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Der Mensch sehnt sich danach, ganz zu sein. Damit gesteht er sich aber gleichzeitig seinen eigenen Mangel ein: das menschliche Leben muß erst ganz werden. Schleiermacher hat das als unmittelbares Selbstbewußtsein bestimmte Gefühl für den Ort gehalten, in dem sich "die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins" ereignet. Sollte das Gefühl wirklich ein solcher Ort sein, ist es zugleich ein Ort der Antizipation des ewigen Friedens in Gottes kommendem Reich. Daß es solche Antizipationen gibt, setzt Eberhard Jüngel in den Aufsätzen dieses Bandes ebenso voraus, wie die Tatsache, daß sich…mehr

Produktbeschreibung
Der Mensch sehnt sich danach, ganz zu sein. Damit gesteht er sich aber gleichzeitig seinen eigenen Mangel ein: das menschliche Leben muß erst ganz werden. Schleiermacher hat das als unmittelbares Selbstbewußtsein bestimmte Gefühl für den Ort gehalten, in dem sich "die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins" ereignet. Sollte das Gefühl wirklich ein solcher Ort sein, ist es zugleich ein Ort der Antizipation des ewigen Friedens in Gottes kommendem Reich. Daß es solche Antizipationen gibt, setzt Eberhard Jüngel in den Aufsätzen dieses Bandes ebenso voraus, wie die Tatsache, daß sich "die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins" nicht von selbst einstellt. Sie wird uns vielmehr durch die sakramentale Kraft des Evangeliums zugespielt. Die in diesem Band abgedruckten Aufsätze und Reden, die aus einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten stammen, bringen dies unter unterschiedlichen Aspekten zur Geltung.
Autorenporträt
Geboren 1934; 1961 Promotion; 1962 Habilitation; Professor emeritus für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Tübingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2003

Für ein Linsengericht tauscht er seine Sache nicht
Eberhard Jüngels Theologen-Narr ist ein Aufklärer im Morgenglanz der Ewigkeit

"Wie die Weltgeschichte das Weltgericht ist: so kann in noch allgemeinerem Sinne gesagt werden, daß das gerechte Gericht, das heißt die wahre Kritik einer Sache, nur in ihrer Geschichte liegen kann. Insbesondere in der Hinsicht lehrt die Geschichte denjenigen, der ihr folgt, ihre eigene Methode, daß ihr Fortschritt niemals ein reines Vernichten, sondern nur ein Aufheben im philosophischen Sinne ist." 1835 veröffentlichte der Tübinger Stiftsrepetent David Friedrich Strauß den ersten Band seines "Leben Jesu, kritisch bearbeitet". Die kritische Analyse der neutestamentlichen Überlieferungen rechtfertigte der junge Theologe mit Schillers Geschichtstheodizee von der Weltgeschichte als Weltgericht. Wie der einstige Stiftler Hegel verstand Strauß die kritische Historisierung religiöser Vorstellungen als negatives Durchgangsmoment zu ihrer wahrhaft positiven, rein begrifflichen Gestalt. Doch die pietistisch Frommen im Schwabenland sahen in Strauß' "Aufhebung" der neutestamentlichen Vorstellung in den philosophischen Begriff nur zerstörerisches Vernichten. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion ließ die württembergische Obrigkeit den kirchenkritischen Repetenten durch Polizeibeamte aus dem Stift entfernen. Im repressiven Klima des Vormärz erlebte Strauß Theologiegeschichte als inquisitorisches Glaubensgericht.

Heutzutage werden im Tübinger Stift ganz andere, freiheitliche Theologiegeschichten inszeniert. Die Stiftsoberen setzen allein auf die Kraft besserer Argumente. Eberhard Jüngel, der Stiftsephorus, sieht in Schillers "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" eine Fehldeutung christlicher Eschatologie. Beim Stuttgarter Hegel-Kongreß zeigt er den aus aller Welt zum großen Denkergedächtnis angereisten Hegel-Forschern, daß Schiller und Hegel die christliche Vorstellung vom göttlichen Endgericht gründlich mißverstanden haben. Zwar sei ihrer Kritik am pfäffischen Mißbrauch dieser Lehre, dem Erpressen von Sittlichkeit durch Angstmachen vor dem Jenseits, zuzustimmen und jede Moralisierung der Gerichtsrede abzuwehren. Die Gleichsetzung der "Weltgeschichte" mit dem "Weltgericht" zerstöre jedoch menschliche Freiheit und drohe den Menschen dramatisch zu überfordern. Jüngel will den lebensdienlichen, befreienden Sinn der alten Vorstellung vom extremum iudicium erschließen. Spielt sich der Mensch zum Richter über andere oder gar die Geschichte insgesamt auf, wird er schnell zum totalitären Terrorsubjekt, das rein aus eigenem Vermögen über gut und böse entscheiden und seine subjektiven Wertentscheidungen gewaltsam durchsetzen will. Der eschatologische Weltenrichter wirkt hingegen befreiend, weil er von vermeintlich letztgültigem menschlichen Richten samt eifernder Rechthaberei erlöst. Jüngel deutet das iudicium postremum als therapeutisches Ereignis schlechthin. Der Richterstuhl Gottes wird zum Inbegriff einer radikal entlastenden, für Täter wie Opfer heilsamen Aufklärung von Schuldzusammenhängen.

Jüngels Vortrag über "Weltgeschichte und Weltgericht" findet sich im neuesten, fünften Band seiner "Theologischen Erörterungen". Sechzehn Texte aus einem Zeitraum von gut dreißig Jahren spiegeln die faszinierende intellektuelle Konsequenz, mit der der Tübinger Systematische Theologe und Religionsphilosoph die "Sache" der Theologie zur Sprache bringt. Theologie konzipiert Jüngel weder im Sinne Schleiermachers als Auslegung des christlich frommen Bewußtseins noch mit Hegel als rein spekulative, begrifflich konstruktive Wissenschaft vom Absoluten. Er verknüpft Einsichten Luthers mit Begriffen Karl Barths und Kantischen Kritizismus mit Heideggerscher Daseinsanalytik zu einer vernehmenden Theologie, die allein "Gottes Wort", die Selbstoffenbarung im gekreuzigten Juden Jesus von Nazareth, nachbuchstabieren will. Jüngel weigert sich, den Reichtum der biblischen Überlieferung gegen das Linsengericht einiger philosophischer Satzwahrheiten einzutauschen. Er verteidigt das Eigenrecht metaphorischer Glaubenswahrheit gegen reduktionistische Rationalitätskonzepte und preist das helle Licht des Evangeliums als Quelle wahrer Aufklärung. Kants Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wird in der theologischen Denkfreiheit konkret, die individuelle Erfahrung befreiender Wahrheit zur Sprache zu bringen.

Zur 900-Jahr-Feier der Stadt Tübingen spricht der gefragte Festredner über "Christengemeinde und Bürgergemeinde". Beim Katholikentag 1999 erklärt Jüngel in subtiler Kritik römisch-katholischer Lehren vom Meßopfer, daß tiefgreifende konfessionelle Unterschiede in der Abendmahlslehre kein zureichender Grund sein können, Eucharistiegemeinschaft zu verweigern. Dem Abendmahl eigne eine alle Lehrdifferenzen überbietende sakramentale Wirkung. Als die Einheit der Kirche immer schon bewirkende Selbstrepräsentation Christi dürfe es nicht zum bloßen Ausdruck einer zukünftig einmal zu gewinnenden sichtbaren Einheit der empirischen Kirchen herabgesetzt werden. Die EKD-Synode erinnert Jüngel an gern vergessene Grundeinsichten der reformatorischen Theologie. Sein entschiedenes Drängen, wissenschaftliche Theologie sei zugleich "kirchliche Theologie", bedeutet keine Affirmation sichtbarer Kirchentümer. Manche Texte spiegeln auch das Leiden des Intellektuellen an der theologischen Gedankenlosigkeit, die in den beiden noch einigermaßen großen Kirchen grassiert. Man müsse "sich in der Evangelischen Kirche in Deutschland allmählich fast schon dafür entschuldigen, daß Theologen theologisch denken und reden".

Der Titel "Ganz werden" spielt an auf den Essay "Ganzheitsbegriffe" aus der Festschrift für den Tübinger Psychiater und Praktischen Theologen Dietrich Rössler. Gerade hier wird Jüngels modus loquendi theologicus sichtbar. Der Mensch sehne sich danach, ganz zu werden. Erlittener Mangel an Ganzheit aber bedürfe prägnanter Bestimmung, um überhaupt eine heilsame Überwindung des Leidens am bloß Fragmentarischen, Unvollkommenen denken zu können. So erörtert Jüngel die schon von Boethius entfalteten unterschiedlichen Ganzheitsbegriffe. Philosophische Distinktionskraft dient zur Kritik aller totalitären Konzepte des "Ganzen". Für den homo totus bezieht sich Jüngel auf Luthers bekannte "Disputatio de homine" des Jahres 1536. Der "ganze Mensch" könne, so Luther, nicht in philosophischen, sondern allein in theologischen Perspektiven wahrgenommen werden. Nur im Glauben werde der endliche Mensch auf Erden schon seiner Ganzheit inne. Glaube ist also eine allem diskursiven, analytisch trennenden Erkennen zuvorkommende Blickrichtung, in der der Mensch sich jenseits reiner, zirkulärer Selbstbezüglichkeit coram deo, mit Gottes Augen sieht. Auch hier dient die hermeneutisch sensible Aneignung alter dogmatischer Begriffe Jüngel dazu, den Menschen von zerstörerischem Ganzheitswahn zu befreien. Sub specie Dei sei der Mensch davon entlastet, sich seine Ganzheit in narzißtischer Selbstbezüglichkeit selbst schaffen zu müssen.

Jüngels "Theologische Erörterungen" gewinnen ihr klar konturiertes Profil aus präzisen Distinktionen. Mit klassischen Unterscheidungen der lutherischen Zwei-Reiche-Überlieferung entfaltet er ein pluralistisches Konzept politischer Öffentlichkeit. Die Kirche soll als Öffentlichkeit sui generis die anderen, weltlichen Öffentlichkeiten davor bewahren, den freiheitskonstitutiven Unterschied zwischen dem Wohl eines politischen Gemeinwesens und dem Heil des Individuums aufheben zu wollen. Selbst die Öffentlichkeit der Denkenden, die Universität, bedürfe theologischer "Kathedernarren", um die vielen akademisch eitlen Kathederpropheten in die Spiegel ihrer Illusionsrhetorik und Selbsttäuschungsprosa blicken zu lassen. Ein Narr darf die Wahrheit sagen, wo andere schweigen müssen oder aus Feigheit stumm bleiben. Jüngels Theologen-Narr ist ein Aufklärer im Morgenglanz der Ewigkeit. Die alle Texte durchschimmernde Metaphorik von "Licht" und "leuchten lassen" läßt sich als theologische Reflexion auf die Dialektik der Aufklärung und die in den Gewaltexplosionen des zwanzigsten Jahrhunderts katastrophal sichtbar gewordenen destruktiven Potentiale der Moderne deuten. Im Licht der Gnadensonne zeigt sich hinter den vielen Masken des "neuen Menschen" nur der alte Adam. Die dieses Licht im Prisma kritischer Reflexion bündelnde theologische Aufklärung sieht hinter den ideologischen Nebelschwaden menschlicher Selbstvergötzung den wahren Menschen, den gerechtfertigten Sünder. Mitten im diffusen Zwielicht des irdischen Lebens lassen sich helle Strahlen sehen, die das Licht des Jüngsten Tages wirft. Nur in diesem ewigen Licht wird der Mensch des Farbenreichtums der ursprünglichen Schöpfung gewahr.

Die sechzehn Aufsätze umfassen ein weites Themenspektrum, von der dogmatischen Trinitäts- und Kreuzestheologie bis hin zum eschatologischen Lehrstück vom Reich der Freiheit. In den ethischen Texten geht es um den Frieden als anthropologische Kategorie, die reformatorische Regimentenlehre und Karl Barths Sicht des Verhältnisses von Staat und Kirche. Doch so unterschiedlich die Themen, so klar der einheitliche Grundton. Alle Texte variieren die eine fundamentale Einsicht, daß die Kirche als Institution befreiender Wahrheit der Welt nichts als das Zeugnis des Evangeliums schuldig ist. Gegen die geschichtsreligiöse Identifikation von Weltgeschichte und Weltgericht setzt Jüngel seine evangelische Lichterlehre. Ohne eschatologische Differenzperspektive lassen sich in der Geschichte nur Zwielicht und Dämmerung wahrnehmen. Erst der deus incarnatus verschiebt die Sehepunkte. "Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein' neuen Schein, es leucht wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht." Wer in diesem Licht klarer denken will, sollte Jüngels "Theologische Erörterungen Band V" lesen.

FRIEDRICH WILHELM GRAF

Eberhard Jüngel: "Ganz werden". Theologische Erörterungen V. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2003. X, 365 S., br., 39,-, geb., 69,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Jan-Heiner Tück bringt in seiner Besprechung scharfe Kritik am Gros der zeitgenössischen Theologie unter, um diese dann in ein umso größeres Lob an Eberhard Jüngel umzumünzen: Während sich viele Vertreter der christlichen Religionslehre vor allem durch "Diskursanleihen" bei der weltlichen Philosophie hervortäten, sei Jüngel ein strahlendes Vorbild für die Konzentration auf das Eigentliche, das Wort Gottes. Der fünfte Teil seiner "Theologischen Erörterungen" versammle Texte zu einer Vielfalt von Themen, die aber immer wieder darum kreisten, "wie der Mensch mit sich und den anderen durch Gott ins Reine kommen kann", unfähig, wie er sei, aus sich selbst heraus zur erstrebten Ganzheit zu gelangen. Jüngels Antwort: Gottes Wort der Gnade, gesprochen in Jesus Christus. Durch die Erfahrung der Gnade werde der Mensch "befreit von dem Zwang, sich selbst der Nächste sein zu müssen", denn das sei ja Gott. Der Kirche komme nun die Aufgabe zu, diese Gnade darzustellen, um dem gestressten Zeitgenossen eine "elementare Unterbrechung" im ständigen Leistungsdruck zu verschaffen. Jüngels Buch, schreibt Tück, ist "von der ersten bis zur letzten Seite spannend zu lesen" und hat auch "beherzte Polemik" zu bieten - zum Beispiel gegen solche, die sich fremder Sprache bedienen.

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