Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • Seitenzahl: 124
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 240g
  • ISBN-13: 9783406465758
  • ISBN-10: 3406465757
  • Artikelnr.: 08903843
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2001

Wie rund war meine Trauer
Elend der Kindheit: Wilfried Ohms findet keine Sprache

Wenn einer der Indikatoren für gute Literatur das Geheimnis ist, das den Leser lockt, zurückweist und durch das listige Wechselbad von Verführung und Frustration eisern bei der Stange hält, dann ist Wilfried Ohms Erzählung schlechte Literatur. "Abschied vom Spiegelbild" ist auf ernüchternde Weise geheimnislos. Ein Zwillingspaar wächst unter bedrückenden Umständen auf. Die Atmosphäre, die das Elternhaus imprägniert, ist ebenso dumpf wie ehrgeizig, die erzieherischen Maßnahmen, mit denen die Kinder geformt werden, gewalttätig und lieblos, das traute Heim ein wüster Kampfplatz. Die Eltern suchen nur einen Vorwand für eigene Aggressionsabfuhr. In ihren Augen sind die Sprößlinge lästige Monsterchen, deren Willen rechtzeitig durch rigide Vorkehrungen zurechtgebogen werden muß.

Die dunkle Kindheit aus lauter Versagungen, Elend und Machtmißbrauch holt einen der Zwillinge ein. Er steuert unaufhaltsam auf eine Sackgasse zu. Beruflich scheitert er, in seinen Beziehungen wiederholt er traumwandlerisch die erlebten destruktiven Mechanismen. Verkommen und vereinsamt vegetiert er schließlich nur noch dahin und bringt sich am Ende in Afrika um. Ein berechenbarer Ausgang, auf den der Text vom ersten Buchstaben an zurast. Ohne Bruch. Ohne Widerspruch. Ohne Doppeldeutigkeit.

Das Ende der Erzählung ist zugleich auch ihr Anfang. Aus der Perspektive des Zwillingsbruders wird das Schicksal des mißratenen Bruders erzählt. Erzählt? Da liegt schon die zweite Crux dieser Literatur. Vom ersten Satz an irritiert der merkwürdige Eindruck, daß hier ein Autor nicht erzähle, sondern rekapituliere, ab und zu gar altklug kommentiere: "Ich denke mir, er war sich über die Auswegslosigkeit im klaren, in die er sich durch die fluchtartige Emigration nach Togo manövriert hatte".

Es gibt kaum eine Stelle, wo den Figuren Leben eingehaucht, wo die Bilder prall und plastisch leuchten. Klappernd spult der Autor statt dessen die erzieherischen Fehlleistungen ab, dunkel orakelnd werden die Untaten der Eltern addiert, bis auch der schlichteste Leser begriffen hat, daß es so und nur so hat kommen müssen: Wie man dem Bruder den Wunsch, Violine zu spielen, ausgeschlagen hatte; wie man ihm die Lust am Klavierspiel vergällt und das ersehnte Musikstudium verboten hatte; wie die Zwillinge zur Strafe auf den Legosteinen knien und der Vater bei der Lehrerin Zusatzaufgaben für die Kinder reklamiert hatte. Die Kindheit - ein Jammertal. In der Erzählung des vierzigjährigen österreichischen Autors werden die Schrecken umstandslos bejammert, ohne daß je psychologische Motivationen geklärt oder Hintergründe ausgeleuchtet würden.

Dabei liefern elende Kindheiten naturgemäß Vorlagen für Weltliteratur. Wilfried Ohms hätte gleich mehrfach einen produktiven Stoff in der Hand gehabt: der Bruder als Doppelgänger; der Zwilling, das dunkle Andere; die auswegslose Verstrickung der Untrennbaren; der Bruder als Spiegel der eigenen, abgewehren Aggression. Daß der Autor dieses Potential nicht nutzen kann, liegt auch an seiner schlichten Sprache und der Schwierigkeit, Bilder für das Unsägliche zu finden. Einmal will er vom Kerker einer Zwillingsidentität reden: "Eineiige Zwillinge. Die Betonung liegt jetzt auf dem Ei. Denn es ist rund wie die Trauer. Ohne Anfang und Ende." Was hier reichlich ungelenk daherkommt, ist an anderer Stelle nur schief. Die Nachricht vom Selbstmord des Bruders war ihm wie "ein Blitz, der quer durch beide Augen lief. Meine Glieder zuckten, als hätte sie ein heftiger Stromstoß elektrisiert. Eine furchtbare Gewißheit breitete sich in mir aus wie Wellenkreise, wenn man einen Kieselstein ins Wasser wirft."

Je drastischer die Beschreibungen, je schriller der Ton, desto augenfälliger die verbale Hilflosigkeit. Dem Autor fehlt ein geschmeidiges, mehrdeutiges Medium, um das Verstörende auszudrücken: "Überzeugte er sich von der Tragkraft der Henkersschnur, ehe er sich ihr anvertraute?" - mit solch brachialen Sätzen versucht er, dem Skandalösen des Selbstmords Herr zu werden. Ist aber Literatur, wo keine Sprache ist?

PIA REINACHER

Wilfried Ohms: "Abschied vom Spiegelbild". Erzählung. Verlag C. H. Beck, München 2000. 125 S., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

""Auf ernüchternde Weise geheimnislos" findet Pia Reinachers diesen Roman, an dem sie vom ersten Satz an irritiert hat, dass hier ein Autor nicht erzählt, sondern schlicht rekapituliert. Es geht den Informationen der Rezensentin zufolge, um eine "dunkle Kindheit aus lauter Versagungen, Elend und Machtmissbrauch", die ein Zwillingspaar erleidet. Einer von ihnen bringt sich am Ende um. "Ein berechenbarer Ausgang, auf den der Text vom ersten Buchstaben an zurast", wie die Rezensentin meint. Naturgemäß sind "elende Kindheiten" Vorlagen für Weltliteratur, lesen wir auch, und sehen eine verzweifelte Rezensentin lauter Vorschläge machen, was für ein Potenzial Wilfried Ohms Stoff dafür geboten hätte. Doch in seinem Buch hat sie kaum eine Stelle gefunden, "wo den Figuren Leben eingehaucht" ist, "wo Bilder prall und plastisch leuchten". Stattdessen spule der Autor "klappernd" die "erzieherischen Fehlleistungen" ab und addiere "dunkel orakelnd" die Fehlleistungen der Eltern. Und: "Je drastischer die Beschreibungen, je schriller der Ton."

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