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Der `Schwarm` hat sich zu einer der machtvollsten und zugleich umstrittensten politischen Symbole unserer vernetzten Gesellschaft entwickelt. Auf der Grundlage des Web 2.0 und der sozialen Medien finden sich Bürger zusammen, um emergente Kollektivität in Form menschlicher Schwarmbildung zu entfalten. Der liberale Verfassungsstaat muss einerseits die neuen demokratischen Legitimationspotenziale dieser menschlichen Schwärme fördern und aufgreifen, um nicht den Anschluss an die digitalen Formen gesellschaftlicher Kommunikation zu verlieren. Andererseits ist er aber auch verpflichtet,…mehr

Produktbeschreibung
Der `Schwarm` hat sich zu einer der machtvollsten und zugleich umstrittensten politischen Symbole unserer vernetzten Gesellschaft entwickelt. Auf der Grundlage des Web 2.0 und der sozialen Medien finden sich Bürger zusammen, um emergente Kollektivität in Form menschlicher Schwarmbildung zu entfalten. Der liberale Verfassungsstaat muss einerseits die neuen demokratischen Legitimationspotenziale dieser menschlichen Schwärme fördern und aufgreifen, um nicht den Anschluss an die digitalen Formen gesellschaftlicher Kommunikation zu verlieren. Andererseits ist er aber auch verpflichtet, demokratische Institutionen wie beispielsweise das Parlament und das freie Mandat gegen Schwarmangriffe zu schützen. Indem der liberale Verfassungsstaat in seinen repräsentativen, plebiszitären, partizipativen und assoziativen Legitimationssträngen Schwarmkontakte akzeptiert und herstellt, wandelt er sich - jedenfalls ein Stück weit - zu einer Schwarmdemokratie.
Autorenporträt
Jens Kersten, Prof. Dr., geb. 1967, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2017

Was genau sollen uns die Bienen lehren?
Der Jurist Jens Kersten versucht sich einen Reim auf die Möglichkeiten einer Schwarmdemokratie zu machen

Menschen mit anderen Staaten bildenden Tieren zu vergleichen, zum Beispiel mit Ameisen oder Bienen, ist seit jeher ein beliebtes Mittel der Sozialphilosophie. Jens Kersten tut es, indem er sich den Begriff der "Schwarmdemokratie" vornimmt: durch die gesunkenen Kommunikationskosten des Internets und die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Social-Media-Kontakten können Individuen sich in Schwärmen organisieren, die spontan auftreten, vernetzt agieren und oft ebenso schnell wieder in sich zusammenbrechen. Ob Flashmobs oder "Shit storms" - der Schwarm scheint für den Leviathan zunächst bedrohlich, er scheint das unfassbare "Andere" der festen staatlichen Ordnung zu sein. Kersten dagegen plädiert gelassen für ein konstruktives Miteinander von Schwarm und Demokratie.

Er lässt sich von der Insektenkunde inspirieren, grenzt sich aber gerade auch von ihr ab, wirft Schlaglichter auf die Ideengeschichte, führt zahlreiche literarische Verweise ein, durchbrochen von meta-theoretischen Reflexionen. Mal überzeugen diese Überlegungen, mal weniger - Mandeville zum Beispiel hatte in seiner Bienenfabel nicht nur das Schwärmen, sondern vor allem auch den spontanen Tausch, also das Marktprinzip, im Blick -, aber immer sind sie anregend, und in der Gesamtschau beeindruckend. Stets hebt Kersten die Ambivalenz von Schwärmen hervor und deckt die Schwachpunkte sowohl der Glorifizierung als auch der Verdammung von Schwarmphänomenen treffsicher auf.

Trockener im Ton, aber in der Sache nicht weniger interessant und weiterhin gut verständlich wird es, wenn er sich dem juristischen Umgang mit den neuartigen, vor allem internetbasierten Schwarmphänomenen zuwendet. Ein Schwarm benötigt, anders als zum Beispiel eine Firma, keine eigene Rechtspersönlichkeit. Sein Auftreten ist durch die Rechte der ihn konstituierenden Individuen abgedeckt, zum Beispiel ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Andererseits werden die Rechte der Schwärmenden durch die Rechte der Beschwärmten, etwa der Eigentumsrechte von Website-Betreibern, beschränkt.

So weit, so wenig überraschend. Auch die Neukomposition der politischen Öffentlichkeit, weg von den klassischen Medien mit ihrer Filterfunktion, hin zu den multipolaren sozialen Medien mit ihren Möglichkeiten der Schwarmbildung, gehört zu den vieldiskutierten Themen der letzten Jahre. Sie dienen Kersten jedoch nur als Sprungbrett, um einige bedenkenswerte Reformvorschläge auf den Tisch zu legen. Demokratie sei grundsätzlich in pluralen Formen denkbar, und im Grundgesetz auch so beschrieben, sie solle deswegen nicht zu eng auf das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation festgelegt werden.

Die Piratenpartei habe in der jüngsten Vergangenheit einige der Möglichkeiten schwarmförmiger Organisationsformen innerhalb des bestehenden parteigesetzlichen Rahmens ausgelotet, die andere Parteien als Impulse verstehen könnten. Dafür wäre, so Kersten, eine Flexibilisierung des Parteiengesetzes wünschenswert, um mehr Online-Partizipation oder auch Crowdfunding zuzulassen. Die Bedingungen der Datensicherheit freilich, die er wie selbstverständlich aufstellt, könnte zum Pferdefuß solcher Vorschläge werden. Unbeirrt vom Brexit-Referendum und anderen eher nachdenklich stimmenden Fällen von Volksentscheiden, plädiert Kesten auch für die Stärkung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene, über die bestehende Petitionspraxis hinaus.

Klar wird aber auch: Kersten will Ergänzungen durch schwarmförmige Elemente, keine Ersetzungen. Das wirft die heikle Frage auf, wie damit umzugehen ist, wenn die zu deren Stabilisierung notwendigen Formen des politischen Engagements, etwa in Parteien, durch schwarmförmiges Verhalten verdrängt werden. Die Bienen und Ameisen, die immer wieder vergleichend herangezogen werden, haben ihre Stöcke und Hügel, und auch das soziale Tier Mensch braucht, allem Schwärmen zum Trotz, eine feste politische Ordnung und die von Hannah Arendt beschworene gemeinsame Welt, um sich demokratisch und rechtsstaatlich organisieren zu können. Kersten empfiehlt dem Leviathan sozusagen, die Schwärme zu umarmen - aber was, wenn dieser Leviathan, der ja aus den gleichen Individuen besteht, komplett zum Schwarm zu werden droht?

Schade ist auch, dass Kersten nicht so weit geht, die Schwarmlogik über die Frage "legal oder illegal?" hinaus weiter auszudifferenzieren und genauer danach zu fragen, welche Schwärme in einer demokratischen Gesellschaft wirklich unterstützenswert sind: jene, die von Ressentiments oder "Not-in-my-Backyard"-Instinkten getrieben werden, oder solche, die das Wissen der vielen zusammentragen und wirklich so etwas wie eine "kollektive Intelligenz" darstellen? Jene, die möglicherweise von sehr kleinen Interessengruppen angetrieben und durch "social bots" künstlich verstärkt werden - ein Thema, das nur am Rande gestreift wird -, oder solche, die den räumlich zerstreut lebenden, aber gemeinsam von einer Angelegenheit Betroffenen eine gemeinsame Stimme geben?

Zugestanden, die Antworten auf derartige Fragen verlangen eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Expertise, die auch von einem so breit aufgestellten und versierten Juristen wie Kersten nicht zu verlangen ist. Was das Verständnis unterschiedlicher Arten von Schwärmen angeht, sind die wissenschaftlichen Untersuchungen am Laufen und kämpfen damit, mit ihrem wandelbaren Gegenstand Schritt zu halten. Doch was genau die Potentiale und Risiken einer "Schwarmdemokratie" sind, und ob es wünschenswert ist, sich in diese Richtung zu bewegen, wird sich wahrscheinlich erst entscheiden lassen, wenn Demokratien noch mehr Erfahrungen mit Schwärmen gesammelt haben. Kerstens lesenswerte Analyse lässt sich als ein Plädoyer verstehen, den Weg dorthin nicht vorschnell durch juristische Engstirnigkeit oder politische Abwehrreflexe zu verstellen.

LISA HERZOG

Jens Kersten: "Schwarmdemokratie". Der digitale Wandel

des liberalen

Verfassungsstaats.

Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017.

317 S., br., 24,- [Euro].

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