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Wenn es um Gefühle geht lügen sie fast alle: Vera und Vincent, ihre Eltern, ihre Freunde. Manchmal erfinden sie Geschichten, damit man ihnen nicht zu nahe kommt oder sie in Ruhe lässt, meist aber schweigen sie nur - was nicht bedeutet, dass sie nicht reden würden. Katrin Dorns Roman über Liebesentzug und -sehnsucht, über Lügen und Missverständisse, über Sprachlosigkeit und Redeverweigerung ist präzise, traurig und grotesk.

Produktbeschreibung
Wenn es um Gefühle geht lügen sie fast alle: Vera und Vincent, ihre Eltern, ihre Freunde. Manchmal erfinden sie Geschichten, damit man ihnen nicht zu nahe kommt oder sie in Ruhe lässt, meist aber schweigen sie nur - was nicht bedeutet, dass sie nicht reden würden. Katrin Dorns Roman über Liebesentzug und -sehnsucht, über Lügen und Missverständisse, über Sprachlosigkeit und Redeverweigerung ist präzise, traurig und grotesk.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000

Solide Mittellage
Katrin Dorns Roman vom Lügen und vom Schweigen in den Zeiten des Umbruchs
Mann und Frau, Ost und West, Eltern und Kinder, Nähe und Ferne. In ihrem zweiten Roman Lügen und schweigen erzählt die 1963 in Thüringen geborene Katrin Dorn von diesen Gegensatzpaaren und von den Leerstellen dazwischen, die gefüllt werden sollen: mit wahren Empfindungen und glaubwürdigen Geschichten. Das ist nicht einfach, denn die Protagonisten trauen weder sich selbst noch anderen. Ihrer eigenen Geschichte stehen sie wie Autisten gegenüber, mal mit eher naivem, mal mit depressivem Gestus. Was sollen wir hier, was könnten wir wollen, scheinen sie unablässig vor sich hin zu murmeln.
Berlin im Jahr 1992: Vera ist froh, nicht mehr als Buchhalterin im volkseigenen Betrieb arbeiten zu müssen. Statt dessen bindet sie Blumen „und sagt oft Dinge, die nicht gesagt werden müssten”. Ihr Freund Vincent aus dem Westen, mit dem sie in einer Wohnung lebt, studiert Psychologie und muss im Privatleben „manchmal seiner Aufmerksamkeit eine Pause gönnen”. Die beiden haben sich nichts zu sagen, das aber mit vielen Worten. Obwohl er Wohnung und Beziehung zur „therapiefreien Zone” erklärt hat, kann Vincent seine Freundin nur durch die Brille des Psychologen sehen. Vera wehrt sich, indem sie Lügen produziert, die aber auf verquere Weise die Wahrheit sprechen.
Ihre Eltern hat sie kurzerhand für tot erklärt, und tatsächlich haben die beiden seit den Kindheitstagen für sie emotional nicht existiert. Doch dann wird Vera nach Jahren des Schweigens von der Mutter zurückgerufen: Der Vater liegt im Sterben. Und so kehrt sie widerstrebend an den Ort zurück, wo ihre Fühl- und Sprachlosigkeit entstanden sind, jene Leere, die sie mit biografischen Lügen notdürftig zu füllen versucht hat. Sie gerät in die wohlbekannte kleinbürgerliche Hölle, in der kein Feuer brennt, sondern vielmehr die Kälte regiert. Es wird wenig und dann nur in Floskeln gesprochen, Berührungen jeder Art sind verboten. Auch hier: Lügen und schweigen.
Die Tochter schaut auf den kläglich dem Tod entgegen siechenden Vater, der nach einer Hirntumor-Operation blind geworden ist. Stark war er einst, und Träume hat er gehabt, in den Westen wollte er – und musste bleiben, weil es plötzlich eine schwangere Frau gab, die geheiratet werden wollte. Und dann stand die Mauer, und der Traum von der Auswanderung nach Amerika war ausgeträumt. Schweigen für die nächsten Jahrzehnte, dumpfes Stieren auf den Fernsehschirm, wo das Programm aus dem Westen lief – und ab und zu ein kleiner Amoklauf. Dann zerschlug der schweigsame Hüne in hilfloser Wut das Geschirr.
Eingeschlossen in der DDR, eingeschlossen im eigenen Unglück, geschlagen mit Stummheit und ratlos in der neuen Freiheit, das sind Katrin Dorns Protagonisten. Und einen Ausweg finden sie nicht. Alle leben in einer Zone des Unglücks und des Nicht-Verstehen-Könnens-und-Wollens. Als Vera nach dem Tod des Vaters zu Vincent zurückkehrt, drehen sich die beiden missmutig umeinander. Ein bisschen Betrug, ein bisschen Gleichgültigkeit, ein bisschen schlechte Laune begleiten ihre Tage. Und da ihnen Leidenschaft und Wut fremd sind, taumeln sie schließlich in eine freudlose Zweisamkeit, die der ihrer Eltern, so muss man befürchten, sehr ähnlich sein wird.
Katrin Dorn hat ihren Roman an einer Zeitenwende angesiedelt. Alte Übereinkünfte und Tabus gelten nicht mehr, etwas Neues beginnt. Solche historischen Momente produzieren nicht Klarheit, sondern ein Klima der Verunsicherung. Aber vom Schwanken der Verhältnisse spürt man in diesem Roman nur wenig. Natürlich gibt’s Lokalkolorit: Es wird die Brache gezeigt, wo einst die Mauer gestanden hat, ab und zu fährt eine U-Bahn durchs Bild, am wilden Leben der freien Szene wird ein bisschen geschnuppert. Alles in allem aber bleibt Berlin, die offene Stadt, ein seltsam blasser Ort.
Dass hier Gegensätze aufeinander prallen, wird nur behauptet, nicht erzählerisch beglaubigt. Vera und Vincent mitsamt ihren Eltern kommen über den Status von Demonstrationsfiguren nicht hinaus. Sie bleiben in einer soliden Mittellage: Zu bieder sind ihre Dialoge, zu brav bewegen sie sich, zu selten überraschen sie uns. Eine eigene Sprache finden sie nicht. Und so lässt es uns ziemlich gleichgültig, wenn Vincent zum Schluss auf einen Blumenstrauß schaut und das Resümee zieht: „Wenn die Blumen zu welken beginnen, sind sie am schönsten, glaube ich. ”
CLAUS-ULRICH BIELEFELD
KATRIN DORN: Lügen und schweigen. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 208 Seiten, 32 Mark.
Katrin Dorn
Foto: Schleyer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2000

Der Seele steht das Dirndl nicht
Hinter Preßglas: Katrin Dorns Roman "Lügen und schweigen"

Die Berliner Autorin Katrin Dorn, 1963 in Thüringen geboren, hat Psychologie studiert, und ihr Debüt "Der Hunger der Kellnerin", eine Studie über Bulimie, war schwer psychologielastig. Zu anderer Zeit wäre sie dafür weniger kritisiert worden. Im Jahre 1997 aber wurden Worte wie "Erinnerungsarbeit" oder "Selbstanalyse" von den Rezensenten meist ironisch verwendet. Auch der Titel des neuen Romans, "Lügen und schweigen", scheint abgestimmt auf das therapeutische Milieu. Vertikal und horizontal wird in diesem Buch, das zwei Jahre nach der Wende spielt, viel Konfliktmaterial entfaltet: In die Tiefe der Kindheit weist das Vater-Problem der dreißigjährigen, aus einem ostdeutschen Dorf stammenden Hauptfigur Vera, in die Breite geht die Beziehungskrise, die sie mit ihrem Partner Vincent in Berlin bestreitet, in der gemeinsamen Wohnung wie in den zum Streiten gut geeigneten U-Bahnen.

Vincent kommt aus einem wohlsituierten West-Elternhaus, das im Süddeutschen vermutet werden darf, denn er ist designierter Juniorchef einer prosperierenden Dirndl-Fabrik. Vorerst aber sitzt er noch an seiner Abschlußarbeit im Fach Psychologie. Vincent wurde von der Autorin offenbar erfunden, auf daß er alle kritischen Vorbehalte gegen das landläufige Psychologisieren wie ein Blitzableiter auf sich ziehe und drumherum die therapeutische Konstruktion des Vaterromans unbeschädigt bleibe. Vincent spricht Psychodeutsch, die Selbsterfahrungsgruppe hat ihm den letzten Rest Natürlichkeit ausgetrieben, er ist das auf leisen Sohlen wandelnde Verständnis. Er will niemanden "bedrängen" und bekennt selbstkritisch die eine oder andere Schwäche: "Da muß ich noch an mir arbeiten." Als sich Veras unbewältigte Kindheit zurückmeldet, hält er seine Diagnose nicht zurück: "Ich denke, du versuchst etwas zu verdrängen."

Auch wenn die Psycho-Floskeln in Vincents Mund ein bißchen lächerlich gemacht werden - ganz falsch soll er nach dem Willen der Autorin nicht liegen. Das Sterben des Vaters führt Vera, die mehr zum Fühlen als zum Analysieren neigende Blumenverkäuferin, zurück in die Kindheit. Der Berliner Handlungsstrang wird unterbrochen durch eine Reise in die Provinz, ans Krankenhausbett, in die nach Dosensuppe riechende Wohnung der Mutter am Dorfrand, in die lange versperrten Schubfächer der Erinnerung. Veras Jugend war überschattet von der Verbitterung des wortkargen und abweisenden Vaters, der als junger Mann nur ein Ziel kannte. "Er wollte wie Elvis Presley aussehen und hatte es darin ziemlich weit gebracht." Einen Sohn zeugen, ihn Elvis nennen und ihm später in Texas das Reiten beibringen: das war der Lebensplan des Rock 'n' Rollers, der durch den Mauerbau zerstört wurde. Statt dessen DDR lebenslänglich. Statt dessen Vera, ein Mädchen, das vergeblich um Liebe bittet, unter Anfällen von Todesangst leidet, den Lieblingsterrier des Vaters aus dem Fenster wirft (zweiter Stock). Als Waldarbeiter zog sich der Mann zurück in die thüringischen Forste und verbreitete nach Feierabend schlechte Laune; die Mutter wurde immer dicker; Vera sieht auf alten Fotos eine schlanke Frau im Tanzkleid, die irgendwann "im Körper der Mutter verschwunden war". Diese bedrückenden und völlig farblosen DDR-Verhältnisse werden bis hin zum geriffelten Preßglas in der Tür zum Schlafzimmer der Eltern sehr genau beschrieben.

Den Berliner Szenen, zu denen das Buch im folgenden zurückkehrt, fehlt diese Dichte. Da wird vor allem geredet. Die Dialoge neigen mitunter zum Hölzernen. Vera entzieht sich Vincents therapeutischem Zugriff, indem sie Geschichten über den Vater als politischen Widerständler erfindet. Vincent läuft zwischendurch fort von allen Problemen, der Examensarbeit zuliebe. Die allein gelassene Vera hat eine Affäre mit einem naturgemäß sehr eitlen Schauspieler, und immer steht das Vaterdrama im Hintergrund. Für einen Besuch von Vincents Eltern rauft sich das Paar wieder zusammen. Heile Welt bei warmem Apfelstrudel, die neue Dirndl-Kollektion hat sogar im fernen Japan Erfolg. Aber Vincent probt den Aufstand: Er will die Dirndl-Fabrik nicht übernehmen. Statt dessen wird er wohl Therapeut werden. Vergeblich versucht Vera am Ende, ihm die Affäre mit dem Schauspieler zu beichten. Vincent versteht ihre Andeutungen nicht. Sie müssen nicht alles voneinander wissen, tröstet sich Vera. Nicht alles Verschwiegene ist schon eine Lüge.

Katrin Dorn hat keinen großen Roman geschrieben, aber ein besseres Buch als das erste. Vor allem ihr Stil ist präziser und schlichter geworden. Die gespreizten Wendungen, die den Erstling wie eine Übung in kreativem Schreiben erscheinen ließen, findet man nur noch selten, etwa wenn die Gespräche der Eltern "unhörbar in den Tapeten wispern". Diese Autorin präsentiert sich nicht als urbane Diva und fatale Damenseele, sie will weder mit Neu-Berliner Schick noch mit schwarzer Romantik aus den schäbigen Hinterhöfen beeindrucken. Der Schauplatz Berlin vermittelt hier nicht mehr Weltgefühl als Gießen oder Bielefeld, und Dorns Figuren sind derart glanzlos, daß sie manche Leser nicht interessieren werden. Aber diese Beschränkung auf das Leben in seiner Durchschnittlichkeit muß einen Roman nicht durchschnittlich machen. Mit einer Prise flaubertscher Ironie anstelle der therapeutischen Beflissenheit könnte daraus beachtliche Literatur werden.

WOLFGANG SCHNEIDER.

Katrin Dorn: "Lügen und schweigen". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 208 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Wolfgang Schneider ist zwar nicht sehr überzeugt von diesem Roman, bescheinigt ihm aber zumindest Potential. Im Gegensatz zum ersten Roman der Autorin sei hier die Sprache "weniger gespreizt", auch wenn es hin und wieder zu Manieriertheiten komme. Während die Szenen, die in Berlin spielen und die die Beziehungsgeschichte zwischen Vera und Vincent zum Inhalt haben, wenig "Dichte" haben, so Schneider, ist die Schilderungen der DDR-Vergangenheit bedrückend und eindrucksvoll. Die Autorin habe keinen "großen Roman" geschrieben, aber er sei zumindest besser als der erste. Zuletzt rät der Rezensent, doch eher "flaubertsche Ironie" statt "therapeutische Beflissenheit" in ihren Texten einzusetzen, dann könnte vielleicht "beachtliche Literatur" daraus werden.

© Perlentaucher Medien GmbH"