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Geschichten aus der Nacht. Clemens Meyer ist ein Meister der Kurzgeschichte.Ein Lokführer, der die Nachtfahrten liebt, bis ein lachender Mann auf den Schienen steht. Ein Wachmann, der seine Runden um das Ausländerwohnheim dreht und sich in die Frau hinter dem Zaun verliebt. Ein Imbissbudenbesitzer, der am Hochhausfenster steht und auf die leuchtenden Trabanten der Nacht schaut. Souverän, rauschhaft und traumwandlerisch sicher erzählt Clemens Meyer von verlorenen Schlachten und überwältigenden Wünschen. Es sind Geschichten aus unserer Zeit, so zerrissen wie unser Leben, so düster wie die Welt, so schön wie die schönsten Hoffnungen.…mehr

Produktbeschreibung
Geschichten aus der Nacht. Clemens Meyer ist ein Meister der Kurzgeschichte.Ein Lokführer, der die Nachtfahrten liebt, bis ein lachender Mann auf den Schienen steht. Ein Wachmann, der seine Runden um das Ausländerwohnheim dreht und sich in die Frau hinter dem Zaun verliebt. Ein Imbissbudenbesitzer, der am Hochhausfenster steht und auf die leuchtenden Trabanten der Nacht schaut. Souverän, rauschhaft und traumwandlerisch sicher erzählt Clemens Meyer von verlorenen Schlachten und überwältigenden Wünschen. Es sind Geschichten aus unserer Zeit, so zerrissen wie unser Leben, so düster wie die Welt, so schön wie die schönsten Hoffnungen.
Autorenporträt
Meyer, Clemens§
Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein Debütroman 'Als wir träumten', es folgten 'Die Nacht, die Lichter. Stories' (2008), 'Gewalten. Ein Tagebuch' (2010), der Roman 'Im Stein' (2013) sowie die Frankfurter Poetikvorlesungen 'Der Untergang der Äkschn GmbH' (2016). Für sein Werk erhielt Clemens Meyer zahlreiche Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. 'Im Stein' stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet und für den Man Booker International Prize 2017 nominiert. 'Als wir träumten' wurde für das Kino verfilmt sowie 'In den Gängen' nach einer Erzählung von Clemens Meyer, beide Filme liefen im Wettbewerb der Berlinale. Im Frühjahr 2017 erschienen die Erzählungen 'Die stillen Trabanten'.

Literaturpreise:

Klopstock-Preis für neue Literatur 2020
Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2018/2019
Premio Salerno Libro d'Europa 2017
Finalist Premio Gregor von Rezzori 2017
Longlist Man Booker International Prize 2017
Mainzer Stadtschreiber 2016
Bremer Literaturpreis 2013
Shortlist Deutscher Buchpreis 2013
Stahl-Literaturpreis, 2010
TAGEWERK-Stipendium der Guntram und Irene Rinke-Stiftung, 2009
Preis der Leipziger Buchmesse, 2008
Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg, 2007
Märkisches Stipendium für Literatur, 2007
Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, 2007
Mara-Cassens-Preis, 2006
Rheingau-Literatur-Preis, 2006
Einladung zum Ingeborg Bachmann-Wettbewerb, 2006
Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse, 2006
2. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2003
Literatur-Stipendium des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 2002
1. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2001
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017

Dreck reicht nicht
Clemens Meyers Erzählungen "Die stillen Trabanten"

Eigentlich will Clemens Meyer so schreiben, dass es richtig wehtut. Er will von den Abgehängten und Versehrten, den vergessenen Männern und Frauen in unseren Kleinstädten und Vororten so erzählen, dass kein Zweifel an der echten Schicksalsschwere bleibt, von der ihr Leben niedergedrückt wird. Wie wenig Aussicht sie haben, woher der Frust kommt, der ihren Alltag bestimmt, und warum ein paar warme Worte aus den politischen Vorstandsetagen nicht helfen werden, um ihre Wunden zu heilen - davon will Meyer mit poetischen Mitteln berichten.

Wie dringend nötig nicht nur die Literatur, sondern unsere ganze Gesellschaft einen solchen Blick im Moment hat, das muss nicht extra betont werden. Die Gefühlskluft zwischen Hauptstädten und Provinz, zwischen progressiven Weltbürgern und vermeintlich engstirnigen Landbewohnern wird gerade immer größer. Und die politisch-soziale Unruhe, die aus der fehlenden Verständigung dieser beiden Lebenswelten resultiert, wächst rasant. Aufrüttelnde Erzählungen von den "stillen Trabanten" - so der lyrische Titel von Meyers neuer Prosaanthologie -, also den vagabundierenden, das Zentrum umkreisenden Körpern und Biographien, wären also hochwillkommen. Wären. Denn leider helfen Meyers Erzählungen auch nicht weiter. Und das liegt nicht am guten Willen, sondern an der literarischen Umsetzung, vor allem an einer Überanstrengung, mit der hier versucht wird, uns das hässliche Milieu der Außenseiter so drastisch wie möglich vor Augen zu führen.

Schon die ersten Seiten protzen nur so mit Vokabeln der Abweisung: verwilderte Grünfläche, harter Beton, herausgerissene Wurzeln, zerkratzte Gesichter, erbrochenes Blut. Ein Sicherheitsmann bewacht eine alte Russenkaserne, die jetzt zum Ausländerwohnheim umfunktioniert ist. Unter seinen Schuhen knirschen Glasscherben, und durch den Zaun knutscht er mit einer jungen Russin. Dann steht ein "Bullenwagen" vor der Tür, und die Flüchtlinge werden verlegt. Schluss. Eine Putzfrau und eine Friseurin sitzen nach Schichtende in der Bahnhofskneipe, teilen eine Prosecco-Flasche und machen Witze über alte DDR-Politiker. Dass sie beide hart arbeiten und "noch aus einer Zeit des Rauchens" kommen, ist so ungefähr das Einzige, was man über sie erfährt. Darüber hinaus werden nur Äußerlichkeiten beschrieben, Belanglosigkeiten ausgetauscht.

Ein Imbissbudenbesitzer verguckt sich in seine kopftuchtragende Nachbarin und dreht ihr im Treppenhaus Zigaretten. Eines Nachts liegt sie volltrunken und nackt in seinem Bett - und er wird "fast verrückt, weil ich sie so wollte, obwohl sie so betrunken war". Dann zieht sie um, und auch diese Erzählung endet, ohne dass man versteht, warum sie überhaupt begonnen hat.

Clemens Meyer, der sich mit Büchern wie "Als wir träumten" oder "Die Nacht, die Lichter" in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur den Ruf eines sensiblen Proletenverstehers erarbeitet hat und großen Wert darauf legt, aus eigenem Erleben zu schreiben, macht sich in seiner neuen Erzählsammlung nicht die Mühe, ins Innere seiner "Trabanten" vorzudringen. Er schildert nur den Dreck, in dem sie leben, nicht das Gefühl, mit dem sie auf ihn schauen.

Die Stimmung des Buchs wird allein von der Umgebung dominiert, nicht einmal Anflüge einer Seelenschau sind zu erkennen. Ganz so, als ob der Autor der Überzeugung sei, das Prekariat könne sich ein Innenleben nicht leisten.

Die Handlung wird auf diese Weise bald langweilig und gewinnt auch dadurch nicht an Fahrt, dass sich ab und zu ein ostalgischer Unterton in die Erzählerstimme mischt, von "Thälmannjacken" und Flachmännern mit KGB-Emblem die Rede ist. Am Ende sitzen doch nur wieder zwei Männer auf einer Bank, trinken Korn und erzählen vom Krieg. Das bisschen Alibi-Romantik, mit der Meyer den Himmel "rosarot" leuchten und die dunklen Winterabende nach Glühwein riechen lässt, hilft da auch nicht weiter. Zu einer Poesie der Randständigen und Ausgesonderten dringt man mit einer solchen Erzählhaltung nicht vor.

Über weite Strecken dominieren allein grobe Milieustudien das Buch. Nur im dritten und letzten Teil wendet sich der Erzählstil, wird ruhiger und weniger oberflächlich.

In einer Kneipe am Flughafen erzählt ein ausgeschiedener Jockey von seinem Leben und nimmt den Erzähler mit zu einem Rennen in St. Moritz (hier ist Meyer als leidenschaftlicher Pferderennenbesucher in seinem Metier). In der Lenin-Bibliothek in Moskau sitzt in den 1940er Jahren der Schriftsteller und spätere DDR-Kunstakademiepräsident Willi Bredel und träumt von einem "neuen Deutschland". An der Stalingrader Front versucht er die deutschen Soldaten von der Sinnlosigkeit des Krieges zu überzeugen, indem er ihnen von Störtebecker erzählt. Aber die "Menschheitsdämmerung" findet trotzdem statt. Und Bredel schreibt später Erbauungsromane für die Jugend.

Die eindrucksvollste Geschichte ist allerdings die ebenso einfache wie bedrückende Schilderung eines Schienensuizids. An einem klaren Abend, kurz bevor es ganz dunkel wird, springt dem Lokführer ein lachender Mann vor den Zug. Ein halber Atemzug, und das Gesicht des Selbstmörders zerfließt in einem "Brei aus fauligem Obst". Und jetzt steht er da, der Lokführer, geschlagen für immer: "Die Hände auf dem Schalter und dem Rad. Eine Hand verbrüht. Tonnen aus Stahl und Gütern in Kesselwagen hinter ihm. Der Strahl seiner Taschenlampe auf den Achsen. Und zwischen den Achsen der Mann." Später findet er heraus, dass der Totgefahrene ein entfernter Schulfreund war. Und die Witwe wiederholt immer wieder: "Er war doch so fröhlich, als er ging."

"Die Entfernung" heißt diese Kurzgeschichte, und hier gelingt Meyer einmal, was ihm in diesem Band ansonsten nicht gelingen will: schlicht und berührend von der verzweifelten Hilflosigkeit einer gedemütigten Unterschicht zu erzählen, die alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben hat. Die lapidare Prosa wirkt hier einmal nicht sorglos und unbestimmt, sondern gerade wegen der Grausamkeit des beschriebenen Vorgangs provozierend.

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist Meyers "Die stillen Trabanten" im Ganzen aber ein enttäuschendes Buch. Das liegt gar nicht daran, dass sich der Autor hier präpotent als "Urgroßenkel von Hemingway" aufspielt, wie man Meyer oft vorgeworfen hat, sondern hat vielmehr damit zu tun, dass er der Wirklichkeit als oberflächlichem Stichwortgeber zu sehr verpflichtet ist: Scherben auf dem Kopfsteinpflaster gibt es in seinen Erzählungen genug, Empfindungen viel zu wenig. Das Prekariat redet eben nicht über Gefühle, würde Meyer diese Kritik vermutlich zurückweisen. Selbst wenn es stimmte und realistisch wäre - poetisch wirkungsvoll ist es nicht.

SIMON STRAUSS

Clemens Meyer: "Die stillen Trabanten". S. Fischer, 272 Seiten, 20 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2017

Herbstzeitlose
In seinem neuen Erzählband „Die stillen Trabanten“ inspiziert Clemens Meyer
die Vorstädte der Gegenwart und die Hinterlassenschaften der untergegangenen DDR
VON JÖRG MAGENAU
Seit seinem Debütroman „Als wir träumten“ aus dem Jahr 2006 über Jugendliche im Leipzig der Nachwendezeit gilt Clemens Meyer als der harte Hund unter den jüngeren Autoren. Und er gilt als Realist unter den Erzählern, der sich den Randbezirken der Gesellschaft zuwendet. Beides ist nicht ganz falsch, doch zu jedem harten Hund gehört eine zarte Seele, und zu Meyers Realismus gehört eine feine Sensibilität für mythologische Motive, die tiefer und wahrer sind als die Oberfläche der sogenannten Wirklichkeit.
Das lässt sich auch an seinen neuen Geschichten „Die stillen Trabanten“ ablesen, die – im Unterschied zu den noch als „Stories“ bezeichneten kürzeren Texten in „Die Nacht, die Lichter“ von 2008 – nun nahezu klassisch als „Erzählungen“ firmieren. Also etwas weniger Hemingway und etwas mehr Wolfgang Hilbig? Weniger Dos Passos und dafür mehr Jörg Fauser? Nein. Clemens Meyer hat seinen eigenen, nächtlichen Ton, jenseits all seiner literarischen Vorbilder von Céline bis Hubert Fichte.
„Die stillen Trabanten“ zeigen einmal mehr, welche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten ihm auf begrenztem Raum zur Verfügung steht. Wieder einmal ist der deutsche Osten und vor allem Leipzig als Handlungsort erkennbar, und da sind es vorwiegend Durchgangsstationen wie der Bahnhof, ein Ausländerwohnheim oder ein Treppenhaus im Plattenbau und traurige Orte wie ein Hinterhof, ein verlassenes Fabrikgelände oder eine Tankstelle am Stadtrand. Doch einige Geschichten führen auch in entferntere Orte und vor allem immer wieder in die Vergangenheit. Alte Männer treten auf und erzählen von früher: So der Strandbahnfahrer in einem Bad an der Ostsee, der jeden Abend auf einer Bank sitzt und übers Wasser schaut, wo früher Land war und die Gleise der Bahn. In diesem versunkenen Gelände wurzeln seine Träume und seine Erinnerungen an ein russisches Mädchen, in das er sich während des Krieges verliebte. Fast immer erzählt Meyer aus der Perspektive des Verlusts, der Vergeblichkeit und des Vergangenen. Das gibt den Texten ihren melancholischen, sehnsuchtsvollen Ton.
„Was ist schon gegenwärtig? Nichts“, sagt deshalb der Ich-Erzähler in der Titelgeschichte. „Gegenwärtigkeit ist ein völlig falscher Begriff, wir befinden uns immer wieder woanders.“ Die Realität, die Meyer erschafft, ist durchlässig für Träume, Wünsche, Fantasien, und manchmal verwirklicht sich die Liebe in diesem imaginären Raum, weil es der einzige ist, den die Wirklichkeit ihr bietet. Meyer erzählt diskontinuierlich, in Sprüngen zwischen den verschiedenen Ebenen. Man muss deshalb aufmerksam lesen, um nicht in die Spalten zwischen den Übergängen zu stürzen.
So ist es auch in der Titelgeschichte, in der sich ein Imbissbudenbesitzer jede Nacht im Treppenhaus im 19. Stock des Hochhauses mit einer jungen Nachbarin trifft, um mit ihr am Fenster zu rauchen. Sie ist mit einem Muslim verheiratet, zum Islam konvertiert und trägt ein Kopftuch. Er, keineswegs religiös gestimmt, besucht dennoch ihre Moschee, um besser zu begreifen, was sie daran fasziniert. Die nächtlichen Begegnungen sind scheu und diskret, die Form wird gewahrt, und doch ist ohne viele Worte spürbar, wie viel sich die beiden bedeuten. „Wie es eben manchmal so ist“, sagt der Erzähler zu seinem abwesenden Freund, mit dem er sich in Gedanken unterhält. Die „stillen Trabanten“ sind nicht nur die Lichter der Trabantenstadt in der Nacht, es sind auch Meyers Figuren, die sich umkreisen auf ihren Lebensbahnen und dabei immer den Abstand wahren und einsam bleiben.
Der Band ist in drei mal drei Geschichten aufgeteilt, die jeweils prologartig durch ein kurzes, szenenartiges Stück strukturiert werden. Das erste davon begleitet ein paar Arbeiter an einem heißen Sommertag, die mit Motorsensen das Gras entlang der Schnellstraße mähen. In einem Wäldchen treffen sie auf eine Flüchtlingsfamilie, die sich um ein totes Kind lagert. Offenbar hat der Junge Herbstzeitlose gegessen und ist an ihrem Gift gestorben. Ein Krankenwagen kommt, die Arbeiter kehren zu ihren Brachflächen zurück und, so heißt es dann im letzten Satz, „arbeiteten schweigend, bis es Abend wurde“. Die kleine Szene enthält alles, was Meyer immer wieder gekonnt ausspielt: In einem einzigen, mythologisch lesbaren Bild ist die europäische Gegenwart aufgehoben mit der ganzen Empathie und der ganzen Gleichgültig unserer Zeit, die ja beide nahtlos nebeneinander bestehen können.
Eine Geschichte handelt von Pferderennen, einer großen Leidenschaft des Pferdebesitzers Clemens Meyer. Da erzählt er von einem alten Jockey und seinem letzten großen Traum, ein Rennen auf einem zugefrorenen See in St. Moritz zu gewinnen. Der Schimmel im Schnee, dessen Konturen kaum zu erkennen sind, die Hufe auf dem vibrierenden Eis werden zum Traumbild des Todes. Auch der Lokführer, der mit seinem Güterwagen eine Strecke an der ehemaligen innerdeutschen Grenze befährt, wo plötzlich ein lachender Mann auf den Gleisen steht, ist ein Todesbote. Der Selbstmörder lässt ihm keine Ruhe, er will wissen, um wen es sich gehandelt hat, und geht der Sache nach.
In einer anderen Geschichte lernt eine Waggonreinigerin im Leipziger Bahnhof eine Friseuse kennen. Die beiden sitzen nach ihrer Schicht in der Bar der Bahnhofskneipe. Da entsteht auch so eine scheue Freundschaft, die nur so lange oder vielmehr so kurz dauert, wie das Leben die beiden in der Nähe hält. Auch der uniformierte Wachmann, der mit seinem Hund nachts im Ausländerwohnheim patrouilliert und sich in eine junge Frau verliebt, die am Zaun steht, wird zu einer klassischen Meyer-Geschichte, wenn die beiden in einem Saal auf Glasscherben tanzen.
Eine Überraschung ist die letzte und längste Erzählung. Sie spielt unter deutschen Emigranten in Moskau während des Zweiten Weltkrieges. Hauptfigur ist der Arbeiterschriftsteller Willi Bredel, der in einem Störtebeker-Roman aus dem Freibeuter einen Vorkämpfer des Proletariats machen will. Johannes R. Becher lungert als Morphinist herum, der als Denunziant gefürchtete Alfred Kurella hat einen Auftritt als Stotterer. Die Angst, verhaftet und deportiert zu werden, ist greifbar. Wenn man weiß, dass Kurella erster Direktor des Leipziger Instituts für Literatur wurde, das „Johannes-R.-Becher-Institut“ hieß, dann liefert Meyer, der dort von 1998 bis 2003 studierte, mit dieser historischen Skizze sozusagen die eigene literarische Vorgeschichte. Ohne die DDR gäbe es weder die nächtlichen Verlorenheiten und ostdeutschen Randgebiete, über die er schreibt, noch das Literaturinstitut, das heute wie damals prägende Stimmen der Gegenwartsliteratur hervorbringt. Meyer zeigt auch in diesen atmosphärisch dichten Erzählungen, dass er zu diesen prägenden Stimmen gehört.
Clemens Meyer: Die stillen Trabanten. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 270 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Und dann tanzen der
Wachmann und die junge Frau
in einem Saal auf Glasscherben
Stillgelegter Trabant auf einem Acker bei Leipzig, 1992.
Foto: Regina Schmeken
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'Die stillen Trabanten' zeigen einmal mehr, welche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten ihm auf begrenztem Raum zur Verfügung steht. Süddeutsche Zeitung 201703