne Vergleich des Zerrbilds mit der Wirklichkeit? Bei Franz Rosenzweig, Martin Buber, aber auch bei einem lebenden jüdischen Denker wie F. G. Friedmann hätte Benz nachlesen können, dass eine Verständigung zwischen historischen Mehrheiten und Minderheiten nicht möglich ist ohne Aufeinander-Eingehen, ohne die Bereitschaft zum Dialog, ja zum Aufbau einer gemeinsamen Kultur.
Vorurteilsforschung muss in den Versuch münden, sich über Grundzüge einer solchen politischen Kultur zu verständigen. Sonst springt sie zu kurz; sonst endet alles in der schnellen Erledigung von „Fanatismus und Vorurteil” durch „Aufklärung”. Und in der Realität bleibt alles, wie es ist, weil man auf diese Weise an die religiösen und kulturellen Wurzeln des Konflikts nicht herankommt. Das aber wäre nach Auschwitz und angesichts des künftigen Europa gewiss zu wenig.
HANS MAIER
Der Rezensent ist Kultur- und Religionsphilosoph an der Universität München und ehemaliger Kultusminister von Bayern.
WOLFGANG BENZ: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, C. H. Beck Verlag, München 2001. 160 Seiten, 19,90 Mark.
Vor 63 Jahren wurde die Dresdner Synagoge zerstört, 63 Jahre lang mussten sich die Juden der Stadt zum Beten in einer ehemaligen Totenhalle auf dem jüdischen Friedhof versammeln. Erst kürzlich wurde nun die neue Synagoge – eines von vielen Symbolen für jüdisches Leben in Deutschland – geweiht.
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Rezensent Hans Maier zeigt sich enttäuscht von diesem Buch über den Antisemitismus, da es, anstatt sich mit der aktuellen Problematik zu beschäftigen, wieder einmal auf die Geschichte des Antisemitismus eingehe. Dazu gibt es aber bereits bessere Studien, meint der Rezensent. Auch vermisst er an vielen Stellen "historisches Unterscheidungsvermögen und den Sinn für Proportionen", was sich insbesondere bei der etwas vorschnellen Klassifizierung von Fontane als Antisemiten zeige. Auch sei das gesamte Unterfangen dieses Buches kritisch zu hinterfragen, wenn es sich den Antisemitismus auswähle, um über allgemeine Vorurteilsstrukturen innerhalb der Gesellschaft zu dozieren. Vielmehr verlangt, so der Rezensent, eine Auseinandersetzung mit den antisemitischen Vorurteilen gleichzeitig einen Dialog mit der jüdischen Kultur, was der Autor aber explizit abstreite.

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