Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250104155
  • ISBN-10: 3250104159
  • Artikelnr.: 08842940
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Mit der Wucht eines wassertriefenden Schneeballs
Herausgefallen aus dem amerikanischen Traum: Das grandiose Romanfragment "Juneteenth" aus dem Nachlaß von Ralph Ellison / Von Friedmar Apel

Ralph Ellison aus Oklahoma bezweifelte, daß ein amerikanischer Romancier mehr als ein Meisterwerk zustande bringen kann. So mußte er es als schwere Bürde empfinden, daß sein erster Roman "The Invisible Man" (1952) ihm sogleich einen Platz auf der oberen Stufe der modernen Romankunst einbrachte, gleich neben seinen Vorbildern Melville, Mark Twain und Faulkner. In diesem Bildungsroman aus dem Geiste des schwarzen Predigertums und der Musik Louis Armstrongs ("What did I do to be so black and blue?") hatte Ellison in der Unsichtbarkeit eine repräsentative literarische Chiffre der schwarzamerikanischen Identität gefunden.

Noch vor der Veröffentlichung von "Der unsichtbare Mann" begann der spätere New Yorker Literaturprofessor mit der Arbeit an seinem zweiten großen Werk, in dem die Frage nach der Sichtbarkeit der amerikanischen Seelenverfassung und ihrer angemessenen sprachlichen und musikalischen Darstellung noch einmal grundsätzlicher gestellt werden sollte. Das wuchs sich in über vierzig Jahren zu einer gewaltigen Unternehmung aus, die der Autor bis zu seinem Tod 1994 nicht abschließen konnte oder wollte. Nach dem letzten Stand seiner Pläne sollten es drei Bücher in einem riesigen Band werden.

Die mittlere Tafel des Triptychons hat der Nachlaßverwalter John F. Callahan am 19. Juni 1999 ("Juneteenth"), dem Feiertag der Sklavenbefreiung in Texas von 1865, nicht ohne schlechtes Gewissen ("Ich kam mir dabei vor wie Prokrustes") unter dem auch von Ellison erwogenen Titel aus den nachgelassenen Materialien herausgegeben. Das blieb nicht ohne Kritik. So war der mit dem Autor gut bekannte Harold Bloom überzeugt, daß Ellison die Veröffentlichung nicht gutgeheißen hätte. Der Ammann-Verlag, der sich seit einigen Jahren um Ellisons Werk kümmert, legt diese Edition nun wohlkommentiert und in der sorgfältigen, Fremdheiten zugunsten der Sachrichtigkeit und Formtreue nicht scheuenden Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié vor. Wie von Ellison vorgesehen, lautet die Widmung "Für jenes verschwundene Volk, in das ich geboren wurde: Die amerikanischen Neger."

Die Figur des Predigers, die bereits im ersten Roman eine wichtige Rolle spielt, ist in "Juneteenth" vervielfacht; so ergeben sich mehrfache historische und aktuelle Perspektiven der schwarzen Selbstbefragung durch aktualisierende Bibelauslegung, insbesondere der Bücher Jona und Hiob. Die Erzählung vollzieht sich ohne festen Zeitbezug in der vom Jazz entlehnten Struktur des Wechselgesangs zwischen den beiden Hauptpersonen. Da ist der Reverend Alonzo, genannt "Daddy" Hickman, ein ehemaliger Sünder und Jazzposaunist, der nun als "goldene Stimme" und "Posaune Gottes" alle Töne der Ansprache beherrscht, eine idealtypisch humane Figur aus der Welt des alten Südens, wie sie Mark Twain nicht besser gelungen wäre. Neben Gott ist der Philosoph und Kritiker Ralph Wado Emerson sein Gewährsmann.

Hickman ist einst auf merkwürdige Weise an ein Kind gekommen, und das hat seine Bekehrung bewirkt. Er hat den Knaben Bliss (Seligkeit) genannt und ihn zu einem Kinderprediger ausgebildet, der seinen Lehrmeister an Redegewandtheit bald übertreffen wird. Wie an Hickman selbst wird an Bliss die Parallelität des religiösen Führers und des Jazzmusikers (insgeheim auch des Dichters) deutlich. Im Wechsel der Töne und Rhythmen werden im Publikum jenseits der Botschaft Bewegungen und Gefühle freigesetzt, die dem Prediger wie dem Musiker eine Macht verleihen, die derjenigen des Politikers gleichkommt, nur daß sie sich nicht in Handlungen äußern muß. Wenn das aber geschieht, wie bei Martin Luther King, ist der Unterschied aufgehoben.

Der kleine Reverend jedenfalls hat den Zusammenhang bald herausgefunden und weiß nun, wie man Sehnsüchte zu seinem Nutzen bedient. Er ist daher seiner Gemeinschaft entlaufen und hat seine Identität gewechselt. Ein Netzwerk von schwarzen Dienstboten aber hat alle seine Schritte überwacht. So weiß Hickman, daß Bliss zunächst das Predigen als Showgeschäft betrieben hat. Das hat er als Mister Movieman beim Film fortgesetzt, was ihm wiederum zu einem politischen Amt verhalf. Als konservativer Senator Sunraider hat er sich schließlich einen Namen als eloquentester Negerhasser gemacht.

Die Handlung spielt auf nicht direkt bestimmbare Weise im Vorfeld der Bürgerrechtsbewegung. Der Roman beginnt mit einer rhythmischen Konfrontation der Ruhe und Gelassenheit der schwarzen Frömmigkeit des Südens mit der hektischen und paranoiden Sphäre der amerikanischen Politik in Washington. Eine altmodisch wirkende Gruppe von Schwarzen verlangt den Senator zu sprechen, um ihn zu warnen. Sie wird abgewiesen, und da verwandelt sich die Eröffnung mit einem harten Schnitt zu einem amerikanischen Furioso. Während Hickmans Gruppe unverändert ruhig auf den Besucherbänken sitzt, hält Sunraider in der Technik seines Lehrers eine Rede, die alle Register der amerikanischen Mythologie und Ideologie zieht: "Wieder werden wir beweisen, daß die kühnsten Träume der Menschheit in diesem großartigen Land nichts anderes sind als die Entwürfe und Blaupausen künftiger Realitäten, künftiger Technologien und Werke der Poesie. So wie einst unsere Vorfahren, die Pioniere, mit grobem Werkzeug und schöpferischer Phantasie den Herausforderungen von Wildnis, Bergen und Prärien trotzten, haben auch wir uns ein hohes Ziel gesetzt, das Ziel, dieser verwirrend vielfältigen und im ständigen Wandel begriffenen Gesellschaft eine noch menschlichere Gestalt zu geben."

Derart ist die Rede mehrdeutiges, politisches wie ethisches und poetologisches Programm. Hickman hatte Bliss einst gelehrt, die Neger als Verkörperung der Verheißungen der amerikanischen Demokratie zu begreifen und ihnen die Erhöhung der Unterdrückten zu predigen. Sunraider aber übersetzt den Erlösungsgedanken der christlichen Lehre und der schwarzen Volkspoesie in die Sprache der technokratischen Naturbeherrschung. In dauernder Veschränkung des äußeren Verlaufs und der Visionen des Sprechers kulminiert die Rede in einer gehässigen Ausgrenzung der Schwarzen aus dem amerikanischen Traum, in der er gleichzeitig seine eigene Identität verrät. Hickman aber weiß mit dem Leser, daß in dem großartigen Land verrückte Dinge geschehen, und so steht ruhig und gelassen ein junger Schwarzer auf und schießt auf den Senator. Es ist sein Sohn aus der verleugneten Beziehung zu einer Schwarzen.

Schon während der Schüsse aber haben sich Erinnerungsfetzen eingestellt, und so entfahren dem hochmütigen Politiker zu seinem Entsetzen unwillentlich die Worte des leidenden Christus, die er, in der Dunkelheit einer Kiste auf seinen theatralischen Auferstehungsauftritt wartend, bei den Gottesdiensten seiner Gemeinde so oft gehört hatte. In der Klinik verlangt es ihn nach Hickman, obwohl ihm die Vorstellung Ekel verursacht, zurückzumüssen "zu einem Haufen altmodischer Neger, die das Hirngespinst der Befreiung feiern und es dabei in einen Topf werfen mit der Auferstehung, mit Minstrelsshows und den Varieténummern der Wanderbühnen". Der Reverend aber stellt sich wie selbstverständlich ein, und am Krankenbett des Senators entfaltet sich nun die Erinnerung als multiperspektivische Wechselrede. So vollziehen sich offenbar die Worte des Predigers: "Nur wenn wir uns erinnern, können wir uns retten."

Diese Befreiung durch Gedenken wird in der Erzählung mit dem Schicksal der Gemeinschaft und in den erinnerten afroamerikanischen Legenden mit der Leidensgeschichte des Negervolks verwoben. Mag der Juneteenth vielleicht auch nur "der Festtag einer schönen Illusion" sein, so wird gleichwohl im poetischen Eingedenken die symbolische Wiedergeburt aus dem Geiste des Predigertums, aus den Mythen des alten Südens und des Blues und Jazz beschworen. So entsteht die überzeitliche Vision eines "Lebens nach dem Schlag unseres eigenen Herzens", in dem die einfache Denkungsart als Rhythmus über das Chaos der modernen Wirklichkeit siegen, in ihr die menschliche Gestalt wieder sichtbar machen soll.

Hatte Ellison die Thematisierung der "absurden amerikanischen Identität" im ersten Roman in genialer Ökonomie auf die Chiffre der Unsichtbarkeit zentriert, so exponiert er in "Juneteenth" das umgekehrte Problem der Sichtbarkeit. Bewußtsein soll poetischer Schauplatz werden. Der entscheidende Kunstgriff bei der Personengestaltung besteht darin, daß Bliss ein weißer Neger ist. Seine Herkunft wird dabei gerade so weit im dunkeln gehalten, daß sich der Konflikt einer rassistischen oder stammesgeschichtlichen Deutung entzieht. Seine Identität soll nicht von seiner Hautfarbe ableitbar sein. Hatte Ellisons Erzähler am Ende von "Der unsichtbare Mann" nur vorsichtig gefragt, ob er nicht vielleicht auf einer anderen Wellenlänge für alle gesprochen habe, so bildet sich nun die ganze Widersprüchlichkeit der amerikanischen Identität in der doppelten Doppelung von Hickman und Bliss beziehungsweise Sunraider ab. Darin soll das "Geheimnis des Einen im Vielen und des Vielen im Einen" sinnfällig werden.

Nicht zufällig steht die Frage nach der Sichtbarkeit im Mittelpunkt der Lehre Hickmans. Ihr zufolge kommt es gar nicht darauf an, wo man ist, sondern, was man sieht. Bliss soll lernen, sich zu vergewissern, daß er wirklich sieht, was er ansieht. Nur so kann er den Leuten "das Gute im Bösen zeigen" und "die Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit". Deshalb soll sich der kleine Prediger vor dem "Übermaß an Bildern" hüten, wie es das Kino bietet, wie überhaupt vor der vornehmlich bildlich vermittelten Hölle der modernen Waren- und Erlebniswelt. Um dieser Versuchung zu widerstehen, muß er das Übel freilich kennenlernen - und wenn schon, "dann auch richtig, mit Popcorn und Erdnüssen und Bonbons und Schokolade und allem, was dazugehört".

In einer hinreißenden Episode wird Bliss von der initialen Verheißung und Faszination der laufenden Bilder und der durch sie vermittelten Gewaltsamkeit der amerikanischen Mythen gepackt. Das ist aber nur noch die Bestätigung seiner inneren Verfassung, "denn längst hatten die Hufe galoppierender Pferde, hatten die blutrünstigen Rothäute und johlenden Cowboys und Kavalleristen die Landschaften meiner Phantasie aufgewühlt, und ich war getaumelt unter dem Aufprall der Gesichter, die mit der Wucht eines wassertriefenden Schneeballs auf den Augapfel einstürzten und auf der zarten Membran zerbarsten, wo sie ein Gefühl, ein Bild aus bläulichweißem Schmerz zurückließen, ein Pochen im Rhythmus des Pulsschlags, der das Blut in die Augen pumpte". Bald wird Bliss wissen, daß Illusionen bei Verdrängung des Schmerzes machbar, nützlich und verkäuflich sind. Fortan will er Lohn für seine religiöse Schauspielerei, und er wird das Spiel der Lügen spielen, "das obszöne Spiel des Leugnens und der Heuchelei auf Kosten der Armen und Unterdrückten".

Was der smarte kleine Reverend zu spät lernt, ist, daß die amerikanische Gesellschaft auch an ihm unsichtbar das Prinzip des "keep the nigger running" praktiziert hat. In einer turbulenten Szene, in der eine verrückte rothaarige Weiße behauptet, seine Mutter zu sein, wird er im Rassenkonflikt beinahe buchstäblich zerrissen. Jedenfalls erweist sich sein gesamter Aufstieg und Erfolg im nachhinein als Weglaufen vor dem, was er ist oder sein sollte. Und auch was das Glück war oder hätte sein können, wird ihm erst in der Erinnerung faßlich: die Liebe zu einem schwarzen Mädchen an einem sonnigen Nachmittag, die gekühlte Melone, die ihm Sister George reicht, während "der Irrsinn des Südens" sich im Abendwind abkühlt.

Ellison beschreibt diese Momente des verlorenen Glücks in traumschönen Bildern. Am Ende aber hat Bliss vielleicht doch nur das Leben geführt, "das seine Leute ihm als Zukunft zugedacht hatten". So erscheint er in allgemeinerer Perspektive als der Prototyp des wurzellosen Amerikaners, eines Heuchlers und Opportunisten aus Einsamkeit und Qual der Existenz. Auch der weise Daddy Hickman verläßt den Leser im Zweifel, was es genützt hat, aus der "Heidenfreiheit" gerissen zu werden. Mit der Annahme des vielleicht ja doch weißen Kindes hatte er beweisen wollen, "daß es etwas in der Welt gab, was stärker war als all das abergläubische Gerede von Blut und Gespenstern - . . . vielleicht konnte dieses Kind eine Hilfe für uns alle sein (war es hier, Hickman, wo dein Traum begann?)." Fehlte ihm Bliss als Mensch aus Fleisch und Blut oder nur "die Hoffnung, für die er gestanden hatte"?

Schließlich muß der Reverend erkennen, daß sein metaphysischer und zugleich kalkulierter Versuch, die Aussichtslosigkeit des Rassismus zu überwinden, selbst den Projektionsmechanismen des Gesellschaftlichen folgte, insoweit er Bliss auch als Senator noch als Mittel hatte benutzen wollen; in der frommen Hoffnung, daß der seine Macht eines Tages "zum Guten aller einsetzen" würde. Mysterium und Macht, Hoffnung und Enttäuschung verwirren sich ihm schließlich zur Ununterscheidbarkeit. Der Plan wie der Traum erweisen sich als gescheitert, aber die Tatsachen sind nicht unbedingt die Wahrheit, und so erblickt Hickman in äußerster Zuspitzung der Widersprüche in dem todwunden Senator auf dem Krankenhausbett "unser ganzes Volk" und vielleicht sogar den einsam leidenden Christus am Kreuz.

Das Ende des Romans (in der von Callahan gebotenen Fassung) ist aber wenig heilig, sondern fast albern. Selbst in dieser auf den Hauptstrang reduzierten Version werden die Konturen einer überdimensionalen amerikanischen Saga sichtbar. Das Buch ist theatralisch, geschwätzig und mitreißend wie ein Gospel-Gottesdienst, provozierend und grotesk wie acht Neger in einem weißen Cadillac Fleetwood, dem "herrlichen Produkt amerikanischer Ingenieurskunst", populär und transgressiv wie die Musik Louis Armstrongs, verzweifelt und gelassen wie der Blues, selbstreflexiv und lebenszugewandt wie die Philosophie Emersons, alles aber getränkt vom bitteren Charme des alten Südens.

Dieses grandiose Fragment ist das Zeugnis einer großen Liebe zum "verrückten Land Amerika". Ihre Enttäuschung machte Ellison das Schreiben als Gedächtnis des Leidens wie der Träume von einer besseren Welt um so notwendiger.

Ralph Ellison: "Juneteenth". Roman. Herausgegeben und mit einem einführenden Nachwort von John F. Callahan. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Ammann Verlag, Zürich 2000. 459 S., geb., 49,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Hatte Ellinson in seinem Erstlingsroman von 1952, "The invisible Man", die Unsichtbarkeit zur "literarischen Chiffre der schwarzamerikanischen Identität" gemacht, so sei in "Juneteenth" die Sichtbarkeit das Thema, erklärt Friedmar Apel. Sichtbar ist die Hautfarbe, und der Kunstgriff Ellisons bestünde darin, erläutert Apel weiter, einen "weißen Neger" zur Hauptfigur zu machen, Adoptivsohn eines schwarzen Predigers, der sich zum Schwarzenhasser entwickelt. Apel leitet Ellisons Schreiben aus dem Geiste des afroamerikanischen Predigertums und der Musik eines Louis Armstrong ab; der Fragment gebliebene Text, der erst nach dem Tode Ellisons veröffentlicht wurde, sei strukturiert wie ein Wechselgesang zwischen den beiden Hauptpersonen. Wenn es um die Musikalität und Theatralität des Buches geht, gerät Apel ins Schwärmen: "mitreißend wie ein Gospel-Gottesdienst, provozierend und grotesk wie acht Neger in einem weißen Cadillac Fleetwood". Wow! Bloß den Schluss findet der Rezensent albern, womit er denjenigen Recht geben könnte, die die Veröffentlichung eines nachgelassenen Textes für unlauter halten. Der Verlag mache das aber durch eine sorgfältig dokumentierte Ausgabe wett.

© Perlentaucher Medien GmbH"