Marktplatzangebote
15 Angebote ab € 2,00 €
  • Gebundenes Buch

Der Band widerlegt die liebgewordene Legende, Cechov habe zuerst humoristische Kurzgeschichten geschrieben und sich erst allmählich an die große Form (z.B. 'Die Steppe', 'Das Duell') herangeschrieben - Cechovs früheste Erzählungen sind große Werke im doppelten Sinn des Wortes.

Produktbeschreibung
Der Band widerlegt die liebgewordene Legende, Cechov habe zuerst humoristische Kurzgeschichten geschrieben und sich erst allmählich an die große Form (z.B. 'Die Steppe', 'Das Duell') herangeschrieben - Cechovs früheste Erzählungen sind große Werke im doppelten Sinn des Wortes.
Autorenporträt
Anton Cechov wurde 1860 in Taganrog als Sohn eines kleinen Krämers geboren. Er war als Arzt tätig, erkrankte selbst an Tuberkulose und verbrachte ab 1898 sein Leben in Kurorten in Südrußland und in Westeuropa. Er starb 1904 in Badenweiler. Seine Erzählungen fanden schon früh Bewunderer (unter ihnen auch Leo Tolstoi), und seine Dramen (darunter 'Drei Schwestern', 'Der Kirschgarten', 'Onkel Vanja') - die heute auf allen Bühnen gespielt werden - stellten einen bedeutenden Neubeginn für das russische Theater dar.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein großer literarischer Wurf ist die frühe Prosa, die Anton Tschechow als 22jähriger 1882 unter dem Pseudonym Antoscha Tschechonte in verschiedenen Moskauer Zeitschriften veröffentlicht hatte, nicht, meint Felix Philipp Ingold. Hauptsächlich handelten die gut ein Dutzend Texte von der Liebe, die es in der Sicht Tschechows auf Erden nicht zu geben scheint. Eher lächerlich und überspannt findet der Rezensent den Plot aller Geschichten, und auch deren schematisch gezeichnete und grell kolorierte Figuren erwecken sein Missfallen. Literarische Meriten seien das nicht, die "Prosabagatellen" des frühen Tschechow würde Ingold eher in die Rubrik unbedarfte "Unterhaltungsbelletristik" packen. Abgesehen von einer "geschickten Stimmenführung" der Figuren und einer umsichtigen und "soliden dramaturgischen Vernetzung des handelnden Personals" konnte der Rezensent den Erzählungen nichts abgewinnen. Tschechow selbst wohl auch nicht, mutmaßt Ingold, denn das Pseudonym nutzte er später nie wieder. Die Geschichten seien in keiner Werksammlung und auch nicht in die Gesamtausgabe von 1899 aufgenommen worden.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Als Stilist ist Cechov unerreicht, und der künftige Literarhistoriker wird, wenn er über das Wachstum der russischen Sprache nachdenkt, sagen, diese Sprache ist von Puschkin, Turgenjew und Cechov geschaffen worden.« Maksim Gorkij

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Wo Katzen üppig an der Seele kratzen
Anton Tschechows Novellen und Romane / Von Ingo Schulze

Ein neuer Tschechow! Das klingt wie eine Sensation und ist es in gewisser Weise auch. Doch gibt es keine neuen Archivfunde zu vermelden. Ein Großteil der frühen Prosa Anton Tschechows wurde bisher nie ins Deutsche übersetzt. Bei einem Autor von so zentraler Bedeutung ist das zumindest befremdlich. Nach der Lektüre dieser sieben Erzählungen (mal heißen sie Roman, mal Novelle) versteht man es noch weniger. Tschechow selbst hatte sie nicht in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen. Publiziert sind sie jedoch alle in der Moskauer "Akademie-Ausgabe".

"Haben wir genug Tschechow?" möchte man angesichts der von Peter Urban im Nachwort genannten Anzahl von nicht übertragenen Texten (es sind einige Hunderte) fragen. Mißtraute man den Arbeiten des zweiundzwanzigjährigen Medizinstudenten, die hauptsächlich in humoristischen Zeitschriften erschienen waren? "Es ist ziemlich schlimm, daß ich aus Gründen des Broterwerbs schreiben mußte", heißt es 1895 in einem Brief Tschechows an Iwan Bunin. "Aber bis zu einem gewissen Grade sollte man zur Meisterschaft gezwungen werden und nicht auf die Zeit der Inspiration warten." Zwischen 1880 und 1886 entstehen jährlich rund hundert Texte. Die vom Herausgeber und Übersetzer Peter Urban ausgewählten Werke aus dem Jahr 1882 gehen über den für Zeitschriftenbeiträge erwünschten Rahmen von hundert Zeilen (Tschechow hatte sich bald 120 erkämpft) weit hinaus.

Das Vergnügen, das man beim Lesen haben wird, ist zum Teil der frühen Meisterschaft des Zweiundzwanzigjährigen zu danken. Man könnte den Band auch als Ouvertüre zu seinen späteren Werken lesen. Die entscheidenden Grundthemen sind da (die vergebliche Suche nach Sinn und Erfüllung zwischen Langeweile und Aktivität), viele Figurentypen und -konstellationen finden sich, vor allem aber ist bereits der unverwechselbare Tschechow-Stil erkennbar, der sich in den folgenden Jahren vertiefen wird. Das allein wäre schon Bereicherung und Überraschung genug. Doch es scheint zu Beginn der achtziger Jahre noch einen anderen Tschechow gegeben zu haben, einen Stimmenimitator, der mit traumwandlerischer Sicherheit mit Stilen und Genres spielte und möglicherweise ein Anknüpfungspunkt für eine Tradition war, die man bisher zumindest in Deutschland nicht mit ihm in Verbindung brachte.

Wie lobt man ein Genie? "Die Herrin" zeigt Tschechow bereits als fertigen modernen Erzähler. Der Beginn liegt mitten in der Handlung, das bisher Geschehene erschließt sich über den Dialog. Der Knecht Stepan ist seiner Herrin davongelaufen, die ihn nicht nur als Kutscher begehrt. Vater und Bruder schimpfen Stepan einen Dummkopf, seine Frau fleht ihn aber an, zu Hause zu bleiben. Vom Vater gezwungen, kehrt Stepan in seinen "Dienst" zurück, stellt aber der glücklichen Herrin eine Bedingung.

Die Novelle - abgesehen von einem Minimum genauer Situationsangaben, besteht sie fast ausschließlich aus Dialogen - spult sich mit der Notwendigkeit einer Tragödie ab und endet als solche. In den letzten Sätzen wird beiläufig über den Verwalter berichtet, der zehnmal im Jahr aufgrund neuer "Kutscher" seines Postens enthoben wird, und "zehnmal im Jahr zahlte man ihm ein Abstandgeld. Man zahlte nicht schlecht." Es gibt wohl kaum ein Werk in dieser Hochzeit der russischen Prosa, das es an Genauigkeit, Härte, Illusionslosigkeit und Gestaltungskraft mit diesem Juwel der Erzählkunst aufnehmen könnte.

Dem "klassischen" Tschechow begegnet man am ehesten noch in "Lebende Ware" und "Späte Blumen". "Lebende Ware" ist die Geschichte vom Verkauf einer Frau - und einigen notwendig werdenden Nachzahlungen. So abstrus die Figuren reagieren, sie selbst glauben an ihre aufrichtigen Motive. Sinneswandel vollziehen sich von einem Satz auf den anderen. Doch letztlich kommt kein Geld gegen die Langeweile an. Die große Liebe ist auf der Rutschbahn in den Betrug. Unerbittlich dreht Tschechow an der Schicksalsschraube, bis die Ausgangssituation wieder erreicht ist - nun aber auf dem Kopf steht. In den folgenden Jahren wird er Sarkasmus und einen Erzählerkommentar zurücknehmen, sie eher subkutan verstecken - in diesem Falle aber wirken sie regelrecht befreiend.

War hier ein Mann der hoffnungslos Verliebte, so ist es in "Späte Blumen" die verarmte Fürstentochter Marusja. Sie liebt Toporkov, einen Arzt, dessen Vater noch leibeigener Kammerdiener des Fürsten gewesen ist. Tschechow zeichnet die in den Bankrott sinkende Adelsfamilie und den Alltag des kühl berechnenden und unentwegt arbeitenden Arztes so eindringlich, als müßte der Leser lernen, die verschiedenen Interieurs an ihrem Geruch zu unterscheiden. Zwei Jahre vor Abschluß seines Medizinstudiums gestaltete Tschechow mit Toporkov seine erste Arztfigur. Deren sozialer Hintergrund ähnelt dem des Autors. Auch dessen Vater war noch als Leibeigener geboren worden, auch Tschechow hatte sich unter Entbehrungen durch die Ausbildung zu kämpfen. Was aber kommt danach? "Hatte er wirklich nur der Fünfrubelscheine und Damen wegen jenen mühevollen Weg beschritten? Ja, nur ihretwegen . . . Was kann ich denn tun?" Er hat alles erreicht - und nichts hat mehr einen Sinn. Er reist mit Marusja nach Frankreich. "Er wollte seinem Wissen nicht glauben und bemühte sich mit allen Kräften, aus ihrer Brust wenigstens eine kleine Hoffnung herauszuklopfen und herauszuhorchen." Tschechow läßt Marusja sterben - zwei Jahre vor seinem eigenen ersten Blutsturz.

Vergleicht man die Erscheinungsdaten der hier zusammengefaßten Werke miteinander, liegt die Vermutung nahe, daß sie kurz nacheinander oder sogar im selben Zeitraum entstanden sind. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Tonlagen läßt sich nicht mit einer Unterscheidung von Brotverdienst und wirklicher schöpferischer Arbeit abtun. Das aber wird erst durch die anderen Erzählungen deutlich.

"Eine miese Geschichte" - "Etwas Romanähnliches" heißt es im Untertitel. Diese scheinbare Ungenauigkeit stellt sich nach der Lektüre als präzise Bezeichnung heraus. An der Seele von Lelja, einer üppigen Blondine, "kratzten Katzen. Der Grund war, daß sich die Herren ihr gegenüber geradezu schweinisch benahmen." Doch plötzlich scheint ein junger Mann, ein Künstler, in sie verliebt zu sein. Er läßt kein Auge von ihr. Er wird eingeladen in der Hoffnung, daß er sich ihr erklärt. Entspricht der Stil bis zu dieser Stelle am ehesten dem in "Lebende Ware", so kippt er, als sich das Liebespaar endlich gegenübersteht: "In der Luft, um mich in der langatmigen Sprache russischer Romanschriftsteller auszudrücken, hing Zärtlichkeit . . . Der Mond, versteht sich, war auch da. Zur Vollkommenheit dieser paradiesischen Poesie fehlte nur Hr. Fet, der, hinter einem Strauch stehend, laut und für alle vernehmlich, seine fesselnden Gedichte vorträgt."Nachdem Tschechow die Kulissen als Kulissen vorgeführt hat und die Romantik entsorgt ist, reichen ihm wenige gestische Details, um den Personen wieder die Anteilnahme des Lesers zu sichern. Der Künstler - im Gegensatz zu seinen "schweinischen" Kollegen beansprucht dieser hier Feingefühl - offenbart sich und zerstört alle Hoffnungen. "Eine miese Geschichte!" lautet der letzte Satz.

Eine andere Variante des Titels heißt: "Bräutigame, wo seid ihr?!" und läßt vermuten, daß Tschechow eine andere Tonlage für diese Idee erwogen hatte oder das romanähnliche Gebilde ihm unter der Hand zu etwas anderem geriet. "Und um die Wahrheit zu sagen, ist es auch schwer, dem Humor nachzustellen! Manchmal macht man Jagd auf den Humor und schreibt dabei etwas zusammen, daß einem selber schlecht wird. Unwillkürlich ist man in den Bereich des Ernstes geraten . . . Ernsthaft werde ich nur an den großen Feiertagen sein", schreibt er Anfang 1883.

Bis zu dem "Drama auf der Jagd" aus den Jahren 1884/85, das man gedanklich noch diesem Band einfügen könnte, ist die titelgebende Erzählung "Ein unnötiger Sieg" das bisher längste Prosawerk. Es verdankt sich einer Art Wette. Tschechow behauptete, "daß er einen Roman aus dem ausländischen Leben nicht schlechter schreiben würde als diejenigen, die damals im Ausland erschienen und ins Russische übersetzt wurden". Ein Redakteur hielt dagegen. Tschechow schrieb und gewann, auch wenn er gedrängt wurde, zum Schluß zu kommen: "in der einen Nummer - Ilkas Abenteuer in Paris, in der nächsten - die Auflösung, und punctum. Drucken wir lieber kurze Erzählungen." Statt immer neue Ideen produzieren zu müssen, konnte er hier einen längeren Faden spinnen. Andererseits muß es seinen Ehrgeiz angestachelt haben, einen Bestseller aus dem Ärmel zu schütteln, und, durch ungarische Exotik geschützt, die nach dem Attentat auf Alexander II. und der Thronbesteigung seines Sohnes erstarrende russische Gesellschaft zu attackieren. ("Das Sagbare ist, was in behördlichen Anträgen gesagt wird, das, was dort nicht gesagt wird, ist nicht sagbar . . .", so in einem Brief von Ende 1882.)

Der Zigeuner Zwibusch wurde von der Gräfin von Goldaugen mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen. Ilka, seine Tochter, will dies rächen, muß aber, um vor Gericht ziehen zu können, erst adlig werden. Ein verarmter Baron bietet ihr an, sie zu heiraten, wenn sie ihm eine Million als Mitgift bringt. Zum Schluß läßt sich Ilka in Paris an den Meistbietenden versteigern, heiratet den Baron - der wenige Stunden später seinen Adelstitel aberkannt bekommt - und stirbt an einer Dosis Morphium in der Obhut der geläuterten Gräfin.

Obwohl einem die Vorbilder für diese Unternehmung kaum vertraut sind - eine besonders "schöne" Passage wird im Nachwort zitiert -, hört man dennoch das Krachen im Gebälk des Genres. Tschechow ahmt das Handlungsklischee und auch den Tonfall nach, schreibt aber in jeder Hinsicht um Klassen besser. Die Figuren sind stärker als ihre Rollen. Der Reiz für den Leser besteht in der Ambivalenz der Unternehmung: ein Trivialstück, von einem genialen Regisseur auf die Bühne gebracht.

Wie ein Satyrspiel beschließt den Band ein Roman von der Länge einer knappen Seite - eine Briefbeigabe des Autors. "Vladimir Sergeevic Tabackin, von dem hier die Rede ist, hob ein letztes Mal den Blick zur Sonne und starb", heißt es in "Standhafte Liebe". Daniiel Charms ist nicht mehr fern! Vielleicht ist das die eigentliche Überraschung: Tschechows Prosa nicht nur als der Bezugspunkt der modernen Realisten mit einer Nachwirkung bis in die Short stories eines Raymond Carver, sondern zugleich als ein Ansatzpunkt für die Avantgarde von Chlebnikov über Charms bis hin zu gegenwärtigen Autoren wie Sorokin oder Pelewin. "Der Autor, von dem Majakowskij in seinem Nachruf ,Zwei Cechovs' spricht, der Autor ,futuristischer Wortspiele' - er ist in Deutschland unbekannt", schreibt Peter Urban im Nachwort. Für Sorokin ist Tschechow schon wieder ein "Lehrer", ein Porträt an der Wand des Klassenzimmers, eine Bedrohung. In seinem Stück "Jubiläum" wird die Produktion von Tschechow-Proteinen vorgeführt. Tausende Tschechows müssen geschlachtet werden, um die abhängigen Schauspieler zu beliefern. Der Verdacht liegt nahe, daß nicht einmal diese Schlachtung einen Bruch mit der Tschechow-Tradition bedeuten muß.

Dem Übersetzer dürfte nicht nur die Unterschiedlichkeit der einzelnen Stücke, sondern auch die verschiedenen stilistischen Nuancen innerhalb einzelner Erzählungen mehr abgefordert haben als der "klassische" Tschechow. Peter Urban ist es nicht nur gelungen, sehr nah am Text zu übersetzen, sondern auch jeder Erzählung ihre eigene Stimme zu geben, ihren eigenen Charakter (an zwei Texten arbeitete Beate Tausch mit). Das konnte wohl nur glücken, weil er wie kaum ein anderer mit dem Werk Tschechows vertraut ist, darüber hinaus aber auch mit den literarischen Wirkungen dieses Autors. Die Anmerkungen und das Nachwort befördern Verständnis und Genuß gleichermaßen und gaben auch dem Rezensenten wichtige Anregungen. Nicht zuletzt ließe sich am Beispiel Peter Urbans zeigen, wie stark das Gesichtsfeld einer Kultur von Übersetzern abhängt. Bleibt nur noch zu wünschen, daß die vom Verlag angekündigten weiteren Tschechow-Bände möglichst bald erscheinen werden.

Anton Tschechov: "Ein unnötiger Sieg". Frühe Novellen und Kleine Romane. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Tausch und Peter Urban. Herausgegeben von Peter Urban. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 368 S., geb., 40,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr