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Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • Originaltitel: Pearly Gates of Cyberspace
  • Seitenzahl: 361
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 574g
  • ISBN-13: 9783250104179
  • ISBN-10: 3250104175
  • Artikelnr.: 08843104
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Paradies ohne Leib
Die Geschichte des Raumes
von Dante bis zum Cyberspace
Was ist Raum? Was versteht man unter Realität? „Nichts weiter als elektronische Signale, interpretiert von deinem Verstand”, heißt es im Cyber-Thriller Matrix, „eine neuroaktive Simulation. ” Mit diesen Worten will der Freiheitskämpfer Morpheus seinem Adepten Neo klarmachen, dass er in einer Cyber-Realität lebt, einer Welt virtueller Simulation.
Die digitale Welt hinter dem Computerbildschirm ist für unzählige Internet-Benutzer Alltag geworden, und damit das Bewusstsein eines neuen Raums, der Schätzungen zufolge alle drei Monate sein Volumen um 25 Prozent vergrößert. Tatsache ist auch, dass das physikalisch nicht zu verortende Net von den Benutzern als ein „Ort” empfunden wird, an den man sich, zumindest mit einem Teil seines Selbst, hinbegibt: der Cyberspace.
Für Margaret Wertheim ist das scheinbar plötzliche Erscheinen eines neuen Raums weder ein einmaliges noch ein überraschendes Phänomen. In ihrem neuen Buch verfolgt die Physikerin, Mathematikerin und Informatikerin die Geschichte abendländischer Konzeptionen des Raums vom Mittelalter bis zum digitalen Zeitalter: „Wie wir sehen werden, war im Lauf der Geschichte die Vorstellung von ,Raum‘ ständig Wandlungen unterworfen, denn jede Ära hat ,Raum‘ auf radikal andere Weise definiert. Unter diesen Umständen werden wir den Cyberspace als neueste Iteration dieses facettenreichen Konzepts betrachten.
Das mittelalterliche Weltbild kannte zwei Arten von Räumen: physikalische und metaphysische. Ihren Streifzug beginnt Wertheim mit Dantes Beschreibung einer Seelenreise aus den neun Kreisen der Hölle hinauf in die kosmischen Sphären. Hölle und Fegefeuer, die Reiche des Fleisches und des Schmerzes, lokalisiert Dante tief im Inneren der Erde und an deren Oberfläche. Gelingt es der Seele nach den Stufen der Läuterung, das Fegefeuer zu verlassen, wird sie wie durch ein Wurmloch aus der physikalischen Welt in das immaterielle Paradiso befördert. Sie wirft die Last der Körperlichkeit ab und verwandelt sich in ein „warp speed”-schnelles Lichtwesen.
Virtuelle Räume, so Wertheim, sind vermittelte Räume. Kunst und Wissenschaft haben dabei gleichermaßen Anteil. Beim Übergang von der mittelalterlichen Dichotomie eines gleichberechtigten Nebeneinanders von Diesseits und Jenseits zur neuzeitlichen rein physikalischen Annahme einer riesigen formlosen dreidimensionalen Leere zeigt sich, wie eng Wissenschafts- und Kunstgeschichte einander berühren. Es waren die Renaissancemaler, die mit einer systematischen Erforschung der Perspektive den euklidischen Raum vorausdachten. Galileo stellte das von Giotto, Piero della Francesca und Leonardo entwickelte Raumkonzept in einen wissenschaftlichen Kontext und machte es zur Basis der neuzeitlichen Physik. Den Sieg der Materie sollte dann Newtons Gravitationsgesetz besiegeln: Wo physikalische Kräfte wirken, muss Materie sein – eine „metaphysische Bombe” hinsichtlich der Himmelskörper. Der Kosmos war jetzt voll von Materie.
Mit der Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie wird dem Universum eine aktive Dimension zugeschrieben. Der vormals passive Raum erhält Struktur und Dynamik, als Membran gedacht, ist er durch extreme Krümmung sogar in der Lage, Schwarze Löcher hervorzubringen. Eine düstere Vision, die Wissenschaftler und Science-Fiction-Autoren gleichermaßen fasziniert. Die Hyperraum-Physik erhöhte die Zahl der Dimensionen des Raums um ein Vielfaches. Trotz alledem entstand mit dem Cyberspace ex nihilo ein gänzlich neuer Raum, der sich der physikalischen Erfassbarkeit entzieht. „Wenn man in den Cyberspace ,geht‘, läßt man die Gesetze Newtons und Einsteins hinter sich. ” Mit der Geburt des digitalen Raums kommt die mittelalterliche duale Sicht wieder zum Tragen und mit ihr eine neue religiöse Dimension.
Die Idee der virtuellen Datenwelt als „verlorenes Paradies” hat William Gibson 1984 in seinem Roman Neuromancer vorgezeichnet. Gibson hat nicht nur – la lettre avant la chose – das Wort Cyberspace erfunden, er hat auch die pseudoreligiösen Kräfte erkannt, die in der Verschränkung von physisch bewohnbaren und rein mental betretbaren Räumen stecken. Wenn die Konsolen-Cowboys sich in die Matrix einstöpseln, gelangen sie, den Seelen Dantes gleich, aus der ärmlichen Hölle der Realität ans Licht, wo sie, nicht mehr länger „Gefangene ihres Fleisches”, körperlose Freuden genießen.
Wertheim nennt den Cyberspace ein „kollektives übersinnliches Reich”, in dem jeder die Möglichkeit hat, sich ein Cyber-Ich zu schaffen, das schöner, jünger, schlanker ist als die Person am Bildschirm. Wo Wertheim von einem „latenten Bedürfnis” nach Virtualität spricht, erkennt Elisabeth Bronfen in ihrer Matrix-Analyse ein quälend unheimliches Begehren, an einem anderen „Ort” zu sein: „Die Matrix ist das Oz des ausgehenden 20. Jahrhunderts. ” Wie aber ist der Umstand zu erklären, dass sich immer mehr Menschen, ohne Leib, dafür mit ganzer Seele, in virtuellen Welten aufhalten? „Benennen heißt erschaffen”, lautet Margaret Wertheims Antwort: „Innerhalb der Ontologie der Cyberwelten sind sie die Persönlichkeit, die sie schaffen” – William Gibson nennt das „Konsens-Halluzination”. Und in Alice hinter den Spiegeln finden wir zur virtual reality Folgendes: „Nun haben wir uns gegenseitig besichtigt” sagte das Einhorn, „wenn du an mich glaubst, glaub ich auch an dich. Abgemacht?”
SYLVIA SCHÜTZ
MARGARET WERTHEIM: Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet. Ammann, Zürich 2000. 361 S. 48 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Die ihr einlogt, laßt jede Hoffnung fahren
Margaret Wertheim vermißt virtuelle Räume ganz ohne Grafikkarte / Von Bernhard Dotzler

Erneut bestätigt sich "Star Trek" als treuer Spiegel der Illusionen, die über die technologische Gegenwart herrschen. Captain Kirk und seine Crew verkörperten die Übertragung des amerikanischen Frontier-Mythos auf die Raumfahrt. Mit der Enterprise der nächsten Generation nahm die Fernsehserie die Projektion desselben amerikanischen Traums in die Multimedia-Regionen des Cyberspace vorweg. "Unendliche Weiten . . .": So tönt - von seiten der Anbieter nicht anders als vom größten Teil seiner selbsternannten Philosophen - die Reklame für das Internet. Die ganze Logik der "Star Trek"-Abenteuer gleicht der jener MUDs (Multi User Dungeons), die der Science-fiction-Autor William Gibson als Paradebeispiel für seine Idee einer netzbasierten kollektiven "Konsens-Halluzination" bezeichnet hat.

Was ein rechter Fan ist, möchte freilich auch wissen, ob und wie die phantastischen Expeditionen im Fernsehen mit der wirklichen Welt vereinbar sind. "Du kannst die Gesetze der Physik nicht ändern", führte nicht umsonst der Chefingenieur der ersten Enterprise, Montgomery Scott alias "Scotty", gern aus. Das muß man auch nicht. Den berühmt-berüchtigten Warp-Antrieb zum Beispiel, der Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit ermöglicht, hat man im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie durchaus für denkbar erklärt. Ein Team der Nasa, heißt es, spekuliere tatsächlich über vergleichbare Formen eines Weltraumantriebs. Die Fiktion ist also nicht ausschließlich fantasy, sondern berührt die seriöse Wissenschaft, und deswegen kann man der Enterprise immer wieder außerhalb der engeren Fangemeinde begegnen. So auch in Margaret Wertheims "Geschichte des Raums von Dante zum Internet".

Für sie bedeutet "Star Trek" dreierlei. Zunächst besiegelt die Serie durch Popularisierung das Weltbild der jüngeren und jüngsten Physik. Außerdem steht sie für die medialen Möglichkeiten des Cyberspace, dessen imaginäre Szenarien spielend über alle physikalischen Beschränkungen hinwegsehen lassen. Insoweit beschreiben die Abenteuer des Föderationenraumschiffs ein Übergangsphänomen, das bei überkommenen Sicherheiten ansetzt, dabei jedoch in die - für seinen Fall ja sprichwörtlich gewordenen - neuen Welten aufbricht. Drittens aber soll die Phantastik, die "Star Trek" mit den virtuellen Realitäten im Internet teilt, zugleich einen Brückenschlag weit zurück in die Vergangenheit erlauben. Wie "der Cyber-Bereich heute", schreibt Wertheim, war schon das "Leben nach dem Tode", an das man im Mittelalter glaubte, "eine kollektive Parallelwelt der Phantasie". Insbesondere Dantes "Göttliche Komödie" schildert in diesem Sinne "eine der ,sagenhaftesten' Welten, die je in Worten beschworen wurden": "In gewisser Weise ist es ein echt mittelalterliches MUD."

Was die Verheißungen der heutigen MUDs und des Internets im allgemeinen angeht, liefert Wertheim, so redlich sie sich müht, ab und zu bedächtig den Kopf zu wiegen, lediglich ein weiteres Beispiel für die branchenübliche Kunst des Schönredens. Allerdings nimmt sie die einfachste und verläßlichste der mit dem Internet einhergehenden Prognosen auf ungewöhnliche Weise ernst: "Da immer mehr Medien, Firmen, Zeitungen, Zeitschriften, Einkaufszentren, Hochschulkurse, Bibliotheken, Kataloge, Datenbanken und Spiele ins Internet gehen, werden wir zunehmend gezwungen sein, Zeit im Cyberspace zuzubringen - ob wir das wollen oder nicht."

Das beschäftigt Wertheim, und während ihre Gleichsetzung der Fantasy-Verliese heutiger Computerspiele mit dem Purgatorium Dantes von einiger Einfalt zeugt, kann man der Kernfrage, um die es dabei geht, doch eine gewisse Dringlichkeit nicht absprechen. Die Kinder und Enkel der jetzigen system builders "werden wie im Mittelalter zunehmend eine zweigeteilte (eine physikalische und eine virtuelle) Wirklichkeit bewohnen". Das ist der Punkt. Der Cyberspace soll als Lebensraum begriffen und dazu vor dem Hintergrund "einer allgemeinen Kulturgeschichte des Raumes" betrachtet werden.

In der "Geometrie des Raumes" vollendet sich, wie Wertheim meint, die "Erhöhung" des homogenisierten physikalischen Raums als "ontologischer Kategorie", zu der spätestens Galilei die Weichen stellte. In zwei frühen Vorträgen vor der Akademie in Florenz widmete dieser sich einer "Vermessung der Hölle Dantes". Aber so deutlich das belegt, welche Realität den von Dante beschriebenen Jenseitsreichen einst zukam, so endgültig besiegelte es deren Schicksal, indem er sie der Geometrie oder eben: der "Vermessung" unterwarf.

Für Dante dagegen waren die Hölle sowenig wie der Himmel vermeßbare Orte. Statt dessen schilderte er eine jenseitige, von den Schatten der Toten wie von Engeln bevölkerte Welt. An sie für eine Gemeinde zu erinnern, die sonst nur auf die Segnungen schnellerer Datenübertragungswege und verbesserter Grafikkarten achtet, ist vielleicht das Hauptverdienst dieses Buches. Wie Dante seinem Führer Vergil vertraut es sich dafür Kennern wie Jacques Le Goff und Samuel Y. Edgerton an. Der eine schrieb über die "Geburt des Fegefeuers", der andere über "Giotto und die Erfindung der dritten Dimension". Unter solcher Anleitung kann fast nichts schiefgehen.

Weil man nun aber inzwischen auch von den Dämonen im Cyberspace immer lauter reden hört, möchte Wertheim nicht hintanstehen und eine Art Wiederkehr der Zeiten feiern, in denen man von der parallelen Wirklichkeit eines Existenzraums jenseits des Reichs physikalischer Gesetzmäßigkeiten überzeugt war. Daß solche Zeiten zu fern sein könnten, um sie anders denn als unwiederbringlich verloren wahrzunehmen, reflektiert sie nicht. An dieser Stelle übernimmt wieder allein die Phantastik die Regie. In "Star Trek"-Manier kann man leicht die "neun Kreise der Hölle, neun Terrassen des Fegefeuers und neun Sphären des Himmels" mit dem vergleichen, was "auch in vielen MUDs mit mittelalterlicher Szenerie und Kämpfen" geschieht. Man kann sich genauso leicht vorstellen, von welcher beratenden Stimme sich Wertheim vor allem leiten ließ. Sie hat den Klang von Captain Jean-Luc Piccard, wenn er kommandiert: "Make it so!"

Margaret Wertheim: "Die Himmelstür zum Cyberspace". Eine Geschichte des Raums von Dante zum Internet. Aus dem Englischen von Ilse Strasmann. Ammann Verlag, Zürich 2000. 364 S., Abb., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Daran zu erinnern, dass das Leben in imaginären Räumen und Zeiten keine Erfindung des Cyberspace ist, nennt Bernhard Dotzler `vielleicht das Hauptverdienst` dieses Buches. Neben ihrer Beschäftigung mit Dantes Hölle ist für die Autorin jedoch vor allem die Fernsehserie `Star Treck` wichtigster Gegenstand ihrer Untersuchung, schreibt der Rezensent. Er stimmt ihr zu, dass mit dem Vehikel des Raumschiffes nicht nur eine Popularisierung des neueren physikalischen Weltbildes erfolgte, sondern vor allem ein `Brückenschlag` in Vergangenheit und Zukunft; außerdem ermöglichte es `eine kollektive Parallelwelt der Phantasie`, wie sie heute vor allem durch Fantasy-Videospiele existiert. Die Gleichsetzung von Dantes Hölle mit den MUDs (Multi-User-Dungeons) zeugt, schreibt Dotzler, jedoch `von einiger Einfalt`. Dennoch bestätigt er die `Dringlichkeit` der Ausgangsfrage für Wertheim, nämlich was durch den immer zeitaufwendigeren Aufenthalt einer zunehmenden Zahl von Menschen im `Cyberspace` als `Lebensraum` mit dem physikalischen Raum als `ontologischer Kategorie` wird. Und überhaupt lobt Dotzler das Buch mehr für die Fragen, die es stellt, als für die Antworten, die es gibt; die sind ihm allesamt zu `wenig reflektiert`.

© Perlentaucher Medien GmbH"
"Die Autorin hat eine faszinierende und köstlich zu lesende (Kultur-)Geschichte des Raums geschrieben, die einen profund argumentierten Bogen schlägt vom Mittelalter zum Digital Age. Für alle jene, die darüber nachdenken, ob sie nun beim Surfen im Paradies oder lost in space sind." (Süddeutsche Zeitung)