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1968 dauerte die Fahrt im Orient-Expreß von Zürich nach Beirut noch fast eine Woche. Als der Zug ins Rollen kam, merkte Peter K. Wehrli, daß er seinen Fotoaparat vergessen hatte. Nach anfänglicher Wut über sich selbst begann er, die Erinnerungsbilder statt mit der Kamera mit den Mitteln der Sprache anzufertigen. Alles, was ihm auffiel, alles, was er fotografiert hätte, faßte er in schriftliche Eintragungen, die alle aus einem Relativsatz zu einem Titelwort bestehen. So entstand eine Wahrnehmungsart, die weiter praktiziert werden wollte. 40 Jahre lang. Bis aus der Aufzählung ein Katalog von…mehr

Produktbeschreibung
1968 dauerte die Fahrt im Orient-Expreß von Zürich nach Beirut noch fast eine Woche. Als der Zug ins Rollen kam, merkte Peter K. Wehrli, daß er seinen Fotoaparat vergessen hatte. Nach anfänglicher Wut über sich selbst begann er, die Erinnerungsbilder statt mit der Kamera mit den Mitteln der Sprache anzufertigen. Alles, was ihm auffiel, alles, was er fotografiert hätte, faßte er in schriftliche Eintragungen, die alle aus einem Relativsatz zu einem Titelwort bestehen. So entstand eine Wahrnehmungsart, die weiter praktiziert werden wollte. 40 Jahre lang. Bis aus der Aufzählung ein Katalog von allem wurde - die faszinierenden Aufzeichnungen eines passionierten Flaneurs, Wahrnehmungsvirtuosen und Sprachkünstlers.
So könnte eigentlich eine Novelle beginnen: Als der Orient-Expreß aus dem Zürcher Hauptbahnhof rollte, merkte Wehrli, daß er seinen Fotoapparat vergessen hatte ... Dieses Mißgeschick bildet aber den Auftakt für ein einmaliges literarisches Experiment: Peter K. Wehrlis Katalog von Allem. Über vier Jahrzehnte hat der Journalist seine Eindrücke von Reisen und alltäglichen Begebenheiten nicht mit der Kamera, sondern mit den Mitteln der Sprache festgehalten. Alles, was ihm auffiel, alles, was er fotografiert hätte, wurde zu literarischen Schnappschüssen, die jeweils aus einem Relativsatz zu einem Titelwort bestehen. So entstand eine Wahrnehmungsart, die Wehrli bis heute immer weiter praktizierte und perfektionierte. Die auf 1679 Einträge angewachsene Neuausgabe erfaßt eine poetische Topographie der mannigfaltigsten Erinnerungsbilder: eine portugiesische Landschaft, die Farben und Gerüche des brasilianischen Karnevals, der weinende Chaplin im Kino von Montreux. Peter K. Wehrlis Katalog
von Allem ist eine Schule des Sehens. Das Blättern darin gerät zur Entdeckungsreise im erstaunlichen Work in progress eines passionierten Flaneurs, Sprachkünstlers und Wahrnehmungsvirtuosen.
Autorenporträt
Peter K. Wehrli wurde 1939 geboren. Er arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten als Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen. Zahlreiche Filme und Buchpublikationen, u.a. Zelluloid-Paradies, Tingeltangel und Eigentlich Xurumbambo. Peter K. Wehrli lebt in Zürich.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2008

Der welkgrüne Soldat unter Ein-Satz-Beobachtung
Was macht einer, der durch die Welt reist, aber seine Kamera vergessen hat? Peter K. Wehrli präsentiert seinen „Katalog von Allem”
Was nimmt man auf einer Fotografie zuerst wahr? Das heimliche Zentrum des Bilds, das Ungewöhnliche, Besondere daran, das Roland Barthes einmal das „punctum” genannt hat, wohl kaum. Der erste Blick führt meist nicht viel weiter als bis zu den Umrissen des Sujets. Erst von dort aus macht man sich auf zu den Details. Aber wie sieht so ein Blickverlauf, wie die Entwicklung der Tiefenschärfe sprachlich aus? Anfangs vielleicht so: Das Haus, dessen Fenster alle geschlossen waren . . .
Peter K. Wehrli, so geht die Legende, bestieg vor vierzig Jahren den Orient-Express und bemerkte dann, dass er seine Kamera vergessen hatte. Er beschloss, seine Erinnerungen auf der damals einwöchigen Reise anders zu fixieren: mit schriftlichen Aufzeichnungen, die der Struktur fotografischer Schnappschüsse entsprechen sollten. Wehrli fertigte Ein-Satz-Beobachtungen an, nach Nummern katalogisiert, mit Kleinschrift beginnend: „der Soldat”, begann er etwa, „der welkgrün und eigentlich wie ein guter Soldat aussehend, sein Gewehr mit uns weiterfahren lässt, als er in Göschenen aussteigen muss”. Wichtig sind das fehlende Prädikat und das Präsens, in dem Wehrli hier vom zuerst Sichtbaren über Einzelheiten, Mutmaßungen und Ironie bis hin zu einer Interpretation gelangt.
Trotz aller Bemühungen um ein Schema liest sich jede der ausgedehnten Beobachtungen etwas anders. Dieses Unterlaufen des Schematischen hat es Wehrli wohl erlaubt, sein Projekt, das 1968 begann, bis heute durchzuhalten. Immer wieder erschienen Ausschnitte aus seinem „Katalog von Allem” als Buch, zum ersten Mal 1974 in Bolivien. Eine Auswahl von Interessenten, die ein Abonnement zeichneten, erhielt für dreißig Franken über dreißig Jahre hinweg Lieferungen des Katalogs, der seine Leser von der Schweiz aus in alle, am liebsten in die portugiesischsprachige Welt führte.
Im Jahre 1999 versuchte sich Wehrli dann an einer ersten Zusammenfassung. Sie bestand damals aus 1111 Nummern, jetzt, knapp zehn Jahre später, sind noch einmal mehr als fünfhundert hinzugekommen. Wieder nach dem grundlegenden Muster, aber in einer neuen, deutlicher geographisch-topographisch ausgerichteten Ordnung: 17 Kataloge hat Wehrli nun zusammengestellt: den rumänischen, den mosambikanischen usw. Neu ist auch, dass verschiedene alte Nummern unter a) und b) kommentiert werden, wobei die Distanzen zwischen Beobachtung und Kommentar oft Jahrzehnte ausmachen.
Am besten wirken die einzelnen Stücke dieser wunderlichen Unternehmung, wenn sie Konzentration und Exzentrik des Sujets verbinden. Das kann die Blondine im Londoner Vorortszug sein, die sich in aller Ruhe überlange weiße Nägel ansteckt, oder der eigenartige „Wohlgeruch” von Kuhfladen auf einer Wiese der Azoreninsel São Jorge, „der eher an ‚fresh’-Zahnpasta und an den ‚Chewing Gum’ der Jugendjahre erinnert, was wir uns erst erklären können, als wir sehen, dass die ganze Weide, auf der die Kühe grasen, ein Feld von frischer Pfefferminze ist”. Im besten Fall hat man bei den einzelnen Notaten das Gefühl, einen unbekannten Teil der Welt kennengelernt zu haben.
In der Gärtnerei
Peter K. Wehrli, 1939 geboren, ist ein von 1968 beeinflusster Zeitgenosse. Manche seiner Beobachtungen sind kulturkritisch eingefärbt. Oft bleiben sie, wie die Nummer 732 („Gärtnerei”), dicht am Objekt: „die Werkstatt eines Blumenmachers, als die sich die vermeintliche Gärtnerei verpuppt, deren Blütenpracht beweisen zu wollen scheint, dass es Schöneres gebe als das Schöne, das die Natur uns gibt”. Gelegentlich zeigen sie einen Hang zur Belehrung. Überraschend frisch wirken sie da, wo es Wehrli gelingt, für ein allzu vertrautes politisches Tagesproblem eine neue Formulierung zu finden.
Erstaunlich bleibt, wie flexibel sich Wehrli innerhalb seiner an sich starren Grammatik des Schreibens bewegt. Man könnte ja meinen, dass der immergleiche Aufbau der Sätze eine Monotonie des Sehens und Denkens erzeugt, aber man muss nur ab und zu Pausen machen beim Lesen, um die Erkenntnisse aus den einzelnen Nummern nicht zu verschleifen, die das Zeug zu schillernden Aphorismen haben. So liest man unter Nummer 1625: „‚wo du bleibst, bist du dich selber’, diese unterwegs zugefallene Einsicht, die den Nachsatz will: ‚auf der Fahrt dorthin bist du unterwegs zu dir‘”.
Nicht ganz übersehen sollte man freilich den Umstand, dass Wehrlis vagabundierendes Unterwegssein sich nicht zuletzt seiner dreißig Jahre währenden Tätigkeit als Kulturjournalist beim schweizerischen Fernsehen verdankt. Sie garantierte die materielle Sicherheit, auf der das literarische Langzeitprojekt beruht.
Immerhin hat die wenig romantische Tätigkeit des Journalisten auch zu einem interessanten „Katalog” aus Cannes geführt. Wehrli blieb auf eigene Art ungewöhnlich. Bis vor einigen Jahren trat er als Moderator einer Kultursendung auf und wirkte mit seiner Mischung aus Apathie und Knorrigkeit immer, als wolle er seine mangelnde Eignung für das oberflächliche Medium, in dessen Diensten er stand, geradezu zelebrieren. Sein eckiger, dabei gelassener Gang, die schwere Sprache, alles machte ihn zum staunenswerten Findling aus der Frühzeit der Medienwelt. HANS-PETER KUNISCH
PETER K.WEHRLI: Katalog von Allem. Vom Anfang bis zum Neubeginn. 1697 Nummern aus vierzig Jahren. Ammann Verlag, Zürich 2008. 534 S., 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Vom Autor eine unbekannte Weltgegend gezeigt zu bekommen, diesen angenehmen Eindruck hat Hans-Peter Kunisch des öfteren bei der Lektüre dieser aufgeschriebenen Schnappschüsse. Was der Kulturjournalist Peter K. Wehrli seit vierzig Jahren auf seinen Reisen an Beobachtungen notiert und was sich dem Rezensenten nun in Form dieser geografisch-topografisch geordneten 500 "Nummern" präsentiert, besticht laut Kunisch durch das Unschematische. Mal kulturkritisch kommentiert, mal distanzlos am Objekt, erhalten die Notate für Kunisch besonderen Reiz, wenn sie die "Konzentration und Exzentrik" des Beobachteten verbinden, anstatt, was laut Kunisch vorkommt, belehren zu wollen. Wenn Kunisch sich bei der Lektüre Pausen gönnt, scheint hinter der "Monotonie" des immergleichen Satzaufbaus, des Sehens und Denkens das Potenzial zu "schillernden Aphorismen" auf.

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