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Eine globalisierte Welt schafft globalisierte Schicksale
Selma (49) ist zu ihrem Vater zurückgezogen. Die Wohnung riecht wie in der Kindheit, von der Mutter sind aber nur noch die Blumen da. Aus dieser Welt von vorgestern bricht Selma auf, um es noch einmal zu versuchen. Jeder Schritt führt in immer neuere und stärkere Sinneseindrücke. In einer solchen Verlorenheit ist das Fremde erträglicher als das Bekannte. Marlene Streeruwitz hat eine heutige Odyssee geschrieben und ihr Projekt des Subjekts im Neoliberalen weitergedacht. In einem virtuos komponierten Kaleidoskop in 31 Abschnitten…mehr

Produktbeschreibung
Eine globalisierte Welt schafft globalisierte Schicksale
Selma (49) ist zu ihrem Vater zurückgezogen. Die Wohnung riecht wie in der Kindheit, von der Mutter sind aber nur noch die Blumen da. Aus dieser Welt von vorgestern bricht Selma auf, um es noch einmal zu versuchen. Jeder Schritt führt in immer neuere und stärkere Sinneseindrücke. In einer solchen Verlorenheit ist das Fremde erträglicher als das Bekannte.
Marlene Streeruwitz hat eine heutige Odyssee geschrieben und ihr Projekt des Subjekts im Neoliberalen weitergedacht. In einem virtuos komponierten Kaleidoskop in 31 Abschnitten beleuchtet der Text jeden Augenblick des Abenteuers der Heldin. Die Sprache zeichnet die scharfen Umrisse der Suchenden gegen die Welt, die sie zu verschlingen droht.
Autorenporträt
Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021) sowie der Roman »Tage im Mai.« (2023). Literaturpreise (u.a.):Mara-Cassens-Preis 1996Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für "Nachwelt")Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002Bremer Literaturpreis 2012Franz-Nabl-Preis 2015Preis der Literaturhäuser 2020Wiener Buchpreis 2023
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2006

Entkommen
Marlene Streeruwitz im Frankfurter Literaturhaus

Für Marlene Streeruwitz war es an der Zeit, ein paar Dinge geradezurücken. Die "dumme Hamburger Angelegenheit" um Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Theaterstück "Ulrike Maria Stuart" am Hamburger Thalia Theater hat sie verletzt und verärgert. Kein Wunder. Stemann läßt in seiner Inszenierung eine Plüsch-Vagina als Marlene Streeruwitz auftreten und Ausschnitte aus einem Gespräch zitieren, daß Streeruwitz 1997 mit Jelinek in der "Emma" führte. Die Klage gegen das Thalia hat Streeruwitz vor allem eingericht, weil Stemanns Inszenierung ihr Schreiben als "kopfloses Sprechen aus dem weiblichen Sexualorgan" darstelle. Die Lesung aus ihrem Roman "Entfernung" nutzte Streeruwitz im Frankfurter Literaturhaus daher zur freimütigen Selbstauskunft und zur Rückeroberung der Deutungshoheit über ihr Schaffen.

Nach Hamburg, so Streeruwitz, stelle sich ihr die Frage feministischen Schreibens neu. Schmerz sieht sie heute, "in schräger Nachfolge Ingeborg Bachmanns", als "die einzige Möglichkeit, dem Leben eine Stimme zu verleihen". Ihre literarische Technik des "übergenauen Protokolls" und der "kalten Sprache", die sich jeglichen Vergleichs enthalte, diene daher nicht nur dem "vollkommenen Zerlegen der Wirklichkeit", sondern auch dazu, die Wirklichkeit "als Ganzes in der Sprache neu zu behausen". Dabei sieht sie noch immer viele weibliche "Zustände", die bislang keine Versprachlichung erfahren haben. Und heute, wo die Welt, so Streeruwitz, zu einer "großen Anzahl miteinander verflochtener Zustände" geworden sei, sieht Marlene Streeruwitz, die feministische Schriftstellerin, sich mit einiger Überraschung der Tatsache gegenüber, daß ihr eine Schreibtechnik zur Verfügung steht, die zur Versprachlichung der verworrenen Welt recht gut geeignet ist.

Trotzdem fällt ihr das Schreiben über Zustände nicht leicht: "Die Anstrengung ist, 500 Seiten zusammenzuhalten und sich nicht in die Splitter zu verteilen, die die Welt ist." Was sie an der Welt, mit der sie es zu tun hat, bestürzt, ist "dieses Morphing, wie wir uns anpassen müssen". Sie freut sich noch immer darüber, daß es ihr gelungen ist, sich vom "katholischen Mädchen mit dem bösen Körper" durch "Bildung" zu einer wohltemperierten "dreistufigen Person" zu verwandeln, "mit Über-Ich, Es und hoffentlich ordentlich viel Ich". Aber sie fürchtet, dieser, wie sie glaube, sehr christliche Punkt, "an dem wir das werden, was wir sein wollen", existiere heute gar nicht mehr. Sie sieht uns "umgeben von den Gegenwelten der Unterhaltung und des Sports", in denen der erfolgsuchende Mensch sich endlos verwandeln und seine Zeit in Aufgaben einteilen müsse. Dieser Hintergrund ist es, vor dem sie den Schmerz als das einzige empfindet, "was gegen diese Zurichtungen noch Auskunft geben kann".

Der Schmerz, den man aushält und mit sich nimmt, wenn man sich von den Zumutungen anderer entfernt. So macht es Selma, die Heldin von "Entfernung", die nach beruflichen Mißerfolgen orientierungslos in London landet und dort einen Terroranschlag auf die U-Bahn übersteht. Streeruwitz, die das Londoner Leben liebt, wo man zwischen Zugfahrten hier und da "wie ein Erdhörnchen" an die Erdoberfläche zurückkehren kann, schätzt Henry Moores "Shelter Sketches" aus der Zeit der deutschen Luftangriffe auf die britische Hauptstadt. Den Schutz, den die U-Bahn-Tunnel den Menschen damals boten, haben die Londoner U-Bahn-Bomben für die Schriftstellerin unwiederbringlich "zerrissen". Ihrem "Einspruch gegen die Attentate" stellt sie im Roman Selmas Schmerz-Einspruch gegen die Situationen, die andere ihr zumuten, gegenüber. Leicht verletzt, doch schwer erschüttert entkommt diese zunächst der privaten, dann der öffentlichen Katastrophe. Den Schmerz wird sie nicht los, aber sie entfernt sich vom Schlachtfeld und geht ihren eigenen Weg. Wie Marlene Streeruwitz.

FLORIAN BALKE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2006

Die Apotheose des Frustes
Marlene Streeruwitz’ moralischer Roman „Entfernung”
Das Markenzeichen der Marlene Streeruwitz ist die mimetische Verschränkung eines Temperaments in eine Syntax. So joggte „Jessica, 30” punktlos von Komma zu Komma, so setzte die Asthmatikerin Geraldine aus „Morire in levitate” in ihren mühsamen Spaziergängen mitten in den Sätzen mit einem Punkt ab. Das kann für den Leser strapaziös werden. Aber ans Unerträgliche reicht diese Strapaze, wenn es sich um ein Temperament handelt, das, wie ein Reptil auf Kälte, auf Unglück mit Herabsetzung der metabolischen Rate reagiert.
Selma, 49, Wienerin, ist gerade von einem doppelten Schlag getroffen worden. Sie hat ihren Job als Festspiel-Organisatorin verloren, und ihr Lebensgefährte Anton hat sich von ihr getrennt, um mit einer jüngeren Frau das Kind zu haben, das Selma abtreiben musste. Gestrandet im falschen Alter und im falschen Geschlecht, heißt das im Buch. Selma macht sich auf zu einer Kurzreise nach London, um als frisch verzweifelte Freiberuflerin vielleicht doch noch ein bestimmtes Projekt an Land zu ziehen (aus dem dann natürlich nichts wird).
31 Kapitel hat das fast 500 Seiten dicke Buch. Im 1. verlässt Selma ihre Wohnung. Im 2. fährt sie zum Flughafen. Im 3. erreicht sie den Flughafen. Im 4. checkt sie ein. Im 5. geht sie an Bord. Im 6. fliegt sie. Im 7. landet sie. Im 13. Kapitel ist Selma so weit, dass sie das Hotel verlässt.
Wenn die Protagonistin am Flughafen Geld wechselt, dann geht das so vor sich: „Der Mann nahm die Scheine. Tippte einen Beleg. Zog eine Lade mit Geld auf. Zahlte Geld heraus. Legte ihr das Geld und den Beleg hin. Wandte sich gleich wieder den Kunden auf der anderen Seite zu. Sie fischte das Geld aus der metallnen Grube unter dem Glas. Das Geld frostig und sie musste an die vielen Hände denken. Die da hingriffen. Sie steckte das Geld in die Tasche. Sie ging nach links. Schaute durch das Glas der Tür in die Halle zurück. Die Bank leer. Sie ging. Eine Versuchung. Ihn anzurufen. Das Handy herauszunehmen und mit ihm reden. Beim Gehen. Ihm erzählen, wie schäbig das hier alles war. Wie eng. Wie hineingestopft. Wie provinziell. Wie gestresst sie sich gleich fühlte.”
Und so geht das über buchstäblich Hunderte von absatzlosen Seiten. Kein Handgriff wird, weil er sich von selbst versteht, je übergangen; ja wo immer sich auch nur der Hauch eines Anlasses dazu bietet, ist dieser Handgriff in eine Reihe erstarrter Einzelszenen zerlegt. Die Welt, auch wo sie einigermaßen flüssig vorankommt, soll als nervenzerreibender Stop-and-go-Verkehr erfahren werden. Bezähme deine Ungeduld, o Leser! Oder vielmehr, lerne sie zu ertragen und recht zu deuten. Du erlebst sie als Abglanz, als schwaches Gleichnis des tiefen Unrechts, das der armen Selma widerfährt.
Doch der Kassier, der sich gleich dem nächsten Kunden zuwendet, tut, wozu er da ist. „Frostig” sind die Münzen, die Selma ausgehändigt werden - sie wünscht sich also offenbar, dass die Münzen für sie vorgewärmt würden. Aber natürlich bloß nicht von der Hand des Wechslers! Der würde da einfach so „hingreifen”! Weiß Streeruwitz eigentlich, was Geld ist? Also, nicht das richtige kapitalistische Geld, das wäre zu viel verlangt, sondern bloß das normale zirkulierende Geld, das man so für ein, sagen wir, Schinkenbrötchen zahlt? Es wechselt die Hände, sonst funktioniert es nicht. Selma schafft es mit traumwandlerischer Sicherheit sogar, erwünschte Dinge zu verleumden. Es bietet sich an diesem überfüllten Ort eine Sitzgelegenheit. Möchten Sie sich nicht setzen, gnädige Frau? Doch nein, es muss heißen: „Die Bank leer.” Leer wie Selmas Leben. Wenn sie an Bord des Flugzeugs geht, hat sie selbstverständlich die Bordkarte verräumt und hält, indem sie in der Handtasche kramt, den Betrieb auf. Auch dieses wird ihr angetan. „Sie musste auf die Seite treten. Wurde zur Seite geschoben.” Wird sie aber ohne Kontrolle durchgewinkt, so ist das natürlich gleichfalls als ein Tort zu betrachten. „Schien sie so spießig. Traute ihr der nicht zu, eine Terroristin zu sein. War sie die Kontrolle nicht wert.”
Am Ausgang schlägt der armen Selma ein Drehkreuz gegen das Bein. Auch noch. Wie immer. „Wieder ein blauer Fleck, dachte sie. Dass man immer so geschunden ankommen musste.” Hundert Leute sind unverletzt hier durchgelangt, die hundertste aber kriegt den Hieb. Warum sie? Und als hätte das noch nicht gelangt, sind da leider auch noch Stadtpläne. „Sie war nicht gut mit Richtungen. (. . .) Sie hatte den Orten gegenüber immer mehr Gefühle gehabt. Als Richtungen.” Mit den Gefühlen ist es übrigens auch so eine Sache; aus zwei negativen Gefühlen, die einander auf die Füße treten, entsteht leicht ein drittes, noch schlimmeres. „Vor lauter Erschöpfung hatte sie vergessen, sich auf ihre Flugangst zu konzentrieren.” Wie soll das je wieder gutzumachen sein? Kurzum, was Streeruwitz geliefert hat, ist die Apotheose der beleidigten Leberwurst.
Wie wird eine so? Die Antwort findet sich bei Streeruwitz durchaus; aber sie gibt sie nicht von selbst, man muss sie ihr aus der Nase ziehen. Streeruwitz will das, was in den letzten Jahrzehnten als die Befreiung der Frau gegolten hat, nicht nur als eine bis dato uneingelöste Verheißung verstanden wissen, sondern mehr noch als etwas, das sich in Wahrheit gegen die Frauen selbst gekehrt hat: Diese neuen, scheinbar freiwilligen Lebensentwürfe haben es bloß den Männern leicht gemacht. Denn die Frauen wurden nunmehr erotisch mühelos verfügbar und hatten doch dabei für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen: sehr praktisch. Es handelt sich um eine Art unfaires Outsourcing der Ehe. Um das sinnfällig zu machen, muss Selma Mann und Job auf einen Streich verlieren.
Aber dass ihr Unglück auf diese Weise wie von einem Lebensfahrplan vorbestimmt erscheinen kann, hat die Maßlosigkeit der implizit erhobenen Forderung zu seiner Voraussetzung; diese kann gar nicht anders als enttäuscht werden. „Da konnten sie davon träumen, einer von denen würde sie mitnehmen und erhalten. Bis ans Ende ihrer Tage. Das war eine Abspeisung. Aber Frauen ließen sich abspeisen. Mit so einem Mythos. Hatten sich immer so abspeisen lassen.” Wenn man davon die übelnehmerischen Verunklärungen abzieht, hat man ungefähr folgenden Tatbestand vor sich: Frauen haben einen legitimen Anspruch auf lebenslängliche Versorgung. Dieser Preis ist so hoch, dass die Männer ihn nicht zahlen wollen. Die Frauen bestehen aber darauf. Um dennoch eine Frau zu bekommen, sehen sich die Männer zu der Vorspiegelung veranlasst, sie zahlten, tun es dann aber nicht im zugesagten Umfang. Dieser unausweichliche Korrekturvorgang stellt sich den Frauen notwendig als Betrug dar, in typisch verwaschener Ausdrucksweise als „Abspeisung mit einem Mythos”.
Von da ist es nur noch ein kurzer Weg zu der in ernsthaftem Ton vorgetragenen Behauptung: „Weil Frauen immer schon Märtyrerinnen waren.” Streeruwitz erklärt, und mit gutem Grund, die aufgekratzte Lifestyle-Beratung der entsprechenden Zeitschriften für eine kriminelle Irreführung der Frauen; aber wenn sie dermaßen die Trägheit und Inkompetenz ins Recht setzt, die resultieren, wenn man bequemerweise die Verantwortung für sein Leben abgegeben hat, erweist sie ihnen kaum einen besseren Dienst. Um es klar zu sagen: Keine Frau hat ein Recht darauf, einen Stadtplan nicht lesen zu können; und jeden blauen Fleck, den ihr die eiligen Passanten verpassen, wenn sie in ihrer geografischen und sonstigen Ratlosigkeit den Durchgang sperrt, hat sie sich redlich verdient.
In der ersten Hälfte des Buchs geschieht so wenig, dass man für das bisschen mehr in der zweiten schon ganz dankbar wird: Selma gerät nun geradezu in Abenteuer, begegnet der aufmüpfigen Kleindarstellerin Susanna, einer um zwanzig Jahre jüngeren Doppelgängerin ihrer selbst (das große Unglück steht einstweilen noch aus, aber die Bitterkeit ist in diesem Gesicht schon vorgekerbt); ein Taxifahrer, dem sie bei der Nennung ihres Fahrziels nicht „please” gesagt hat, lädt sie irgendwo am Stadtrand aus; sie landet in einem Kellerlokal, wo sie sich dank eines von ihr geförderten Missverständnisses als Aktmodell für eine Zeichenklasse wiederfindet; von dort geht es weiter in einen nur von Frauen besuchten Szeneclub, wo sie ekstatische Augenblicke des Tanzes erlebt; und einigermaßen zerknittert gelangt sie dann in den frühen Morgenstunden wieder zu ihrem Hotel.
Das darf man so beiläufig herunterleiern, weil es dem Gehalt des Buchs nichts Wesentliches hinzufügt: Alle diese Dinge stoßen Selma, wie gehabt, bloß zu, und die Chance, dass es dauernde Spuren in ihr hinterlässt, ist gering (außer vielleicht in dem galligen Bedauern, dass das Leben also wirklich nachweislich woanders stattfindet).
Das Unbefriedigende an der reinen Reihung dieser Vorgänge mag Streeruwitz gespürt haben; jedenfalls will sie mit einem Paukenschlag schließen und lässt Selma in die Londoner Bombenattentate vom letzten Jahr geraten. Selma sitzt in der U-Bahn, als die Bombe hochgeht, rings um sie wird gestöhnt und gestorben, ihr selbst aber passiert nichts, und sie stolpert verwirrt, aber heil von dannen. Einmal wenigstens braucht sie sich in der Rolle des Opfers nicht allein zu fühlen. Ein Bombenopfer kann als der Archetyp des Opfers überhaupt gelten - die zufällige Sekunde der Explosion, die das ganze Leben zerreißt, ist das ihm Ungemäße schlechthin. Aber diese Faust passt nun wahrlich auf jedes Auge. Zur Perspektivierung speziell dieses Falles trägt es wenig bei. Da hat die Autorin zu schlechter Letzt noch eine fremde Feder in die Dornenkrone ihrer Selma gesteckt.
Man kommt leider nicht umhin, diesen Roman nicht nur als literarisches, sondern, ganz wie er selbst es verlangt, auch als moralisches Ereignis zu würdigen, und muss deshalb sagen: Marlene Streeruwitz hat Schlimmeres getan als ein schlechtes Buch geschrieben. Sie leidet mit ihrer Heldin bis in die Frostigkeit der Münzen hinein. Aber die Wärme, mit der sie sich dabei einfühlt, hat etwas Ungutes; sie wird aus einer stagnierenden Fäulnis gespeist. Keine Aussicht, dass ich da je was ändert. So paradox es klingt: die bedingungslose Treue, die Streeruwitz ihrer Figur halten will, läuft auf den Verrat hinaus. BURKHARD MÜLLER
MARLENE STREERUWITZ: Entfernung. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 477 Seiten, 19,90 Euro.
Es handelt sich um eine Art unfaires Outsourcing der Ehe.
Keine Frau hat ein Recht darauf, einen Stadtplan nicht lesen zu können!
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ina Hartwig ist vom jüngsten Roman von Marlene Streeruwitz begeistert. Literarisch dem Nouveau Roman nahe stehend, dürfe man die Geschichte der Job und Ehemann gleichermaßen verlustig gegangenen Selma keinesfalls als pure feministische Klage lesen, betont die Rezensentin. Die frisch gefeuerte Chefdramaturgin reist in der Hoffnung auf eine neue Aufgabe nach London, gerät in die Bombenattentate vom Juli 2005 und irrt verwirrt durch die Stadt, erklärt Hartwig, die Selmas Beobachtungen ihrer Umgebung und ihrer selbst trotz der extremen Kleinteiligkeit und Akribie erstaunlich fesselnd findet. Die Rezensentin preist das Geschick der österreichischen Autorin, mit dem sie den politischen Hintergrund in ihren Roman einarbeitet, ohne auf billige Effekte zu zielen. Am Ende hat sich die Heldin gewandelt, vielleicht winkt sogar "Erlösung", spekuliert Hartwig, die angesichts der Virtuosität, mit der dieser Roman konstruiert sei, geradezu ins Schwärmen gerät.

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