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Im Winter bläst der Nordwind eisig über die Lavafelsen. Es herrscht Dunkelheit, als ob das Ende der Welt naht. Im Sommer sind die Nächte hell wir der Tag, und die Hügel duften am Morgen nach taufeuchtem Gras. Das ist Island um 1636, und dort lebt Jónas, der Gelehrte. Eigentlich will er nur durch die Welt streifen, noch gelehrter werden und Ungeheuer erlegen. Aber sein Wissen verschafft ihm Neider, die ihm das Leben schwer machen und ihn von einem Abenteuer ins andere treiben.

Produktbeschreibung
Im Winter bläst der Nordwind eisig über die Lavafelsen. Es herrscht Dunkelheit, als ob das Ende der Welt naht. Im Sommer sind die Nächte hell wir der Tag, und die Hügel duften am Morgen nach taufeuchtem Gras. Das ist Island um 1636, und dort lebt Jónas, der Gelehrte. Eigentlich will er nur durch die Welt streifen, noch gelehrter werden und Ungeheuer erlegen. Aber sein Wissen verschafft ihm Neider, die ihm das Leben schwer machen und ihn von einem Abenteuer ins andere treiben.
Autorenporträt
Mit 16 Jahren veröffentlicht Sjón seinen ersten Gedichtband. Es folgen Romane, Songtexte und Drehbücher. Seine Texte für Lars von Triers 'Dancer in the Dark' wurden für den Oscar nominiert. Für 'Schattenfuchs' erhielt er 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Sein Roman 'Der Junge, den es nicht gab' wurde mit dem Isländischen Literaturpreis 2013 ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei S. FISCHER die Romonatrilogie 'CoDex 1962' (2020).   Betty Wahl übersetzt aus dem Isländischen und ist freie Dozentin für Alt- und Neuisländisch. Sie hat Autoren wie u.a. Sjón, Gyrðir Eliasson oder Jón Gnarr übersetzt und war 2011 an der Neuübersetzung der Isländersagas beteiligt. Dabei verlagerte sie ihren Lebensmittelpunkt allmählich in Richtung Island; heute lebt und arbeitet sie abwechselnd in Reykjavík und Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2011

Auf der Suche nach Achtsamkeit in einer sagenhaften Welt

Die Finanzkrise stürzte Island in den Ruin. Die literarischen Schätze jedoch sind alles andere als aufgebraucht. Die isländischen Bücher, die nun als Vorboten des Buchmessen-Schwerpunkts im Herbst erscheinen, belegen das aufs eindrucksvollste.

Immerzu scheinen die Verhältnisse eigenartig gegeneinander verschoben, irritieren Größen und Distanzen das Auge, fließen Gegenwart und Geschichte zusammen, wird das, was doch eigentlich überschaubar sein müsste, gewaltig und erhaben. Der isländischen Landschaft ist schwer habhaft zu werden. Wohl gerade deshalb prägt sie das Leben und Denken der Isländer in einer Weise, wie es in unseren gemäßigten Gefilden nicht denkbar ist. Nicht nur, weil die Naturkräfte so umwerfend schön wie unhintergehbar brachial in Erscheinung treten und weil die Landschaft selbst als Erinnerungsraum für die Historie fungiert, wie es hierzulande Kulturruinen oder steinernen Denkmälern zukommt, sondern weil man sich ihnen selbst im Zeitalter fortgeschrittener Technologien immer wieder beugen muss. Kaum verwunderlich, dass sich dieser Einfluss auch in der isländischen Literatur niedergeschlagen hat, die in diesem Jahr das wichtigste Exportgut des krisengeschüttelten Inselstaates ist. Aber frappant ist dann wiederum doch, wie unübersehbar sich bei all ihrer Verschiedenheit in die Bücher, die als Vorboten des Gastland-Auftrittes bei der Frankfurter Buchmesse nun schon im Frühjahr erscheinen, eine isländische Poetologie und Mentalität eingeschrieben haben, die immer irgendwo flirren zwischen Wucht und Zartheit, die in keinem rechten Verhältnis zueinander stehen und doch zusammengehören.

Das augenscheinlichste Beispiel hierfür ist das im Aufbau Verlag erschienene "Liebe Isländer" des Autors und Filmemachers Huldar Breidfjörd, Jahrgang 1972. Auf den ersten Blick würde man dieses Buch, das sich zwischen Reportage und Roman bewegt, als Coming-of-Age-Geschichte oder Roadmovie bezeichnen. Mit einem alten Volvo Lappländer, einem klobigen, beinahe antiquierten Geländewagen, verlässt der Erzähler in den beiden härtesten Wintermonaten seine Heimatstadt Reykjavík und begibt sich auf eine Reise durch das Land, um jene kleinen Ortschaften und Höfe in den Fjorden zu erkunden, wo die Menschen ein Leben in schwer vorstellbarer Abgeschiedenheit führen.

Schon an dieser Ausgangskonstellation mag sich abzeichnen, dass es hier nicht um ein Aufbegehren gegen Autoritäten geht, wie es dieses Genre üblicherweise ausmacht. Wenn Breidfjörd an gigantischen, moränendurchfurchten Gletschern vorbeifährt, im Schneesturm an den Abhängen vereister Passstraßen um sein Leben fürchten muss, dann setzt er sich nicht nur einer Landschaft aus, die ganz offensichtlich nicht für Menschen gemacht ist. Er setzt sich auch der eigenen existentiellen Einsamkeit aus, auf die man nicht nur in den Weiten Islands zurückgeworfen ist, der man dort aber womöglich besser nachlauschen kann. "Manche Tage werden tot geboren. Sind viel mehr Pausen als Tage. Sie kommen nicht mit der Sonne hervor, sondern regnen nieder." Das Zusammenspiel aus Schwermut und einer aus der Zeit gefallenen Demut findet man nicht nur bei Breidfjörd. Es ist eine immer wiederkehrende Grundmelodie isländischer Literatur.

Die singt kaum einer so eindringlich wie Gyrdir Elíasson, von dem in diesem Frühjahr gleich zwei Bücher erscheinen. Die beinahe somnambule Eskapismusphantasie eines Jungen, der sich aus der stillstehenden, öden Welt der Eltern in skurrile Traumwelten flüchtet, erzählt der Roman "Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft". Elíassons Gedichtband "Einige allgemeine Worte über die Erkaltung der Sonne" (Kleinheinrich Verlag, 232 S., 30,- [Euro]) hingegen mutet in seinen knappen Versen zunächst fast dokumentarisch an, öffnet aber unversehens Bilder von Tod und Eingeschlossensein, die leuchten und gleichzeitig bedrücken, als hätte die Dunkelheit der isländischen Winter das Empfinden geformt. Was man insbesondere mit deutschem Blick zunächst irritierend empfinden mag, ist die enge Bindung, die all diese Bücher an die Herkunft ihrer Verfasser haben. Ganz explizit lässt Breidfjörd es seinen Erzähler als Anliegen seiner Reise formulieren: ein echter Isländer werden zu wollen. Das hat nun aber nichts mit Nationalismus zu tun, sondern spricht vielmehr von der Unbelastetheit der isländischen Geschichte. Nur ein Beispiel hierfür ist, dass keine Urbevölkerung bekämpft werden musste, wie es gemeinhin der blutige Fall bei Landnahmen ist, als die ersten Siedler im neunten Jahrhundert "Eisland" erreichten. Sie betraten eine leere Insel. Ironie oder besser Perfidie der Geschichte ist freilich, dass die isländischen Sagas, die von dieser Besiedelung erzählen, hierzulande für den nationalsozialistischen Korpus der Blut-und-Boden-Literatur okkupiert wurden. Bevor im Herbst die große Neuübersetzung der Island-Sagas im S. Fischer Verlag erscheint, kann man sich auf vier CDs des Supposé Verlags, auf denen die Hintergründe und Geschichten der Sagas nacherzählt werden, bestens in diese vermeintlich schwer zu durchdringende Materie einhören.

Die isländische Geschichte, von der die Sagas erzählen, ist vergleichsweise jung und - allein was die Zahl ihrer Protagonisten angeht - so überschaubar, dass sie noch immer im Alltagswissen verankert ist, genauso, wie sie dem gegenwärtigen Erzählen als Stoff dient. Erstaunlich ist doch die Selbstverständlichkeit, mit der in den jüngsten Romanen zweier der bekanntesten isländischen Autoren Historie und Gegenwart zusammenschnurren.

Sjóns "Das Gleißen der Nacht" ist im 17. Jahrhundert angesiedelt, in einer Zeit, in der durch die Einführung der Reformation durch den dänischen König die transzendentalen Überbauten durchlässig geworden waren. Erzählt wird die Geschichte des Wunderheilers Jónas, der der Hexerei angeklagt wird und fortan das Dasein eines Verbannten auf sturmumwehten Felsen führen muss, immer dem Hunger- und Kältetod nah und doch wie berauscht von den Beobachtungen der Natur. In seinem nicht zu bändigenden Denken balanciert Sjóns Verbannter auf dem schmalen Grat zwischen Aufgehen in und Abgrenzung von der Natur und beschwört dabei die fragile Grenze, die den Menschen vom Rest des Universums scheidet.

Ein anderes Beispiel dafür, wie gerade die Gründungsmythen Islands immer noch als Initiationsgeschichten verstanden werden, in denen die Bedingungen sozialen Lebens verhandelt werden, ist der neue Roman von Einar Kárason, geboren 1955. "Versöhnung und Groll" (btb Verlag, 192 S., 18,99 [Euro]) erzählt vom isländischen Bürgerkrieg im dreizehnten Jahrhundert. Es bedarf einer gewissen Gelassenheit - stets eine kleine Herausforderung bei der Lektüre isländischer Literatur -, sich durch die Mengen von Figuren- und Ortsnamen hindurchzupflügen, aber ansonsten sprüht dieses Buch nicht nur von Witz, sondern versieht die historischen Helden auch mit einer immer wieder überraschenden Psychologie, die man gegenwärtig nennen kann, die man aber auch einfach nur in ihrem zuweilen absurden, zuweilen hoffnungslosen und nicht enden wollenden Gegeneinander begleiten möchte.

Vor allem aber ist "Versöhnung und Groll" ein Buch, das von starken, unerbittlich ironischen Frauen erzählt, die ebenso klug wie kühl auftreten, während die Männer von Selbstzweifel, Depressionen und dunklen Träumen zum Zaudern gebracht werden. Ein Geschlechterverhältnis, das nicht nur in der isländischen Literatur, sondern auch im Alltag bis heute nicht untypisch ist. Männer, die ihren Schmerz und ihre Traurigkeit mehr oder weniger würdevoll zu tragen wissen, findet man vermutlich nirgends so häufig wie in Island. Der schweigsame Taxifahrer Ragnar, über dessen scheiternde Liebe Indridi G. Thorsteinsson in dem hinreißend melancholischen Roman "Taxi 79 ab Station" erzählt, ist einer dieser Männer. In kurzen Szenen erzählt Thorsteinsson die Geschichte eines Mannes, der mit beinahe ängstlicher Leidenschaft einer wohlhabenden Frau verfällt und dessen fatales Ende von Anbeginn unumgänglich scheint. Auch wenn in Thorsteinssons Erzählung, die in Island bereits 1955 erschienen ist, die Zeichen des aufkommenden Kapitalismus und der Amerikanisierung unübersehbar sind, sollte man den Roman nicht als fortschrittskritisches Lamento lesen.

Genauso wenig, wie man sich Island als einen possierlichen vorindustriellen Inselstaat vorstellen darf. Vielmehr war es bis zum Finanzkollaps eine kleine sorgenfreie kapitalistische Wunderwelt. Eigentumswohnungen für junge Familien waren eine Selbstverständlichkeit. Jeder frischgebackene Führerscheinbesitzer konnte in ein Autohaus gehen und mit einem glänzenden Geländewagen wieder herausfahren. Ein Leben auf Pump im trügerisch weichgepolsterten Wolkenkuckuckseim - umso härter der Aufprall, nachdem das heillose Kreditsystem in sich zusammengefallen ist. Es passt zu der Schicksalsgläubigkeit der Isländer, dass dieser Zusammenbruch nach dem ersten Schock von vielen als der längst ausstehende Zwang zur Selbstbesinnung angesehen wird. Die isländische Buchbranche immerhin profitiert davon, und das nicht nur, weil - wie Zyniker behaupten - zu Weihnachten nun keine iPads, sondern wieder mehr Bücher verschenkt werden.

WIEBKE POROMBKA

Huldar Breidfjörd: "Liebe Isländer". Roman.

Aus dem Isländischen von Gisa Marehn. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 221 S., br., 16,95 [Euro].

Gyrdir Elíasson: "Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft". Roman.

Aus dem Isländischen von Gert Kreutzer, illustriert von Laura Jurt. Verlag Walde + Graf, Zürich 2011. 112 Seiten, geb., 18,95 [Euro].

"Die Saga-Aufnahmen. Njáls saga/ Laxdæla saga".

Konzeption & Regie: Thomas Böhm und Klaus Sander. Supposé Verlag, Berlin 2011. 4 CDs, 276 Minuten, 39,80 [Euro].

Sjón: "Das Gleißen der Nacht". Roman.

Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 285 S., geb., 18,95 [Euro].

Indridi G. Thorsteinsson: "Taxi 79 ab Station". Roman.

Aus dem Isländischen von Betty Wahl. Transit Verlag, Berlin 2011. 117 S., geb., 14,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.05.2011

Blumenschmuck am Totenschädel
Der isländische Autor und Songwriter Sjón macht seinen Roman „Das Gleißen der Nacht“ zur barocken Wunderkammer
Manchmal müssen Engel würgen, „bis das Ektoplasma in hohem Bogen aus ihnen herausspritzt“. Ektoplasma? Das kennt der moderne Rollenspieler als Geistsubstanz, während ältere Kinogänger an den grünen Schleim aus „Ghostbusters“ denken. Mit beidem haben die speienden Engel wenig zu tun. Wir befinden uns in der isländischen Sagenwelt, und den Engeln wird schlecht, weil gerade der Mensch geboren wurde; so erzählt es Luzifer im „Vorspiel“ zu Sjóns Roman „Das Gleißen der Nacht“. Trotzdem ist die Fantasy-Fährte nicht falsch, denn der isländische Autor Sjón ist ein Meister darin, Sagenstoffe und Popkultur, Gothic-Splatter, Geschichte und Mystik zusammenzubringen.
Sjón, der eigentlich Sigurjón Birgir Sigurðsson heißt, wurde als Lyriker bekannt. Er hat Songs für Björk geschrieben (unter anderem ihre Texte in Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“), und war als Musiker bei den Sugarcubes dabei. Sein Roman „Schattenfuchs“ ließ eine Winterlandschaft lebendig werden, mit einer reduzierten, poetischen Sprache – die sich in „Das Gleißen der Nacht“ markant verändert hat. Gleich nach dem altnordischen Engelsvorspiel springt die Geschichte ins 17. Jahrhundert, mitten hinein in den Gedankenstrom des Jónas Pálmason. In dessen Kopf mystelt es so gewaltig, dass vor lauter Wiedergängern, Thingversammlungen und Heilkräutern das Leben des Naturforschers und Runenkundlers erst allmählich entzifferbar wird.
Jónas wurde von seinen Landsleuten an ein wüstes Felsenriff verbannt, und dort hockt er im Herbst 1635, hadert mit seinem Schicksal und vergleicht sich mit dem Meerstrandläufer: Dieser Vogel schreibt mit seinen Fußspuren einen Text in den Sand, den die Wellen immer wieder wegwischen. Das Problem: Der Gedankenstrom des Gelehrten driftet in altertümelnde Schwurbelei ab, jedes Kleidungsstück ist ein „Gewand“, Locken müssen „herabwallen“, Jahreszahlen gehen nur mit „anno“. Das klingt dann doch nach Rollenspiel und schwarzen Schnallenschuhen. Wenn der Verbannte vom Strandvogel spricht, ergreift ihn heilige Trunkenheit: „Für dich, gefiedertes Erdengewächs, möge die Gottesmutter immer einen Blick des Wohlgefallens bereit haben, ein Albenstrahl im Ostermorgentau.“ Sechzig Seiten lang sind die Sätze durch Auslassungspunkte verbunden und simulieren zielloses Tagträumen: Punkt, Punkt, Punkt . . . Ein Satzzeichenmanöver, das wie ein stilistisches Leck wirkt.
Es gäbe also gute Gründe, dieses Buch für eine sprachlich missglückte Mystik-Performance zu halten und unter generellen Heilkräuterverdacht zu stellen. Aber das wäre schade. Denn der gestelzte Ton wird zum Glück von langen Passagen abgelöst, die tatsächlich einen anderen Kosmos zum Leuchten bringen: eine vormoderne Welt, in der Naturforscher im Verdacht der Hexerei stehen und die Wissenschaft noch mit der Magie paktiert.
In dieser Welt regiert das Prinzip der Ähnlichkeit. Der Kosmos ist Gottes Rätselbuch, in dem Tiere und Pflanzen, Sterne und Menschen durch ein Signaturensystem miteinander verbunden sind. Das Große erklärt das Kleine und umgekehrt, wobei jede Form ein Zeichen enthält: Die Walnuss heilt das Hirn, weil sie ihm äußerlich ähnelt. In diesem göttlichen Alphabet sind selbst noch die Buchstaben (und noch viel mehr: die Runen) beseelt. Sjón legt mehrere Spuren aus, die auf diese untergegangene Ordnung der Dinge verweisen. Da ist zum einen der Arzt, Astrologe und Signaturenkenner Paracelsus, dessen Werke der Isländer Jónas gelesen hat. Schon als Junge wird er zum Heilkundler für Frauenleiden, sein Ehrgeiz aber gilt dem Stein der Weisen, dem Bezoar, den er in verschrumpelten Rabenköpfen sucht.
Die zweite Fährte in dieses magische Reich der Natur besteht aus kurzen enzyklopädischen Einschüben, mit denen Sjón die Geschichte durchsetzt. Ein Vogel namens Schneefleck wird da beschrieben, es folgen das Mondkraut, der Gotteslachs, der Buckelwal, ein Meeresungetüm, die Seelenfliege, die Meerfrau und diverse Wundersteine – ein fabelhaftes Verzeichnis voller Gattungsüberschreitungen. Der Schneefleck schlüpft aus einer Meeresalge, und die Koralle schützt vor Trollen und Stürmen. Ganz ähnlich ist auch Jónas selbst ein Grenzgänger zwischen den Welten, zwischen Poesie, Wissenschaft, Religion und Ratio.
Der Isländer kann seiner Heimat, dieser „sturmumtosten, jämmerlichen Leichenklippe“, für eine Weile entkommen. In Kopenhagen trifft er auf eine berühmte historische Figur: Ole Worm, dessen Wunderkammer den Kosmos des 17. Jahrhunderts abbildet. Jónas bringt dem Archäologen und Sammler einen Riesenalk mit (für Nicht-Ornithologen: eine Art Pinguin des Nordens), und damit ist die Freundschaft der beiden besiegelt. Wie Sjón dieses barocke Theater der Natur und Kunst ins Bild setzt, wie er seinen traurigen Gelehrten aufblühen und wieder Lebensfreude und Forscherneugier empfinden lässt, das ist ebenso mitreißend wie historisch detailbesessen erzählt. Man versinkt in einer Welt voller Monstren und Zaubertränke und verfolgt mit, wie das Forscherpaar ins Grenzgebiet der modernen Wissenschaft vorstößt. Jónas enttarnt das legendäre Einhorn, denn dessen Horn im „Museum Wormianum“ ist bloß ein isländischer Narwalzahn.
Dennoch setzt der Roman keine simple Fortschrittslinie von Alt nach Neu. Jónas lebt in einer Welt, in der die aufmerksame Naturbeobachtung ebenso ihren Platz hat wie die religiös überhitzte Vision mit psychedelischem Einschlag („naturstoned“ wäre die passende pharmazeutische Vokabel). In einem Wahrnehmungsrausch sieht er alle Pflanzen und Tiere des Wassers, der Erde und der Luft nach Größe aufgereiht; sie verbinden sich zu einer Taxonomie, die keine Grenzen kennt. Und in einer Unterwasservision trifft er das ermordete Mitglied eines spanischen Walfängerschiffs, dessen Skelett seltsam leuchtet. Ein Silberkreuz sendet die Strahlen aus, und der wehende Tang greift „mit vielgliedrigen Algenfingern nach dem Schmuckstück“.
Von der Vertreibung fremder Walfänger bis zu den Glaubenskämpfen verbindet Sjón die Geschichte Islands mit der Todesverliebtheit des 17. Jahrhunderts. Noch auf der Insel beobachtet Jónas den Totenschädel eines Wiedergängers, dessen herunterklappender Kiefer von einem „fleischfressenden Fettkraut“ nachgeäfft wird: „Mit leisem Schmatzen öffnete sich der Blütenkelch und entließ eine Mücke.“ Solche morbiden Vanitas-Bilder, von Betty Wahl in schillerndes Deutsch übersetzt, gehören zur Welt des Zerfalls und der Verwüstungen, in der ein menschenliebender Forscher von seinen Mitmenschen verraten wird. „Das Gleißen der Nacht“ lässt – trotz des verunglückten Jónas-Gedankenstroms – einen fernen Kosmos auferstehen, den zuletzt die Romantiker wiederentdeckt hatten. Wie sie will Sjón eine Karte der beseelten Welt zeichnen, und manchmal gelingt ihm das auch.
JUTTA PERSON
SJÓN: Das Gleißen der Nacht. Roman. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 285 Seiten, 18,95 Euro.
Auf Ole Worm, den Begründer des „Museum Wormianum“ ( hier ein Stich von 1655) lässt Sjón den Helden seines Romans treffen. Foto: Prisma/Interfoto
Der isländische Autor und Songwriter Sjón. Foto: Kristinn Ingvarsson
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der für seinen Facettenreichtum bekannte Isländer Sjon hat mit dem "Medizinmann, Runenkundler, Zahn- und Hornschnitzer" Jonas Palmason eine Romangestalt geschaffen, die bei der Rezensentin Beatrice von Matt einen starken Eindruck hinterlassen hat. An den im 17. Jahrhundert wirkenden Edda-Kommentator Jon Gudmundsson Iaerdi angelehnt ist die Figur, wie Matt mitteilt. In seiner isländischen Heimat als Hexer verschrien, erlebe Palmason später eine paradiesische Zeit an der Kopenhagener Universität. Der geistige Austausch zwischen Palmason und dem dort tätigen (und ebenfalls historischen) Arzt und Philosophen Ole Worm ist dabei nach Meinung der Kritikerin das Filetstück des Romans. Hier träfen archaischer Wunderglaube mit Aufklärertum und Humanismus zusammen - eine aufregende Mixtur, die ein plastisches Bild der Epoche vermittle. Weniger gut haben der Rezensentin die weitschweifigen Notizen des Protagonisten gefallen, die sich über den Rest des Buches verteilten. Wer sich jedoch hier durchzubeißen vermöge, würde andererseits mit zahlreichen brillanten Passagen - Naturschilderungen ebenso wie Mythen - belohnt.

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