Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 1,95 €
  • Broschiertes Buch

Neben die ältere Generation der kritisch-patriotischen Dichter der Nach-68er stellte sich in den 90er Jahren eine junge Garde von Schweizer Autoren. Ihr literarisches Herz schlägt für die Großstadt, für Liebe und Partnerstress. Pia Reinacher verfolgt die Fährten der helvetischen Schriftsteller am Ende des 20. Jahrhunderts und zeichnet eine Karte der heutigen Schweizer Literatur. Früher haben sich die Autoren noch mit der Schweiz gestritten. Die Generation der 68er schrieb die politische Auseinandersetzung auf ihr Banner, der Vaterlands-Diskurs gehörte zwingend zum Repertoire. Angeführt vom…mehr

Produktbeschreibung
Neben die ältere Generation der kritisch-patriotischen Dichter der Nach-68er stellte sich in den 90er Jahren eine junge Garde von Schweizer Autoren. Ihr literarisches Herz schlägt für die Großstadt, für Liebe und Partnerstress. Pia Reinacher verfolgt die Fährten der helvetischen Schriftsteller am Ende des 20. Jahrhunderts und zeichnet eine Karte der heutigen Schweizer Literatur. Früher haben sich die Autoren noch mit der Schweiz gestritten. Die Generation der 68er schrieb die politische Auseinandersetzung auf ihr Banner, der Vaterlands-Diskurs gehörte zwingend zum Repertoire. Angeführt vom kämpferischen Niklaus Meienberg lebt die Generation der heute 60- und 70jährigen - Adolf Muschg, Peter Bichsel, Jörg Steiner, Paul Nizon - in einer stürmischen Hassliebe zum Vaterland. Während etwa Thomas Hürlimann als Vertreter der mittleren Generation noch mit archaischer Gewalt die Väter vom Sockel stürzt, wenden sich die jüngeren Schriftsteller gelassen von den Vätern ab und gehen freundlich eigene Wege - Zoë Jenny, Peter Weber, Ruth Schweikert, Peter Stamm, Aglaja Veteranyi und Silvio Huonder erkunden neue Welten oder wenden sich zurück auf das, was ihnen am nächsten liegt: das eigene Leben. Neben die ältere Generation der kritisch-patriotischen Dichter der Nach-68er stellte sich in den 90er Jahren eine junge Garde von Schweizer Autoren. Ihr literarisches Herz schlägt für die Großstadt, für Liebe und Partnerstress. Pia Reinacher verfolgt die Fährten der helvetischen Schriftsteller am Ende des 20. Jahrhunderts und zeichnet eine Karte der heutigen Schweizer Literatur.
"Vor zwanzig Jahren wollte ich die Gebäude, die ich bewohnte, einreißen. Ich hatte die Möglichkeit, dies zu tun. Das halte ich auch heute noch für etwas sehr Wichtiges, Schönes. Denn es wird immer schwieriger, zu opponieren. Es gibt die Gebäude gar nicht mehr, die man einreißen kann. Das erfährt auch die Literatur." Thomas Hürlimann
Autorenporträt
Pia Reinacher: Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Zürich und Poitiers. Literaturchefin des Zürcher Tagesanzeigers von 1992 - 2000. Seitdem freie Kritikerin bei der FAZ, Dozentin für Kritik und Kulturelle Medienarbeit am Advanced Study Centre der Universität Basel. Mitglied zahlreicher Literaturjury, u.a. des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und des Deutschen Buchpreises.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2003

Warum die Schweiz ohne junge Schweizer Literatur auskommen muß
Sie sind für Liebe, Sex und Partnerstreß, aber vor allem sind sie für sich selbst: Helvetias Schriftsteller nach dem Generationswechsel / Von Pia Reinacher

Die patriotische Hymne ist verklungen, das Kampflied gegen die helvetische Enge nur noch von fern zu hören. Die Generation der Schweizer Autoren, die sich im Nachgang der Achtundsechziger-Bewegung gegen den Käfig Schweiz stemmte und sich in ihren Büchern gleichzeitig in die Heimat verkrallte, ist nicht nur älter, sondern auch ruhiger geworden. Einige haben sich ganz aus der literarischen Öffentlichkeit zurückgezogen, andere sind ermattet oder verschwunden - oder recyceln nur noch die in heroischen Zeiten einmal so schön entdeckten literarischen Muster.

Über viele Jahre hatten Autoren wie Peter Bichsel, Jörg Steiner, Niklaus Meienberg, Adolf Muschg, Franz Hohler, Otto Marchi, Paul Nizon, Otto F. Walter, Rolf Niederhauser, Walter Matthias Diggelmann, Werner Schmidli, Urs Jäggi, Reto Hänny, Kurt Marti oder Hugo Loetscher eine schweizerische Literatur geprägt, die sich die politische Auseinandersetzung aufs Banner schrieb. Der Vaterlandsdiskurs gehörte zwingend zu ihrem literarischen Repertoire, die Haßliebe zur Heimat war eine zentrale Triebkraft ihres Schreibens.

Die Verflechtung von Politik und Literatur war für diese Autoren eine Selbstverständlichkeit. Die literarische Auseinandersetzung mit der Schweiz gehörte zum festen Repertoire - wenn auch die Debatten nie so heftig und unnachgiebig geführt wurden wie etwa in Deutschland. Doch dann begann die Bastion der "littérature engagée" definitiv zu bröckeln. Eine junge, anders sozialisierte Generation hatte sich Ende der achtziger Jahre ins Blickfeld der literarischen Öffentlichkeit gerückt. Sie scherte sich weder um die Heimat noch um das Schweizerkreuz; schon gar nicht war sie an der Aufrechterhaltung einer literarischen Schweizer Identität interessiert. Sie legte sich eine neue, europäische Identität zu.

1970 hatte Paul Nizon in einer hyperbolischen Pirouette die helvetische Befindlichkeit beschrieben und damit wütende Widerstände ausgelöst: "Zu den Grundbedingungen des Schweizer Künstlers gehört die ,Enge' und was sie bewirkt - die Flucht", schrieb Nizon in seinem Aufsatz "Diskurs in der Enge". Es sei nicht schlechthin der Kleinstaat, der solche Atemnot bedinge, sondern es sei "eine spezifische, eine wahrhaft sonderfall-mäßige Enge, die hierzulande den Künstler aus dem Lande oder in die voreilige Vergeistigung treibt".

Diese neue Offenheit ist inzwischen eingetreten - in einer radikaleren Form, als es Paul Nizon reklamiert hatte. Zuerst kaum wahrnehmbar, dann immer selbstbewußter hat sich in den letzten Jahren eine jüngere Generation von Schriftstellern zuerst neben, dann vor die großen Exponenten der Schweizer Literatur geschoben. Thema dieser jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren ist nicht mehr die Schweiz. Das literarische Herz dieser Generation schlägt weder für noch gegen das Vaterland, sondern vielmehr für die eigene Biographie, für Liebe, Sex und Partnerstreß. Zoë Jenny, Peter Weber, Ruth Schweikert, Perikles Monioudis, Aglaja Veteranyi, Peter Stamm, Raphael Urweider oder Silvio Huonder wenden sich gelassen von den Vätern ab und gehen eigene Wege. Die Schweiz interessiert sie höchstens noch als Herkunftsort.

Der Umbruch kam in zwei Wellen. Angeschoben wurde er Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger von den heute rund fünfzigjährigen Schweizer Autoren, die sich um diese Zeit im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit etablierten. Der Paradigmenwechsel zeigte sich nicht als Revolution, auch nicht als Paukenschlag, sondern als schleichende Erosion. Die alten Positionen der politischen Autoren wurden vom neuen Schreiben umzingelt und schließlich ohne viel Aufhebens überdeckt. Literatur stand für diese Generation nicht mehr primär im Dienst der politischen Parolen. Fiktion war plötzlich ebenso wichtig wie Fakten, Zeitgenossenschaft möglich, aber nicht dringlich, Phantasie erwünscht, ideologische Vorgaben wurden grundsätzlich als Einschränkung wahrgenommen. Der politische Diskurs war nicht mehr zwingend, um in die Gemeinschaft der Schweizer Autoren aufgenommen zu werden.

Dieser Kurswechsel vollzog sich innerhalb weniger Jahre. Die jüngere Generation holte nicht zum Vatermord aus. Ihre Methode war deshalb aber nicht weniger wirkungsvoll: Sie freundete sich mit ihren Vorbildern an und unterhielt zu ihnen höfliche Beziehungen. Das änderte nichts daran, daß sie in der Sache entschieden andere Wege ging. Schriftsteller wie Hansjörg Schertenleib, Martin R. Dean, Kurt Aebli, Klaus Merz, Fleur Jaeggy, Melitta Breznik, Matthias Zschokke, Silvio Huonder, Zsuzsanna Gahse, Christina Viragh, Kristin T. Schnider oder Nicole Müller stellten die eigene Biographie ins Zentrum ihres Schreibens. Ein Sonderfall ist Thomas Hürlimann. Als politischer Autor, der sich in seiner Prosa und seinen Theaterstücken heftig mit der Schweiz auseinandersetzt, führt er zwar die Tradition der Zeitgenossenschaft weiter. Sein hoher Anspruch an die Literarizität der Texte setzt allerdings eine klare Grenze zu Büchern, in denen das Dokumentarische, nur Authentische vorherrscht. Er erweist sich als Spieler zwischen allen Fronten.

Die zweite energische Emanzipationsbewegung folgt Mitte der Neunziger und setzt mit den Wortmeldungen der "jungen Literatur" ein. Plötzlich ist der nationale Diskurs nur noch leere Hülse, das explizit Politische in der Literatur findet höchstens als gelegentliche Verirrung statt. Am Zug sind jetzt jene Autoren, die in den sechziger und siebziger Jahren geboren und sozialisiert wurden - Peter Weber, Perikles Monioudis, Ruth Schweikert, Tim Krohn, Urs Richle, Milena Moser, Jan Lurvink oder Aglaja Veteranyi. Ihre literarische Identität ist nicht mehr mit jener der Väter zu vergleichen. Sie verhalten sich nicht nur in bezug auf die Schweiz, sondern auch in bezug auf ihre Themen grundlegend anders.

Wo die Achtundsechziger ihr intellektuelles Bezugsfeld noch bei Marcuse, W. Adorno, Habermas, bei Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Alexander Mitscherlich fanden, ist der schreibende Nachwuchs mit Satellitenfernsehen, PCs, Internet, E-Mail und Handys vertraut. Es sind die Kinder der Überfluß- und Globalisierungsgesellschaft, der Medien- und Informationsgesellschaft, der Party- und Fungesellschaft, die jetzt das Spielfeld betreten. Schreiben ist für sie eine Ausdrucksmöglichkeit unter anderen. Individualität, Flexibilität und Simultaneität prägen diese Jugendkultur. Sie definiert sich über Marken, Moden, Szenen und Stile. Mobilität ist eine Selbstverständlichkeit. Diese Einflüsse bestimmen nachhaltig auch die Literatur, ihre Wahrnehmung, ihren Stellenwert und ihre Themen - von der Form über den Inhalt bis zum Marketing des Buchs, ja sogar bis hin zur professionellen Lancierung des Egoprodukts: PR für den Autor.

Die Literatur wird im Strudel der Modeströmungen mitgerissen. In der Schweiz werden diese neuen Trends allerdings langsamer entwickelt als anderswo; die Auswirkungen der Jugendkultur zeigen sich in den Werken der Jüngsten eher vereinzelt. Eine "Generation Golf" im Stil von Florian Illies, ein "Faserland" wie bei Christian Kracht oder das "Soloalbum" eines Benjamin von Stuckrad-Barre ist das nicht. Und doch spiegelt sich die neue Befindlichkeit auch hier. Sie äußert sich in einer Lust am Experiment, aber noch häufiger in einer Rückwendung ins Private. Nationale Definitionen oder ideologische Ideen spielen in dieser Literatur kaum mehr eine Rolle, dafür gibt es Bücher, die von einer fast autistischen Weltsicht geprägt sind. Das erzählende Ich der jüngsten Literatur rollt sich gern kokonartig in die individuelle kleine Welt ein oder nickt den eigenen hübschen Spiegelbildern wohlgefällig zu.

Die Beschränkung auf die eigene Biographie ist allerdings vielschichtig. Einerseits ist sie eine Art Abwehrreaktion auf die permanente Informationsüberflutung. Wer im Meer der Bilder und Zeichen unterzugehen droht, hält sich an die eigene kleine, überschaubare Insel. Dazu kommt, daß diese jüngste Generation wie keine zuvor von Anfang an lernen mußte, dem Erfahrungswert der Medienwirklichkeit zu mißtrauen. Wo sich die Grenzen zwischen Trugbild und Gewißheit aber dauernd zu verflüchtigen drohen, wird es überlebenswichtig, nicht den Kopf zu verlieren.

Eine mögliche Reaktion auf ständige Überforderung ist die Verweigerung. Man hält sich an das, was man kennt, an das private Universum. In dieser Miniaturwelt ist alles benennbar und erklärbar, sind die Beurteilungskriterien einigermaßen verläßlich. Auffällig ist denn auch, wie oft Jungautoren in ihrem Erstling die eigene Familiengeschichte ausbeuten. Dieser Hang kann sich aber an einem gewissen Entwicklungspunkt als Nachteil entpuppen: Spätestens mit dem zweiten Roman müssen neue Stoffe erschlossen, Phantasien aktiviert werden. Wo jetzt die älteren Autoren auf das angelesene Bildungsfrachtgut zurückgreifen, sich schwerelos im Feld der literarischen Tradition bewegen und mit Hilfe bekannter Muster eigene Stoffe weiterentwickeln, kommen die jungen Autoren schnell an ihre Grenzen, stranden im Beliebigen oder repetieren das immer gleiche.

Als eine Mischung aus Verweigerung und Übersättigung ließe sich auch die fehlende Politisierung dieser jüngsten Literatur deuten. Die Autoren der Achtundsechziger-Generation waren noch als nationale Vordenker gefragt. An sie hielt man sich in der Stunde der Not, sie wurden als Weltexegeten in krisenhaften Zeiten angerufen. Damit ist es heute vorbei. Die junge Generation ist mit dieser Berieselung durch permanentes Politgeplapper sozialisiert worden; sie kennt das schnelle Versickern des künstlich erzeugten Getöses und findet darin höchstens Stoff für einen satirischen Hintergrund, vor dem der Held die Etappen der Autobiographie durchläuft.

Konstitutives Prinzip der "jungen Literatur" ist die Disparatheit; Landesgrenzen spielen keine Rolle mehr. Das Schweizerische hinterläßt immer geringere Spuren im Text. Autorinnen wie Ruth Schweikert, Milena Moser oder Nicole Müller wenden sich wie früher schon Helen Meier, Erica Pedretti, Laure Wyss oder Silja Walter gern dem Frauenleben und den Möglichkeiten weiblicher Identität zu, aber radikaler, schonungsloser als ihre Vorgängerinnen.

Ihre Flexibilität und Mobilität führt zur Ortlosigkeit der Texte. Kaum haben Schriftsteller dieser Generation ihr erstes Buch publiziert, treten sie eine internationale Odyssee mit Stationen von Schreibwerkstätten, Lesetourneen und Stipendienaufenthalten an. Einige Schweizer Autoren bleiben für längere Zeit im Ausland oder kehren gar nicht mehr zurück. Die Bücher, die sie schreiben, lassen sich treffend als globalisiert bezeichnen, wobei sie - als hübscher Gegensatz dazu - gern in privaten Kleinuniversen spielen.

Risse auf dem Klassenfoto der Schweizer Autoren zeigen sich auch an anderer Stelle. Die Solothurner Literaturtage, die in diesem Jahr schon zum 25. Mal stattfanden, waren ein Kind der Achtundsechziger. Autoren wie Peter Bichsel, Rolf Niederhauser, Otto F. Walter, Adolf Muschg oder Jörg Steiner gehörten jahrelang zum festen Inventar. Eine erste Krise ereilte die Solothurner Literaturtage 1991, zwei Jahre nach dem Fall der Mauer. Das Rotieren um den eigenen helvetischen Nabel erwies sich plötzlich als Beschränkung, der Ausschluß ausländischer Autoren war nach der Wende, im Umfeld der Diskussionen um einen Europa-Beitritt obsolet geworden. In der Solothurner Kommandozentrale zog man die richtigen Schlüsse und öffnete das Literaturtreffen nun auch für Autoren aus anderen Ländern. Die Schweizer Grenze wurde mit einem Sprung überwunden, die auch in den Texten spürbar gewordene Enge erfolgreich gesprengt.

Heimlich haben sich seit einigen Jahren jedoch die Kulissen verschoben, die Solothurner Bühne hat Konkurrenz bekommen: Leukerbad. Immer größer ist die Prozession der Autoren und Literaturfreunde, die es immer Anfang Juli ins Wallis zieht - ein symptomatischer Indikator für den Stil- und Generationswechsel innerhalb der Schweizer Literatur. 1996 hatten der Verleger Ricco Bilger und der PR-Berater René Grüninger den neuen Szenetreff im Bäderdorf in den Walliser Bergen ins Leben gerufen. Während in Solothurn immer noch der Geist didaktischer Belehrung weht, lockt Leukerbad mit reinem Vergnügen: Ausdruck eines professionellen Eventmanagements. Mitternachtslesungen auf der Gemmi werden zur romantischen Performance, Auftritte im Heilbad, neben sprudelnden Quellen, in lauschigen Gärten und alten Hotels gehören dazu. Neue Generationen konsumieren Literatur im neuen Stil.

Der jüngste Umbruch bringt denn auch Autoren hervor, die Werk, Marketing, Selbstinszenierung, Lancierung des Egoprodukts und Ausleben eines Lebensgefühls übergangslos miteinander verbinden. Drei Beispiele seien hier genannt: Simone Meier, Gion Mathias Cavelty und Zoë Jenny. Alle drei schreiben Bücher - unter anderem. Die Kulturredaktorin Simone Meier, eine Vertreterin des helvetischen "Fräuleinwunders", publizierte 2000 den Roman "Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben". Wer mehr über sie erfahren möchte, kann sich durch die Website www.simonemeier.ch klicken - und landet früher oder später auch bei www.hanebuechlein.de, wo die Autorin ein "Soap-Tagebuch in Folgen" präsentiert. Schreiben, Selbststilisierung und Selbstlancierung auch bei Gion Mathias Cavelty: Nach seiner von der Kritik abschlägig begrüßten Romantrilogie "Quifezit oder Die Reise im Geigenkoffer" (1997), "ad absurdum oder Eine Reise im Buchlabyrinth" (1997) und "tabula rasa oder Eine Reise ins Reich des Irrsinns" (1998) initiierte er im Zürcher Jazzlokal Moods mit großem Erfolg "Cavelty's Literaturshow". Und unter der Adresse www.nichtleser.com wartet "Gion Mathias Cavelty's Universum".

Die herausragendste und erfolgreichste Exponentin dieses modernen Trends ist Zoë Jenny. Spektakulär war ihre Initiation in die Literaturszene mit nur 23 Jahren. In ihrem Erstling "Das Blütenstaubzimmer" (1997) erzählt die Basler Autorin in unterkühltem Ton vom Erwachsenwerden. Gleichzeitig sanft und radikal wie noch nie zuvor schreibt hier ein Kind der Achtundsechziger über das dominierende Lebensgefühl seiner Generation: Angst, Haltlosigkeit, mangelndes Urvertrauen. Ihr Roman ist das Dokument einer Abrechnung mit den emanzipierten Eltern, die vor allem das eigene Glück und die Selbstverwirklichung im Sinn hatten. Die Kritik war entzückt über den neuen Ton, das Publikum begeistert über den neuen Typ einer mädchenhaften Autorin. Symptomatisch aber ist: Das Debüt wurde zum gigantischen Verkaufserfolg, der alle bisherigen Absatzzahlen der Schweizer Literatur in den Schatten stellt: 250 000 verkaufte Exemplare, dazu kommen Übersetzungen in 26 Sprachen und Lesetourneen in die ganze Welt. Zum Vergleich: Üblicherweise gilt ein Schweizer Autor, der drei- bis fünftausend Exemplare eines Buchs absetzt, als erfolgreich.

Als Zoë Jenny 2002, fünf Jahre nach "Das Blütenstaubzimmer", ihr drittes Buch, "Ein schnelles Leben", auf den Markt brachte, erlebte sie bei der Kritik einen bösen Absturz. Nicht unbedingt beim Publikum. Dafür sorgen schon die Fotografen und Fernsehteams, für die das Gesicht Jennys interessanter ist als ihre Bücher. Frauenzeitschriften lassen von der Autorin deren "Lieblingsmode" vorführen, längst ist die Schriftstellerin zur Werbeträgerin von Schmuck und Luxus geworden. Eine Zoë Jenny spielt virtuos auf der Klaviatur der öffentlichen Eitelkeit. Ihr darum jedes literarische Talent abzusprechen wäre dennoch kurzsichtig. Sie ist vor allem eine perfekte Vertreterin ihrer Generation.

Junge Literaten sind zu Stichwortgebern des Zeitgeistes geworden, aber sie bedienen sich seiner natürlich auch. Selbst wenn sich die Meßlatten, die man an die Literatur legt, nicht verändert hätten, so haben sich doch die gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb deren Literatur stattfindet, massiv gewandelt. Die neuen Helden, die nun die Literaturbühne betreten, haben die Einflüsse von Konsum und Kommerz perfekt inhaliert. Ihre Bühne ist ein Karussell, dessen Tempo sie allerdings nicht allein bestimmen. So hat sich in den letzten Jahren die Verlagssituation massiv verändert. Gut ist, was kommerziellen Erfolg verspricht. Erfolg verspricht, was sich weltweit verkaufen läßt. Also liegt es im Interesse der Autoren, sich "marktgerecht" zu verhalten. Gefragt ist eine internationale Literatur, die sich international rezipieren läßt.

Diese Veränderungen bleiben auch für die Schweizer Literatur nicht folgenlos. Hier stehen sich mehrere Positionen gegenüber: eine Generation, die Literatur als Vehikel für politische Debatten braucht, die Literatur einer mittleren Generation, die diese Muster aufgeweicht hat, und die "junge" Generation, die sich marktgerecht verhält; ihre Texte sind unterhaltsam und unpolitisch. Sie treffen allerdings auch auf ein verändertes Medien- und Publikumsverhalten. Das Herbeiwünschen eines Superstars gehört zu den gesellschaftlichen Ritualen. Das Publikum möchte nicht unbedingt lesen, sondern dabeisein. Lesen will es dann, um zu überprüfen, ob sich das Dabeisein gelohnt hat. Das wiederum kommt dem Verkauf des Buchs zustatten. Fragwürdig wird dieser Diskurs, wenn sich die Schere zwischen dem Getöse um ein Buch und dem, was es zu bieten hat, immer weiter öffnet.

Die Kinder der Achtundsechziger sind also der Schweiz längst entsprungen. Das alte Gezänk um Grenzen und Enge und Europa haben sie pragmatisch gelöst. Sie sind unterwegs zu ihren ureigenen Kontinenten. Die jungen Autoren wandeln auf dem Laufsteg der Modeliteraturen, bewerben sich beim literarischen Casting um die besten Rollen auf den neuen Bühnen und switchen mühelos zwischen den Ebenen, wenn das Programm nicht gefällt. Vom literarisch verbrämten Politgeplauder distanzieren sie sich, gegenüber den politischen Katastrophen bleiben sie stumm. Inszeniert wird in der jungen Schweizer Literatur, was gefällt, mit den Mitteln einer neuen Generation.

Pia Reinacher, geboren 1954, veröffentlicht in Kürze den Band "Je Suisse - Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur" im Verlag Nagel & Kimche.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Gieri Cavelty findet, dass dieser Band über Deutschschweizer Literatur von "eigentümlichen Unschärfen geprägt" ist, die er schon am Titel moniert. Denn nicht die Literatur der gesamten Schweiz nimmt Pia Reinacher in ihrem Buch in den Blick, sondern lediglich die der deutschsprachigen Schweizer Literatur, präzisiert der Rezensent. Auch die Hauptthese der Autorin, dass die Schweizer Schriftsteller um 1968 vor allem politisch engagiert geschrieben hätten, die neuere Literatur sich dagegen "fast ausschließlich mit sich selbst" beschäftige, findet er weder überzeugend noch mit hinreichenden Argumenten belegt. Die "Glaubwürdigkeit" von Reinacher werde vor allem deshalb untergraben, weil sie alle Aspekte, die ihrer These widersprechen, "ausblendet", kritisiert der Rezensent. Die so gescholtene Autorin wird allerdings für den zweiten Teil des Buches, der in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte Rezensionen enthält, wieder rehabilitiert. Jetzt findet der erfreute Cavelty die "unverstellten Einsichten" in die Schweizer Literatur, die er im ersten Teil des Buches so vermisst hat. Vor allem verzichtet die Autorin hier darauf, die verschiedenen Schriftsteller mit einer "simplen These" auf einen Nenner bringen zu wollen, so der Rezensent versöhnt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Denn was uns Pia Reinacher in ihrem Essay versagt, das schafft sie im zweiten Teil des Buches, der 28 in verschiedenen Zeitungen publizierte Rezensionen und Autorenporträts versammelt: unverstellte Einsichten zumal in die zeitgenössische Deutschschweizer Literatur." Gieri Cavelty, Neue Zürcher Zeitung, 23.10.2003