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Produktdetails
  • Verlag: Dietz, Berlin
  • 2000.
  • Seitenzahl: 736
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 1132g
  • ISBN-13: 9783320019761
  • ISBN-10: 3320019767
  • Artikelnr.: 08265626
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2000

Dem Klassenfeind die höchste Strafe aufbrummen
Erich Mielkes verschlungener und oft retuschierter Lebensweg

Wilfriede Otto: Erich Mielke. Karl Dietz Verlag, Berlin 2000. 736 Seiten, Abbildungen, CD-Rom mit Ausschnitten aus Reden, 48,- Mark.

Im Zuge des Aufbaus eines Polizeiwesens in der Sowjetischen Besatzungszone gab Erich Mielke im September 1948 jungen Polizisten Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg, wie Polizeikräfte im Sozialismus vorzugehen hätten. Er machte dies mit folgendem Beispiel deutlich: Zwei Autofahrer werden wegen Überschreitung von Verkehrsvorschriften in Gewahrsam genommen. "Bei dem einen Menschen handelt es sich um einen verdienten Arbeiter oder Arbeiterfunktionär, und der andere Mensch ist uns als Erzreaktionär bekannt. Es wäre idiotisch und zeugt von keinem demokratischen Bewusstsein, wenn wir beide Fälle demokratisch ,gleich' behandeln wollten. Es ist klar, dass wir bei dem einen Arbeiter mit ein paar freundschaftlichen Worten die Angelegenheit erledigen und dem anderen, Feind der demokratischen Entwicklung, das höchstmögliche Strafmaß aufbrummen."

So war Mielke, so dachte und vor allem handelte er in einer unerschütterlichen, niemals durch Zweifel oder gar Selbstzweifel erschütterten Konsequenz bis zur Wende 1989 und bis zu seinem Tod am 22. Mai dieses Jahres im Alter von 92 Jahren. Wie konnte er zu jenem "Mörder im Hintergrund" (Friedrich Schorlemmer) werden?

Fast zeitgleich mit seinem Tod ist aus der Feder einer früheren Mitarbeiterin des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Wilfriede Otto, die bisher umfangreichste Biographie über den langjährigen Chef des MfS erschienen. Nicht nur aus Mielkes Lebensweg selbst, sondern auch aus dem Umstand, wie eine Autorin, die den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht hat, damit umgeht, erwächst ein besonderes Interesse an diesem Buch.

Festzuhalten ist zunächst, dass Frau Otto eine immense Archiv- und Quellenrecherche durchgeführt hat, die Respekt abverlangt. Dokumente aus russischen Archiven konnte sie aber nur partiell einsehen, trotz der Fürsprache von Lothar Bisky, dem zu Mielke postum nicht mehr als die Bezeichnung "tragische Figur" eingefallen ist. Die Auffindung neuer Dokumente, von denen 65 allein im Anhang abgedruckt werden, bringt manches Licht in einen verschlungenen Lebenspfad, der nicht zuletzt von Mielke selbst immer wieder sorgfältig retuschiert worden ist. Das erschwert selbstverständlich das Handwerk des Biographen, denn einzelne Lebensabschnitte sind kaum oder nur lückenhaft rekonstruierbar. Aus der Tugend sorgfältiger Recherche resultiert jedoch eine Untugend: Durch die langatmige Abwägung von Ursachen und Hintergründen gerät die Person Mielkes selbst häufig aus dem Blickwinkel. Stellenweise fragt man sich, wo Mielke eigentlich abgeblieben ist angesichts der ermüdenden Abhandlung von ideologischen Konflikten und Positionskämpfen in der kommunistischen Bewegung etwa in den dreißiger Jahren.

Insofern bleibt der zunächst durchaus typische Lebensweg eines Berliner Arbeiterkindes aus dem "roten Wedding" zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik vergleichsweise blass. Mielkes politische Sozialisation wird früh von den Eltern geprägt, die beide Mitglieder der KPD sind. Dadurch findet er noch als Jugendlicher zum Kommunismus und wird ihm bis zum Lebensende in "jesuitischer Glaubenstreue" anhängen. Nicht zuletzt diese Unbedingtheit ist es, die ihn zum Mittäter bei der Ermordung zweier Polizisten auf dem Bülow-Platz im Jahre 1931 werden lässt; dieses Ereignis, zusammen mit dem 1934 folgenden Prozess, wird ihn allerdings bis zu seinem Lebensende verfolgen, wie sehr er auch darum bemüht war, seine Mittäterschaft auszulöschen. Erst aufgrund einer Untersuchung seines Hauses in Wandlitz am 23. Februar 1990, bei der man diesbezügliches, von ihm verstecktes Aktenmaterial fand, konnte seine Mitbeteiligung mit insgesamt sechs Jahren Freiheitsentzug bestraft werden, von denen er wenigstens vier verbüßte. Ein Prozess wegen seiner vielen Untaten in der DDR musste allerdings nur wenige Wochen nach seiner Eröffnung im September 1994 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt werden - bis heute eine schwärende Wunde bei allen Opfern des MfS und jenen Oppositionellen im früheren SED-Staat, die unter dem von ihm nachgerade absolutistisch geführten "Organ" gelitten haben.

Mielkes Flucht nach dem Attentat 1931 in die Sowjetunion, zusammen mit dem Mittäter Erich Ziemer, seine weitere Ausbildung dort als kommunistischer Jungkader in revolutionärer Partisanentätigkeit, Nachrichtenwesen und Waffentechnik führen ihn schließlich an die Lenin-Schule, die "école supérieure" der Komintern. Noch wichtiger ist aber, dass er in dieser Zeit die furchtbaren Säuberungswellen Stalins erlebt und überlebt, was ihn freilich nur noch unbedingter werden lässt. Es folgt die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg, wobei ungeklärt bleibt, ob Mielke im Auftrag des NKWD dorthin entsendet worden ist. Als gesichert kann gelten, dass er weniger an der Front gekämpft als hinter den Linien einen Geheimdienstapparat aufgebaut hat; er verhörte "Trotzkisten" und "Anarchisten", die dann dem NKWD übergeben wurden. Nach dem Sieg Francos hält sich Mielke, angeblich auf Weisung des ZK der KPD, in Belgien und Frankreich auf, bevor er dann, nach der Rückkehr nach Deutschland, in der Sowjetischen Besatzungszone den "unaufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui" nimmt. Aufgrund eigener Angaben frühzeitig als Opfer des Faschismus anerkannt, ist er bereits im Juli 1945 Leiter einer Berliner Polizeiinspektion; doch zum eigentlichen Sprung an die Macht verhilft ihm die sowjetische Besatzungsmacht selbst: Mielke wird nur ein Jahr später 2. Vizepräsident der neu geschaffenen Deutschen Verwaltung des Inneren in der SBZ, der praktisch alle Polizeien unterstehen. Er ist maßgeblich am Aufbau der Politischen Polizei K 5 beteiligt, aus der Anfang 1950 das MfS hervorgeht. Diese Funktion bringt ihn zunehmend mit den Spitzen der SED und SMAD zusammen, was zu weiteren Sprüngen auf der Karriereleiter verhilft: Der "Generalinspekteur und Chef der Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft" Erich Mielke wird 1950 Staatssekretär im MfS und zugleich Mitglied des ZK der SED, 1957 Minister (bis 1989), schließlich 1971 Kandidat und ab 1976 Mitglied des Politbüros.

Mit der Gründung der Stasi Anfang 1950 gerät die Darstellung seines Lebens immer mehr zu einer Geschichte des MfS selbst, des VEB Mielke. Diese "Behördengeschichte" enthält durchaus neue Aspekte, zumal dessen Rolle im Verlauf der vielen Ereignisse zwischen 17. Juni 1953 und Honeckers Ablösung im Herbst 1989 ausführlich beschrieben wird. Obwohl die Autorin Arbeit und Funktionsweise des MfS durchaus kritisch beleuchtet und darüber eindeutige Urteile fällt, blitzt bisweilen doch ein fragwürdiges Verständnis von "Horch und Guck" auf, wenn ihm etwa der Charakter eines "Rechtspflegeorgans" zugestanden wird. Stärker noch gilt das für passagenweise Formulierungen, die unkritisch aus dem damaligen Sprachgebrauch der SED beziehungsweise des MfS übernommen werden. Auch ist auffällig, dass den als Verrätern gebrandmarkten kommunistischen Opfern der Stasi und DDR-Justiz vergleichsweise viel Raum gewidmet wird, wenig aber den zahlreichen DDR-Bürgern selbst, die oftmals aus nichtigstem Anlass zu deren Opfern wurden.

Möglicherweise ist eine Biographie Mielkes noch gar nicht zu schreiben, weil es nach wie vor an fundiertem Quellenmaterial fehlt. Wilfriede Ottos Versuch ist zweifellos ein gewichtiger erster Schritt dazu. Gleichwohl bleibt die Figur zu schemenhaft.

GÜNTHER HEYDEMANN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine Biografie des langjährigen Chefs des MfS so kurz nach seinem Tod muss Interesse hervorrufen, schreibt Günther Heydemann. Die Autorin, die in der DDR gelebt habe und und zudem früher Mitarbeiterin des Instituts für Marxismus-Leninismus war, sei mit äußerst gründlichem Archiv- und Quellenstudium vorgegangen, um das von Mielke selbst immer wieder geschönte Lebensbild aufzuklären. Ihre Sorgfältigkeit führt jedoch häufig zu "ermüdenden" Abhandlungen, in denen Mielke als Person verschwindet, klagt Heydemann. Und ihm ist auch aufgefallen, dass die Autorin den vielen Normalbürgern der DDR, die Opfer der Stasi wurden, nur wenig Raum gewidmet hat. Insgesamt bleibt die Figur des Erich Mielke dem Rezensenten hier zu "schemenhaft". Dennoch bezeichnet er diese Studie als "gewichtigen ersten Schritt" in der Biografienschreibung zu Mielke.

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