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  • Buch mit Leinen-Einband

Zwanzig Jahre lang hat ihr Kontakt zum Vater nur aus Briefen bestanden, immer dringlicher war sein Bitten um einen Besuch geworden, immer einfallsreicher ihre Vertröstungen - und nun ist er tot. "Ich habe ihn einsam sterben lassen", der Vorwurf steht unumkehrbar im Raum. Und damit ist auch ihr einziger Tröster weggefallen. Niemand hätte sie schützen können wie er, vor der Selbstzerfleischung, die auf eine kalt beendete Liebe folgt. Doppelt verraten und zweifach allein ist sie ein verletztes Kind, das sich an seinen zynischen Schlächter ausgeliefert hat. Toter Buchstabe ist ihr Schmerzgesang,…mehr

Produktbeschreibung
Zwanzig Jahre lang hat ihr Kontakt zum Vater nur aus Briefen bestanden, immer dringlicher war sein Bitten um einen Besuch geworden, immer einfallsreicher ihre Vertröstungen - und nun ist er tot. "Ich habe ihn einsam sterben lassen", der Vorwurf steht unumkehrbar im Raum. Und damit ist auch ihr einziger Tröster weggefallen. Niemand hätte sie schützen können wie er, vor der Selbstzerfleischung, die auf eine kalt beendete Liebe folgt. Doppelt verraten und zweifach allein ist sie ein verletztes Kind, das sich an seinen zynischen Schlächter ausgeliefert hat. Toter Buchstabe ist ihr Schmerzgesang, ihre Totenmesse für den Vater, den Geliebten und für sich selbst, der Text ihr rettendes Gift.
Autorenporträt
Linda Le, 1963 in Vietnam geboren, kam 1977 nach Frankreich. Französisch lernte sie in ihrer Kindheit in Saigon, und in dieser Sprache hat sie auch ihre zahlreichen Bücher geschrieben, die stets für ihre besondere Originalität gelobt wurden.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2006

Hast du Hunger, Sirius?
Der Vater, das Gift, die Liebe: Linda Lês „Toter Buchstabe”
   Wir erinnern uns an den Mann, der im Film „Die Ballade von Narayama” des Japaners Imamura seine Mutter zum Sterben auf den Berg trägt. Hier trägt eine Tochter den toten Vater im Geist mit sich herum. Mehr als dessen Leib drücken die Worte, die sie mit ihm nicht mehr sprach. Sie lebt seit zwanzig Jahren in Paris, er ist in Vietnam gestorben, ohne dass sie ihn wiedersah. Die über all die Jahre hin und her gehenden Briefe setzen plötzlich aus. Vielmehr: es folgt ihnen ein letzter - dieses Buch.
Es ist zwar nicht in Briefform geschrieben, sondern als langer Monolog, gerichtet an einen Freund. „Die Toten lassen uns nicht los, sage ich zu meinem Freund Sirius und lege die Briefe meines Vaters in die Lade”. Dieser erste Satz eröffnet das Wortritual einer gespenstischen Symbiose, in der ein Toter in die Haut der Lebenden schlüpft, ihr Blut saugt, an ihrem Gebein nagt, sich so lang von ihren Gedanken ernährt, so erscheint es ihr zumindest, bis sie am Ende, vom Vater erlöst und von einem unseligen Liebhaber namens Morgue endlich befreit, allein zurückbleibt, erschlafft, aber mit erstmals wieder hoffnungsvoll zuckendem Herz. „Es wird hell, Sirius. Mach das Fenster auf. Lass die frische Morgenluft herein”.
Die zweiundvierzigjährige Autorin Linda Lê, die im Alter von vierzehn mit ihrer Mutter nach Frankreich kam, ist mit Büchern von greller Abgründigkeit hart an der Grenze des Wahnsinns bekannt geworden. „Die drei Parzen”, der erste Teil einer finsteren, jedoch nie politisch entfalteten Emigrationstrilogie, ließ drei junge Frauen in der Küche eines Pariser Vorstadthauses zwischen komplizierten Liebschaften und Saigoner Kindheitserinnerungen herumschweifen. König Blaubart, König Lear oder sonst ein mythologisches Ungeheuer ist nie weit. Im hier vorliegenden Buch trägt es die ambivalenten Züge des vergeblich auf einen Besuch wartenden Vaters und des nie wartenden, immer nur fordernden Wüstlings und Liebhabers Morgue, der die junge Frau ab und zu in ihrem Zimmer besucht.
In die Enge dieses Dilemmas zwischen Liebhaber und Vater streut die Erzählerin ihr Sprachgift, Satz um Satz, ohne einen einzigen Zeilensprung, bis unter der wohlwollend stummen Dauerpräsenz des Freundes Sirius der doppelte Bann sich löst. „Meine Liebe zu Morgue war meinem Vater ins Grab gefolgt. Nun hatte ich nichts mehr” - sagt die Frau nach dem Begräbnis, zu dem sie die Reise ins ferne Vietnam schließlich doch noch unternommen und bei dem sie in einem Akt von etwas gespreizter Symbolik ihren schwarzen Schal, ein Geschenk von Morgue, mit in den Sarg gelegt hatte.
Besser als solches Bedeutungszeremoniell ist die unermüdliche Verbalisierungs- und nächtliche Traumarbeit im Buch, in der auch Splitter einer glücklich-bangen Kindheit in Vietnam aufscheinen. Der aus einer Bauernfamilie des Nordens entstammende Vater war selbst wohl recht glücklich zwischen Affen und Vögeln aufgewachsen und hatte der Tochter dann spielend, zeichnend, spazierend, erklärend wie ein Bilderbuch die Stadt und die Welt eröffnet. Viele Nächte schliefen Vater und Tochter Hand in Hand nebeneinander. Diese Symbiose scheint sich dann in schieres Befremden verkehrt zu haben, als andere Männer den Platz an der Seite der Frau einnahmen. Männer machten ihr plötzlich Angst, „als wäre da immer ein Messer, das sie nie vergaßen, selbst wenn sie den Mund der Geliebten küssten”.
Die Einsame sondert sich ab und wird zu einer „Frau, in der das Leben kein Echo fand”. An seinen besten Stellen ist das Buch ein Stenogramm dieser bis zum Wahnsinn gesteigerten weiblichen Bindungsscheu. Die erdrückende Nähe des in der Ferne vernachlässigten Vaters lastet auf allen Worten und dringt über die Assoziationsschübe in die Rede. „Bist du hungrig, Sirius? Ich werde dir etwas kochen”, wendet die Frau sich an den vertrauten Freund und bietet ihm auch ein Glas Wein an: „Ich brauche jetzt einen Schwips. Mein Vater hat viel getrunken” - und schon ist die Erinnerung an den anderen Mann, dem das Mädchen einst auf dem Fahrrad heimlich die Flaschen besorgte, mehrere Seiten lang wieder da.
Der vierte Mann und der Mond
   Die vierte Figur im Männer-Quartett dieses Buchs ist jener verrückte Onkel, den wir aus Linda Lês früheren Werken schon kennen. Es ist der Mann, der die Welt einst mit seiner im Kühlschrank verwahrten Pisse wie mit Weihwasser besprengte, bei Vollmond im Garten die Elemente zur Reinigung der Erde anrief und heute in irgendeiner französischen Irrenanstalt wohnt. Er steht hier, dem beständig leuchtenden Sirius abgewandt, auf der dunklen Seite wie die unstete Erzählerin. Sein doppeltes Exil gegenüber dem Herkunftsland Vietnam und gegenüber dem Normalzustand der Vernunft vertieft jenes der jungen Frau.
Exil ist bei Linda Lê eine Grundverfassung, die sich zu keinem früheren und eigentlichen Dasein emphatisch in Beziehung setzen lässt. Es bedeutet nicht Fremdsprache, nicht Fernsein, nicht verlorenes Kinderglück, nicht Sehnsucht und mögliche Rückkehr. Es wurzelt in einer Endgültigkeit, die nur Gegenwart kennt. Vor deren Hintergrund schöpft die Autorin mit ihrem knappen Stil seit nunmehr fünfzehn Jahren aus der eigenen Biografie eine Literatur, die auf Ausschmückung verzichtet. Wir sehen die Heldin dieses Buchs nie durch Pariser Straßen irren, in Flugzeuge steigen, in Vietnam das Grab am Flusslauf aufsuchen. Sie hat die Schemenhaftigkeit der Figuren Kafkas, Musils, Pessoas, Artauds, Maurice Blanchots - lauter Autoren, die Linda Lê gut kennt und bei Neuausgaben in Frankreich mitunter mit kundigen Einleitungen versieht. Im Genre dieser essentialistischen Literatur hat Linda Lê heute ihren festen Platz und in Brigitte Grosse eine souveräne Übersetzerin gefunden.   JOSEPH HANIMANN
LINDA LÊ: Toter Buchstabe. Aus dem Französischen von Brigitte Grosse. Ammann Verlag, Zürich 2005. 95 Seiten, 14,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Joseph Hanimann vergleicht die Figuren in den Büchern der Autorin mit keinen geringeren als mit jenen der großen "essentialistischen Literatur" Kafkas, Musils, Pessoas, Blanchots. Seit 15 Jahren schreibe Linda Lê gewissermaßen ohne realistisches Beiwerk "Satz um Satz" ihres "Sprachgiftes", das vom Exil als "Grundverfassung" erzähle. In diesem Buch führe die Erzählerin, die seit zwanzig Jahren in Paris lebt, einen Briefdialog mit ihrem in Vietnam verstorbenen Vater fort, und zwar in Form eines langen Monologs an einen Freund. Neben diesem neutralen Freund, referiert der Rezensent und dem symbiotisch verbundenen Vater, spreche der Monolog auch vom dem "Wüstling und Liebhaber Morgue" und einem im doppelten und totalen Exil einer Irrenanstalt lebenden Onkel. Inmitten dieses "Männer-Quartetts" gleiche der Monolog der Erzählerin, beschreibt der Rezensent, an seinen besten Stellen einem "Stenogramm der bis zum Wahnsinn getriebenen weiblichen Bindungsscheu". Zuletzt ist die Erzählerin von ihrem Vater erlöst und legt ihm in "etwas gespreizter Symbolik", so der Rezensent, einen schwarzen Schal in den Sarg, der ein Geschenk des Liebhabers war. Solche symbolische doppelte Befreiung ist aus Sicht des Rezensenten weit weniger gelungen als die "unermüdliche Verbalisierungs- und nächtliche Traumarbeit" der Erzählerin. Großes Lob erhält auch die Übersetzerin von Linda Lês knappem und schnörkellosem Stil.

© Perlentaucher Medien GmbH
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