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Die aus Wien stammenden Helfgotts können sich 1939 nach England in Sicherheit bringen. Für den jungen Wolfy stellt London mit seinen Secondhandläden, Fußballklubs und Rotlichtvierteln eine Attraktion dar, für seine Eltern und Verwandten jedoch ist es ein Ort der Fremde. Voller Zärtlichkeit und Humor beschreibt Zvi Jagendorf das Leben von "Flichtlingen", die sich wie Waisenkinder fühlen.

Produktbeschreibung
Die aus Wien stammenden Helfgotts können sich 1939 nach England in Sicherheit bringen. Für den jungen Wolfy stellt London mit seinen Secondhandläden, Fußballklubs und Rotlichtvierteln eine Attraktion dar, für seine Eltern und Verwandten jedoch ist es ein Ort der Fremde. Voller Zärtlichkeit und Humor beschreibt Zvi Jagendorf das Leben von "Flichtlingen", die sich wie Waisenkinder fühlen.
Autorenporträt
Verena von Koskull, geb. 1970, hat Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna studiert. Sie übertrug u.a. Matthew Sharpe, Curtis Sittenfeld, Tom McNab, Carlo Levi, Simona Vinci und Claudio Paglieri ins Deutsche.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2004

Strudel der Erinnerung
Fernes London: Zvi Jagendorf schließt Gedächtnislücken

London ließ ihn im Stich", heißt es über Will Halfgo auf der letzten Seite des Buches, das von seiner Kindheit erzählt. "Er mußte seinen Straßenatlas allein durchwandern und bei jedem Schritt mit der trotzigen Hoffnung ringen, am Ende vielleicht doch noch seinen Weg zurück nach Hause zu finden." Es sind überraschende Worte, mit denen Zvi Jagendorf seinen Roman enden läßt. Will kennt sich in der Stadt, in der er aufwuchs, nicht mehr aus, doch die Geschichten seiner Kindheit quellen von Bildern aus einem scheinbar unerschöpflichen Reservoir über. Wie kann er also vergessen haben, was eben noch so plastisch vor unseren Augen stand?

Ein Grund dafür deutet sich in den Namen an. Will Halfgo hieß früher Wolfy Helfgott, ein jüdisches Kind, dessen Familie sich aus Hitlers Wien nach London gerettet hat. Später gibt er sich einen englischen Namen, um die Erinnerungen loszuwerden, aber auch ein alter Glaube geht damit verloren. Die ersten Sätze des Romans vermitteln noch ein Bild dieses Glaubens, und zugleich ein Ende. "Er war ein toter Mann, der an einem Samstag abend des Jahres 1937 mit leeren Taschen in einer Tram durch Wien fuhr. Er trug einen altmodischen dunklen Anzug. Unten im Jackenärmel steckte ein zusammengeknülltes Taschentuch. Auf seinem Kopf saß ein breitkrempiger schwarzer Hut, und ein gepflegter weißer Bart fiel ihm wie eine Serviette auf die Brust."

Der hier beschriebene Mann wird als Toter bezeichnet. Was man zunächst für eine Metapher hält, ist wörtlich gemeint: Der fromme Jude Kalman Gold hat den Samstag in der Gemeinde der Beter verbracht. Am Abend nimmt er die Straßenbahn, um wieder nach Hause zu fahren. Dort erleidet er einen Herzschlag. Es dauert lange, bis die Familie ihn im Leichenschauhaus identifiziert, denn er hat keine Papiere bei sich. Vor den Betenden braucht er sich nicht auszuweisen.

Im Wien vor Hitler hatte es diesen letzten Halt einst gegeben, aber der kleine Wolfy Helfgott hört von ihm nur noch im Londoner Luftschutzkeller. Kalman Gold war ein Onkel der Mutter, sein Tod ist zur Familienmythologie geworden und läßt das scharfe Bild, das wir von ihm zu sehen glauben, fragwürdig werden. Keine der Personen, die den Roman bevölkern, weder die Erwachsenen, die bald darauf nach England fliehen, noch Wolfy selbst, haben es tatsächlich gesehen, und es zeigt sich, wie in diesen Geschichten aus einer verdrängten Vergangenheit reale Bilder gegen die Vorstellung von ihnen austauschbar werden.

Schon der eindrucksvolle Beginn des Romans macht deutlich, wie umsichtig man ihn lesen muß. Will Halfgo, so heißt es, "tat alles, um zu vergessen", doch wer sich hier erinnert, ist in Wirklichkeit er selbst. Zwar schiebt er einen allwissenden Erzähler vor, aber einmal lüftet er doch seine Identität. Im fünften Kapitel gibt sich Wolfy Helfgott als Ich-Erzähler zu erkennen.

Die "Strudelbäcker" bilden den Titel des Romans, und das Backen der Wiener Spezialität darf als seine Urszene gelten. Das Kind beobachtet, wie ein Ehepaar gemeinsam den Kuchen herstellt. Sie "ist die eigentliche Künstlerin, er ist ihr technischer Leiter und Regisseur. Um Strudel zu machen, braucht es einen leeren Tisch und absolute Konzentration. Kein Radio, kein Geschwätz, keine Unterbrechungen. Nur einen Mann, eine Frau, den Teig und die Füllung": Kunstvoll läßt uns Jagendorf an der Choreographie ihrer Zweisamkeit teilnehmen, an den genau aufeinander abgestimmten Bewegungen des Paars. Nur sind diese Eheleute nicht die Eltern des Kindes. Das ist die Pointe der Szene, und ihr Sinn findet sich in den Ereignissen, die Jagendorf um seinen Brennpunkt der Erinnerung gruppiert. Wolfys Mutter ist an Tuberkulose gestorben, und er wächst bei den Strudelbäckern auf, bei seinem Onkel Mendl, dem Bruder der Mutter, und dessen Frau Rosa.

Als Wolfy seine sterbende Mutter zum letzten Mal sah, lehnte sie "in den riesigen Kissen, die sie aus Wien hatte retten können. Ihr tiefschwarzes, seidiges Haar war streng hinter die Ohren gekämmt, und wenn sie lächelte, versuchte sie, die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen zu verbergen." Es ist ein Goldzahn, der ihr auf der Flucht herausgefallen ist, und die Lücke, die er hinterlassen hat, wird zum geheimen Kontrapunkt der Bäckerszene. Während Mendl und Rosa ihr Meisterwerk schon vollendet, den Strudel schon in den Ofen geschoben haben, läßt Wolfy sich den Goldzahn entwenden, den er zur Erinnerung an seine Mutter aufbewahrt hat. Bernie, der Sohn von Mendl und Rosa, ist in der Pubertät, er will sich mit Mädchen vergnügen und braucht Geld: Lange wehrt sich Wolfy gegen ihn, aber dem Drängen seines Cousins kann er nicht widerstehen.

Diese Erinnerungen an das Leid der frühen Jahre strahlen eine große Wärme aus; zugleich beginnt man zu verstehen, warum Will Halfgo, der Erwachsene, sie am Ende loswerden muß: Sie weisen Lücken auf, die das Gedächtnis nicht zu schließen wagt. Zvi Jagendorf hat England schließlich verlassen, um in Israel ein neues Leben zu beginnen. An der Hebräischen Universität hat er lange als Professor für Anglistik und Theaterwissenschaften gewirkt, und auch ihm ist London fremd geworden. Aber in seinem suchenden Schritt hallt die Erinnerung an Kalman Gold nach, der den Weg noch gekannt hat. Der hervorragende Roman, von Verena von Koskull flüssig übersetzt, wurde 2002 mit dem Wingate Prize ausgezeichnet. Vor Jagendorf war übrigens W. G. Sebald Träger dieses Preises.

Zvi Jagendorf: "Die fabelhaften Strudelbakers". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Verena von Koskull. Aufbau Verlag, Berlin 2004. 221 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Jakob Hessing lobt diesen Roman, der seinen Informationen zufolge von einem Mann erzählt, der als Kind vor den Nazis aus Wien nach England floh und seinen Namen änderte um seine Erinnerungen und seinen Glauben loszuwerden, als hervorragend. Schon der eindrucksvolle Beginn des Romans, der noch im Wien des Jahres 1937 spielt, hat ihm deutlich gemacht, wie umsichtig man das Buch lesen müsse. Der Tod eines orthodoxen Onkels in der Wiener Straßenbahn wird Hessing zufolge zum Urbild für die Vertauschung von realen Bildern gegen Vorstellungen von ihnen, denn das Buch handelt, wie wir lesen, von Erinnerungslücken, die auch das Gedächtnis eines Erwachsenen nicht zu schließen wagt und von der Frage nach der brüchigen Identität jener, die durch die Verfolgung ihre Heimat verloren. Der Rezensent hebt auch die Übersetzung lobend hervor und teilt mit, dass Autor Zvi Jagendorf für sein Buch 2002 mit dem Wingate-Preis ausgezeichnet worden ist.

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