Produktdetails
  • ISBN-13: 9783161480874
  • ISBN-10: 3161480872
  • Artikelnr.: 12100055
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2003

Das Völkerstrafrecht riecht den Duft gebratener Extrawürste schon von weitem
Eine Pionierleistung: Gerhard Werle schildert die Versuche, das Prinzip der gleichen Souveränität der Staaten zugunsten des Schutzes der Menschenrechte einzuschränken

"Völkerstrafrecht" klingt nicht zufällig schräg. Im "Täterstrafrecht" werden Täter bestraft. Im "Völkerstrafrecht" werden aber nicht Völker (Staaten), sondern gleichfalls individuelle Täter bestraft. Es heißt so, weil die Staaten es geschaffen haben und weil es Taten gibt, die Staaten berühren. Schulbeispiele sind die Verbrechen, die im Namen Deutschlands bis 1945 begangen und vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 bestraft wurden. Gegen die Nürnberger Urteile ist eingewandt worden, sie hätten das Rückwirkungsverbot verletzt. Aber bereits die Siegermächte des Ersten Weltkrieges haben versucht, deutsche Repräsentanten wegen Kriegsverbrechen zu bestrafen. Das Prinzip scheint also schon vor 1945 gegolten zu haben. Trotzdem betont Werle: "Das Rückwirkungsverbot hindert die Bestrafung staatlicher Machthaber wegen von ihnen begangener Völkerrechtsverbrechen nicht." Rückwirkung ist tatsächlich ein Problem. Aber das Hauptproblem liegt woanders.

Hitler hat nicht als einzelner Mensch sechs Millionen Juden umgebracht, und einen verbotenen Angriffskrieg kann man nicht allein beginnen. Beide Untaten setzen riesige Organisationen voraus, Gruppen, die zu einem bösen Zweck zusammenarbeiten. Bestrafen will das Völkerstrafrecht aber nur einzelne Menschen. Das zwingt zur Frage nach dem Sinn der Strafe. Wenn die Strafbarkeit des Täters und die realen Bedingungen der Straftat so weit auseinanderfallen, können die bekannten Straftheorien die Bestrafung kaum rechtfertigen. Abschreckung? Wen oder was haben die Nürnberger Urteile abgeschreckt? Wiedereingliederung in die Gesellschaft? Kaum jemand war besser integriert als die Naziverbrecher. Nach dem Krieg ging von ihnen auch keine Gefahr mehr aus. Man kann die ganze Liste der Strafgründe durchgehen. Kein Grund paßt, nicht einmal Hegels: Strafe als Negation der Negation des Rechts. Auch der Satz "Keine Strafe ohne Gesetz" kann nicht gelten, weil die Täter von Völkerrechtsverbrechen zu oft ihre positiven Gesetze selbst machen können. Insgesamt schließt die Dimension von Völkerrechtsverbrechen deren Ahndung in normalen rechtsstaatlichen Strafverfahren aus. Unter diesen Umständen war die "Siegerjustiz", die früher waltete, vielleicht doch nicht so willkürlich, wie es heute scheint.

Aber die Erinnerung an "Siegerjustiz" läßt den gewaltigen zivilisatorischen Fortschritt erkennen, der in dem Versuch steckt, politische Großverbrechen rechtsstaatlich einzufangen. Dieser Versuch ist Teil der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, das Prinzip der gleichen Souveränität der Staaten zugunsten des Schutzes der Menschenrechte einzuschränken. Am meisten profitieren davon übrigens die Täter. "Siegerjustiz" kennt nur kurzen Prozeß, weil Siegern alles klar scheint. Da ist das "Hang him, but give him a fair trial" doch besser, weil es die schreckliche Unmittelbarkeit des Siegers aufbricht. Ähnlich muß man das Völkerstrafrecht betrachten. Daß es die Gerechtigkeit gegenüber Individuen verbessert, mag man bezweifeln. Aber die Bestrafung der Verbrecher symbolisiert das Unwerturteil über die Verbrechen. Das öffentliche Unwerturteil könnte die Wiederholung der Untaten tatsächlich einschränken. Mindestens gestattet es den Opfern, sich auf die Norm zu berufen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Werles "Völkerstrafrecht" eine Bedeutung, die manche juristischen Lehrbücher hatten, solange das gesetzte Recht große Lücken aufwies. Es legt fließendes Recht fest und wird dadurch zum Quasi-Gesetz, in das der Jurist schaut, wenn er sich der Traditionen, Prinzipien und grundlegenden Entscheidungen eines Rechtsgebietes vergewissern will. Werles Buch wird diesem hohen Anspruch gerecht.

Der Aufbau ähnelt dem von Darstellungen des innerstaatlichen Strafrechtes: Begriff, Entwicklung und Einordnung des Völkerstrafrechtes, Allgemeiner Teil: äußere und innere Tatseite, Straffreistellungsgründe und Beteiligungsarten, Besonderer Teil: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskrieg, alles reich mit Präjudizien, Vertrags- und Gewohnheitsrecht belegt. Zentrale Texte, etwa das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, und nützliche Verzeichnisse der Entscheidungen, Normen und Gegenstände runden die Darstellung ab.

Daß sich die Darstellung am deutschen Recht orientiert, obwohl sie Völkerrecht behandelt, war unausweichlich. Es gibt noch keine allgemein akzeptierte völkerstrafrechtliche Dogmatik. Das Völkerrecht muß den Rationalisierungsgewinn, den die Orientierung am staatlichen Gesetzgebungsmonopol bietet, erst noch einholen. Insofern ist das Buch eine Pionierleistung. Die Alternative wäre nur die Orientierung an einem anderen nationalen Recht gewesen. Aber seit Gustav Radbruchs "Geist des Englischen Rechts" (1946) wissen wir, daß die deutsche Strafrechtsdogmatik schärfer unterscheiden kann als die englische.

Die Verbindung von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht verlangt allerdings Gewöhnungen. "Völkerstrafrechtsfreundliche Auslegung" zum Beispiel meint nur die Auslegung des nationalen Strafrechtes mit völkerrechtlichen Bezügen im Sinne des Völkerrechts und nicht die Aufhebung des Satzes "Im Zweifel für den Angeklagten". Die Aufdröselung der inneren Tatseite ist natürlich richtig, mutet aber angesichts der empörenden Ungeheuerlichkeit mancher Verbrechen etwas geschäftsmäßig an. Daß Apartheid unter die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefaßt wird, kann man zur Not verstehen. Aber daß der Tatbestand seit der Überwindung des Apartheidregimes in Südafrika nur noch symbolische Bedeutung haben soll, läßt darauf schließen, daß das Apartheidverbot eine Lex Südafrika war. Besonders im Strafrecht sind solche Einzelfallgesetze aber eigentlich unzulässig.

Damit ist bereits angedeutet, daß die begrüßenswerte Völkerstrafrechtsfreundlichkeit des Werkes eine Kehrseite hat. Das Völkerstrafrecht steckt voller Abgründe. Das Werk überspringt sie vielfach. Die fundamentale Frage, die besonders die Vereinigten Staaten zu beunruhigen scheint: Wie verhält sich das Völkerstrafrecht zur Politik? berührt es nicht. Das Apartheidverbot beispielsweise kann man auch als geschickten Zug im Kampf um die Macht in Südafrika sehen. Aber es wäre unfair, weiter zu bohren. Wenn man ein neues Rechtsgebiet festigen will, muß man mit dem Prinzip Hoffnung alle Bedenkenträger in die Flucht schlagen. Der Rezensent bekennt sich geschlagen und sagt: eine bedeutende Leistung.                  

GERD ROELLECKE

Gerhard Werle: "Völkerstrafrecht". Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2003. XXXI, 553 S., geb., 89,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Thomas Kreuder ist von dieser ersten systematischen Darstellung des Völkerstrafrechts - zumindest "aus deutscher Feder" - sehr beeindruckt. Er lobt diese Studie als juristisch genau, umfassend und trotz der komplexen Materie verständlich geschrieben. Wie wir vom Rezensenten erfahren, behandelt das Buch zunächst die allgemeinen Aspekte der Strafbarkeit, um dann einzelne Tatbestände zu erläutern, bei denen sich das Autorenteam um Gerhard Werle auf das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wie auf die Tribunale zu Ruanda und Jugoslawien stützt. Im historischen Abriss wird dargelegt, wie sich einzelne Bestimmungen entwickelt haben. So geht die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten etwa auf biblische Zeiten zurück, berichtet Kreuder, die Ächtung des Krieges dagegen datiert erst auf das Ende des Ersten Weltkriegs. Kritik übt der Rezensent am hohen Preis, immerhin 89 Euro, hofft aber, dass er der Verbreitung des Buches nicht im Wege steht.

© Perlentaucher Medien GmbH