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Maurice lebt in einem armseligen Stadtteil von Berlin, hält sich selbst für eher unscheinbar und uninteressant und liebt das Spiel des Cellos von nebenan. Man könnte meinen, Maurice führe ein unspektakuläres Leben, doch weit gefehlt: Das Spektakel findet seinen Ursprung in den kleinen Details, die der Protagonist unterwegs auf seinem 17 Jahre alten Fahrrad einsammelt und verarbeitet zu einer schier unendlichen Gedankenkette. Ein Krähenschwarm zieht vorüber und dieses Bild wirkt wie ein Startknopf. Maurice denkt nach, wechselt die Perspektiven, kommt von einem ins andere und schließlich erfährt…mehr

Produktbeschreibung
Maurice lebt in einem armseligen Stadtteil von Berlin, hält sich selbst für eher unscheinbar und uninteressant und liebt das Spiel des Cellos von nebenan. Man könnte meinen, Maurice führe ein unspektakuläres Leben, doch weit gefehlt: Das Spektakel findet seinen Ursprung in den kleinen Details, die der Protagonist unterwegs auf seinem 17 Jahre alten Fahrrad einsammelt und verarbeitet zu einer schier unendlichen Gedankenkette. Ein Krähenschwarm zieht vorüber und dieses Bild wirkt wie ein Startknopf. Maurice denkt nach, wechselt die Perspektiven, kommt von einem ins andere und schließlich erfährt der Leser etwas über das Ableben von Francois Mitterand und die Zubereitung französischer Fettammern. In kleinsten Schritten kommt Maurice der Wahrheit sehr nah. Denn dieses Buch ist ein Feuerwerkskörper, aus dem haltlos goldene Sätze schießen, die jeden schönen Schein zerplatzen lassen.
Autorenporträt
Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, lebt und arbeitet seit 1980 als freier Autor und Filmemacher in Berlin. 1981 wurde er mit dem "Robert-Walser-Preis" ausgezeichnet, 1996 mit dem "Aargauer Literaturpreis", im Jahr 2000 erhielt er den "Literaturpreis der Stadt Bern". 2014 wurde Matthias Zschocke nochmals mit dem "Berner Literaturpreis" für sein "herausragendes literarisches Gesamtwerk" ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2006

Prototyp Tunichtgut
Erotik des Zufälligen: Matthias Zschokke flaniert durch Berlin

Dieser Roman des Schweizer Schriftstellers Matthias Zschokke übt einen subtilen Zwang zur Langsamkeit aus. Wer seine poetischen Räume in Windeseile durchschreiten will, wird bereits auf den ersten Seiten gebremst. Eine Schule der Verzögerung, des Verweilens, des Sinnierens. Sein Held, "Maurice mit Huhn", ist ein moderner Taugenichts, der in seinem Büro in einem armseligen Berliner Stadtteil sitzt und meistens nichts zu tun hat. Mit dem Fahrrad fährt er jeden Tag von der Wohnung am Bahnhof Zoo in sein Kommunikationskontor, das er im Alleingang führt. Er erledigt Schreibarbeiten für Einwanderer, die Hilfe brauchen. Allerdings immer weniger. Ob sie sich seine Unterstützung nicht mehr leisten können, ob sie ihm die Arbeit nicht mehr zutrauen - es kümmert ihn nicht.

Was er wirklich mit Ausdauer verfolgt, ist die Anstrengung, keine Panik aufkommen zu lassen über das nutzlose Dahinkriechen der Tage. Ab und zu schreibt er Briefe an Hamid, den ehemaligen Geschäftspartner. Dessen Kaviarfirma hat sich zu einem Imperium entwickelt und ihn so reich gemacht, daß er seine Frau, eine Berliner Schauspielerin, verlassen und den Sohn in einem teuren Schweizer Internat unterbringen konnte.

Schließlich hat er sich nach Genf abgesetzt. Von da aus betreibt er lukrative Geschäfte und jongliert gelenkig mit Gesetz und Übertretung. Mit Maurice unterhält er eine Art Freundschaft, wenn auch eher einseitig. Maurice schreibt, Hamid telefoniert oder taucht unvermittelt in Berlin auf, um ihm einen Handel vorzuschlagen, bei dem sich steuerliche Vorteile ergaunern lassen. Maurice nimmt solche Angebote dankend entgegen. Moral ist nicht die Sache des kleinen Schwindlers und Phantasten, der die Welt mit dem ihm eigenen Blick abmißt. "Débauche", das französische Wort für "Ausschweifung", heißt sein wahres Lebensmotto. Es führt das liederliche Leben eines charmanten Flaneurs, der die Welt besichtigt, ohne sich an ihr zu beteiligen. Nützlichkeiten erscheinen ihm fremd. Auf Superlative reagiert er erschreckt, pathetische Gesten findet er fragwürdig, Leistungen verdächtig. Jede Art von Abschweifung dagegen begrüßt er mit hinreißender Begeisterung.

Der in Bern aufgewachsene Matthias Zschokke, der zuerst Schauspieler wurde und seit 1980 als Schriftsteller, Theaterautor und Filmregisseur in Berlin lebt, spielte von den literarischen Anfängen an mit diesem leisen Verweigerungston. Seine Helden waren schon immer Tunichtgute, die sich - abgestoßen von geschäftigem Treiben und überbordender Lebensgier - in ein poetisches Niemandsland absetzten. Mit dem neuen Roman "Maurice mit Huhn" hat der Schriftsteller den Prototyp seiner eigentümlichen Erzählmelodie geschaffen. Dabei orientiert er sich an zwei Schweizer Vorbildern, die in der Berner Heimat eine wichtige Rolle spielten: dem Maler Albert Anker und dem Schriftsteller Robert Walser. Beide verbanden das Provinzielle mit dem Weltstädtischen, beide camouflierten das Abgründige mit dem Naiven.

Maurice, die Figur im Zentrum, stammt aus dem gleichen Berner Dorf wie der Maler. Ankers Bild "Maurice mit Huhn" lieh dem Helden den Namen und ist die Quelle, aus der alle poetischen Beobachtungen sprudeln. Einmal beschreibt der Schriftsteller den Knaben mit dem ruhigen, leicht hypnotisierten Huhn auf dem Arm, die Beine hängend, den Kopf abwartend geneigt - wobei es jeden Augenblick zum Leben erwachen und dem Knaben mit den spitzen, starken Schnabel blutende Wunden zufügen könnte.

Was ihm mit dem Motiv des Malers gelingt, nämlich die poetische Aufladung des eigenen Textes mit versteckten Bedeutungen, mißrät ihm allerdings mit dem literarischen Vorbild. Diesem kommt er so nahe, daß er sich daran verbrennt. Anstatt eine produktive Spannung zwischen Fremdem und Eigenem zu erzeugen, entsteht ein leicht epigonaler Eindruck. In Passagen, in denen sich Maurices Onkel bei seiner Gönnerin für handgestrickte Socken bedankt oder der Held in heftige Zuneigung zu engen, beigefarbenen, über den Boden tänzelnden Stöckelschuhen entflammt, erdrückt das Original die Kopie.

Trotzdem übt Matthias Zschokkes Romankonstruktion mit ihrer manchmal verbundenen, manchmal lose assoziierten Reihung von Mikrogeschichten eine seltsame Magie aus. Gewiß, das Buch hat einen Stich ins Altmodische, nimmt aber bei genauerem Besehen durch seine unverdrossene Konsequenz und seine fröhliche Zähigkeit doch wieder für sich ein. Die Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten und Beobachtungsfundstücke, die vor den Augen des Lesers mit provozierender Nachlässigkeit ausgebreitet werden, haben eine leicht anästhesierende Wirkung. Zunehmend schwindet das Gefühl für die täglichen Aufgeregtheiten und macht einer Empfänglichkeit für die schillernden Nichtigkeiten und die Erotik des Zufälligen Platz.

Hinter dem freundlichen Plauderton verstecken sich das Aufbegehren gegen den mechanisch ratternden Alltag, die Auflehnung gegen das unverbindliche Surfen durchs Leben. Damit gelingt es Matthias Zschokke für einen kurzen Augenblick, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht auf das Poetische zu eröffnen.

PIA REINACHER

Matthias Zschokke: "Maurice mit Huhn". Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 240 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2006

Berlins Nordosten
Matthias Zschokkes Roman „Maurice mit Huhn”
„Maurice” ist kein Reisgericht. Auch wenn der Titel „Maurice mit Huhn” alles andere erwarten lässt als einen Roman. Aber Maurice ist zweifellos die Hauptfigur des Textes, den wir vor uns haben. Um wen es sich handelt, bleibt zunächst unklar; wir wissen noch nicht, dass es bis zum Schluss so bleibt. Und wenn wir angefangen haben, die kurzen Passagen zu lesen, die in Berlin spielen und Reflexionen eines seltsam blass erscheinenden Zeitgenossen enthalten, glauben wir ebenfalls nicht recht daran, dass es dabei bleiben kann. Es gibt hier nichts zu erzählen, das steht von Anfang an fest. Es gibt keine Geschichte. Hier wird gleichsam das Nichts konfiguriert.
Maurice sagt nur manchmal „ich”, wenn er Briefe schreibt zum Beispiel. Meistens wird von ihm in der dritten Person erzählt, von einer ungewissen Erzählerstimme. Die schaltet sich ein paar Mal auch direkt ein, man weiß nicht genau warum. Einmal erzählt sie uns, dass das Bild „Maurice mit Huhn”, das wir auf dem Schutzumschlag sehen, im neunzehnten Jahrhundert in der Schweiz gemalt worden ist. Der Heimatort des Erzählers liegt genau dort, und nach einigem Hin und Her scheint klar zu sein: Maurice ist eine Spielfigur des Erzählers. Er entwirft sich eine Art Folie, und dass die ständig unentschieden in der Luft hängen bleibt, gehört wohl dazu.
Es geht hier also wieder einmal um die Schwierigkeiten des Erzählens. Um Schreibkrisen. Um das Hofmannsthalsche Chandos-Debakel und um das ganze Ach. Und das ist schade. Denn abseits der ganzen postmodernen Ich- und Form-Verwirrspiele steckt in diesem Buch ein ungeschriebener Roman, den man durchaus mit Spannung lesen würde. Der bräuchte beileibe nicht eindimensional realistisch zu agieren, er müsste nur formbewusst sein. Maurice betreibt ein „Kommunikations-Kontor” im Berliner Nordosten, eines dieser verzweifelt postakademischen Sinnlosigkeits-Projekte also, und daraus entstehen einige überraschende Skizzen.
In Bernstein gelegt
Der Berliner Nordosten ist beileibe nicht mit dem Osten zu verwechseln, mit den ganzen literarisch abgegrasten Mitte-Prenzlberg-Attitüden. Der wahre Osten liegt nämlich in West-Berlin, und zwar in einer literarischen Terra incognita: im Wedding. Wie die Gegend um den Nettelbeck-Platz hier aufscheint, wirkt manchmal geradezu grandios: Es sind skurrile, bizarre, absurde Situationsstudien aus „Carola’s Schreib- und Bastelboutique”, aus einer Konditorei, die alle paar Monate Pleite macht und den Namen wechselt, aus dem „Café Solitaire”, wo verzweifelte Damen und Herren billige schwarze Lederjacken anhaben. Es stimmt: „In sämtlichen Geschäften riecht es einen Monat, nachdem sie eröffnet worden sind, disparat. Wären die Einwohner Hunde, würden sie das Bein an den Kassen heben und sich vergessen. Drogeriemärkte erinnern an Gefängniskioske, wo es für die Inhaftierten das Nötigste zu kaufen gibt, Supermärkte an Lebensmittelausgabehangars in Flüchtlingslagern.” Zusammen mit den erfolglosen Künstlern, die hier untergekrochen sind, schimmert in diesem Buch ein soziales Milieu durch, das illusionslos und absolut zeitgenössisch ist.
Leider will dieser Roman aber anscheinend etwas anderes. Er sucht eine Form für die Ausweglosigkeit, die im Wedding kulminiert, er möchte das Sinnlose überhöhen, richtungslose Sehnsüchte in Motiven wie Cello- oder Klavierspiel bündeln und noch dazu zeitkritisch und satirisch sein. Der Erzähler schiebt sich mit Maurice gegenseitig die Bälle zu, spielt aber am liebsten mit ihm zusammen Versteck. Dafür gibt es allzu große Vorbilder, und an die reicht Matthias Zschokke mit seinem augenzwinkernden Selbstkommentar- und Ironiestil nun doch nicht heran: „Das Fahrradmotiv wurde hiermit auf unangestrengte Weise einmal mehr aufgenommen, wie auch auf die Sehnsucht von Schicksalslosen nach Vertreibungs- und Gaskammererfahrungen in diesen Ausführungen meiner Meinung nach in schönster Rondomanier eingegangen wurde. (Man könnte sich geradezu in Bernstein legen und davon einschließen lassen, so exemplarisch kommt man sich vor.)” Es geht halt zu viel um die Kunst. Doch wenn Zschokke einfach kleine Szenen beschreibt, kann er sehr einfallsreich sein. HELMUT BÖTTIGER
MATTHIAS ZSCHOKKE: Maurice mit Huhn. Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 239 Seiten, 18,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Wo Matthias Zschokkes Erzählband "Ein neue Nachbar" endet, knüpft sein Roman "Maurice mit Huhn an", erklärt Jörg Magenau und meint damit nicht nur den leitmotivischen Klang eines unbekannten Cellos in der Wohnung nebenan, sondern auch einen schweigsamen Erzähler, der seine Geschichten "langsam, nachdenklich und liebevoll" vorträgt. Mit Maurice habe sich Zschokke ein Wunsch-Alter Ego geschaffen: Ein radelnder Flaneur, der sich in den abseitigen Viertel der Stadt auf Entdeckungsreisen begibt, die Stille preist und sich wie alle "echten Indianer" am liebsten unbemerkt durch die Welt bewegt. Eine konsistente Handlung gibt es nicht, so Magenau, aber darauf kommt es auch nicht an: Weil der Roman "wie eine Wundertüte funktioniert" die Disparates - angefangen vom sterbenden Mitterand bis hin zu Maurice' Reise an den Ort seiner Kindheit - immer wieder kunstvoll aneinanderknüpft.

© Perlentaucher Medien GmbH