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Nach einem Unfall sitzt Tobias Voss in einem Verhörraum, vor ihm zwei Pässe, zwei Identitäten. Und er beginnt zu erzählen, wer dieser Felix Fehling war, dessen Namen er vor fünfeinhalb Jahren in den Wirren der Nachwendezeit abgelegt hat. Als junger Mann aus dem Westen verschlug es ihn nach Leipzig, als die Stadt gerade im Ausnahmezustand war: Montagsdemo, Karneval und Orkanböen an einem Tag. Dort verliebte er sich in Nica, die ihn mitnahm in ein Leipzig der Revolutionäre und Immobilienhändler, der Hochstapler und Idealisten. In opulenten Bildern erzählt Thorsten Palzhoff von den turbulenten…mehr

Produktbeschreibung
Nach einem Unfall sitzt Tobias Voss in einem Verhörraum, vor ihm zwei Pässe, zwei Identitäten. Und er beginnt zu erzählen, wer dieser Felix Fehling war, dessen Namen er vor fünfeinhalb Jahren in den Wirren der Nachwendezeit abgelegt hat. Als junger Mann aus dem Westen verschlug es ihn nach Leipzig, als die Stadt gerade im Ausnahmezustand war: Montagsdemo, Karneval und Orkanböen an einem Tag. Dort verliebte er sich in Nica, die ihn mitnahm in ein Leipzig der Revolutionäre und Immobilienhändler, der Hochstapler und Idealisten. In opulenten Bildern erzählt Thorsten Palzhoff von den turbulenten Monaten nach der Wende, in denen man sich neu erfinden konnte und eine andere Zukunft noch möglich schien.
Autorenporträt
Palzhoff, ThorstenThorsten Palzhoff wurde 1974 in Wickede geboren. Sein Erzählband »Tasmon« erschien 2006 bei Steidl. Das Buch wurde von Alberto Manguel im »Times Literary Supplement« zu einem der Books of the Year 2007 gekürt. Zuletzt erschien 2018 der Roman »Nebentage«. Thorsten Palzhoff lebt in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2018

Doppelgänger
Thorsten Palzhoffs Schelmenroman „Nebentage“
Ist die Gefängniszelle ein literarisch produktiver Ort? Eine Schreibklause, wie geschaffen, den Bekenntnisdruck ihrer Insassen in Form zu bringen? Mit solchen Gedankenschleifen hat man schnell eine Zynismusklage am Hals, wenn es um wahre Erlebnisse echter Gefangenen geht. Hier aber geht es um einen fiktiven jungen Mann, der mit spielerischer Felix-Krull-Attitüde von einem erfundenen Leben erzählt. Eigentlich von zwei Leben, denn zu seiner eigenen, ziemlich verkorksten West-Vita kommt noch ein Ost-Lebenslauf dazu, den er im Leipzig des Jahres 1990, sagen wir, freundlich übernommen hat. Zynismus hin oder her, für Felix Fehling alias Tobias Voss ist es die Zelle, die den Rückblick, ja sogar die Befreiung erst möglich macht. Die innere Befreiung, denn der Icherzähler in Thorsten Palzhoffs Roman „Nebentage“ sitzt in einem rumänischen Knast ohne Verbindung zur Außenwelt fest.
Warum genau der zwielichtige Handlungsreisende – wir befinden uns im Jahr 1995 – eigentlich einsitzt, bleibt im Verborgenen. Dagegen soll die ferne Geliebte, der diese Gefängnisbriefe gelten, restlos alles über Kindheit und Jugend des Felix Fehling erfahren, den sie nur als Tobias Voss kannte. Spielt dabei eine Rolle, dass sie die Tochter des Arbeitgebers ist, der den vermeintlichen Ossi auf Geschäftsreisen in die neuen Länder schickte? Vermutlich ja, denn in der Familiengeschichte der Fehlings hat die Eroberung von Töchtern mächtiger Väter Tradition.
Fehling-Voss blickt zurück in die Zeit vor seiner Geburt im Jahr 1971 – und sieht seinen Vater, einen Dachdeckerlehrling, die Mutter mit einem Taschenspielertrick bezirzen. Eine Goldmünze blinkt erst in der Hand, dann im Mund, und die Tochter aus gutem Hause fällt prompt darauf rein. Jahre später wird der Vater sich an dieser Münze verschlucken, und das ist nur eine der vielen tragikomischen Szenen, die der unglücklichen Familiengeschichte ein wenig Glanz verschaffen.
Auf mehreren Stapeln Gefängnispapier hält Felix Fehling die Stationen eines Einzelgängers fest, von der Kindheit in der westfälischen Provinz über die Jugend im Internat bis zum Erwachsenwerden in Dortmund, wo er als Elektro-Bastler erstes Geld verdient. Das Leben des einsamen Tüftlers und Zeichners gewinnt an Fahrt, als er kurz nach dem Mauerfall Hals über Kopf aus Dortmund flieht, in Leipzig landet und dort bei den weltoffenen Hausbesetzern aus der Stockartstraße unterkommt.
Felix nennt sie „die Stöckartisten“, und mit ihrem antikolonialistischen Slang schmückt er später seinen Ost-Lebenslauf aus. Zuvor verliebt er sich aber noch in Nica aus Hamburg, die in Leipzig nach ihrem Vater forscht und entdecken muss, dass der gescheiterte Schauspieler ein Stasi-Spitzel war. In der märchenhaft anarchischen Trümmerromantik von 1990 suchen sich Felix und Nica eine der vielen leer stehenden Wohnungen aus und stoßen dort auf Pass und Geschichte des Tobias Voss, der sich ebenfalls von seinem alten Leben befreien wollte.
Auch Voss hat alles stehen und liegen lassen, und für die West-Youngster öffnet sich ein staubüberzogenes Reich mit sozialistischem Interieur. „Tschick“-ähnlich blauäugig, scheinen sich diese Romanfiguren zunächst nicht besonders für die politische Lage an ihrem neuen Wohnort zu interessieren. Ihr West-Autor – Thorsten Palzhoff wurde 1974 im nordrhein-westfälischen Wickede geboren – stattet sie aber mit genügend distanzierter Neugier aus.
Zum Doppelgängertum ist Felix Fehling schon seit seiner Geburt verdammt, denn der ihm nachfolgende Zwilling wurde von seiner Nabelschnur erdrosselt. Überhaupt spielt Palzhoff, der in den Niederlanden lebt und 2006 den Erzählungsband „Tasmon“ veröffentlicht hatte, mit literarischen Doppler-Motiven. Sein Antiheld, ein Schelmuffsky zwischen den aufgewirbelten Massen der neuen Länder, ist nicht nur Schreiber, sondern zugleich Zeichner, so sind seine Gefängnisblätter von Skizzen durchzogen – oder vielmehr von Worten, die unsichtbare Bilder heraufbeschwören.
Durch das Ineinanderlaufen von Schreiben und Zeichnen werden wie in einem Comic-Szenario die Dinge plötzlich lebendig. „Das Hemd machte aus der Stuhllehne ein eckiges Schulterpaar“, heißt es über das karge Gefängnismobiliar, und wenn Felix im West-Benz eines dubiosen Geschäftemachers durch Leipzig kurvt, klingt das so: „Im Rückspiegel schrumpfte der Märchenturm des Neuen Rathauses in sich zusammen, während uns von vorn eine Tram entgegenwuchs.“ Hände ziehen Vorhänge auf, ohne dass man den Rest des Körpers sieht; Finsternis sickert von Osten in den Brachlandhimmel; und ganz allgemein verändern sich die Formen und Farben in dieser magischen Leipziglaterne, als ob die Realität komplett mit Rätselspuren überblendet werden sollte. Der geheimnisvolle Ton rutscht dabei gelegentlich ins Altertümelnde ab; dann weiß der hochtrabende Dortmund-Desperado „um“ die Unmöglichkeit, „die Finsternis zwischen mir und dem Säugling von damals zu lichten“, und bemerkt beim Anblick eines Flurlichts, dass diesem „die Schrecken unseres Kellers innewohnten“. Das ist eindeutig zu viel des Guten, aber auch verzeihlich angesichts vieler gelungener Zweideutigkeiten, die dem Roman ein ironisches gefärbtes Helldunkel verpassen.
An diese einsturzgefährdete Doppelbödigkeit dockt Thorsten Palzhoff noch einen weiteren, nicht minder brüchigen Boden an, das Theater. Das Revolutionsdrama „Collot“ (eine Anspielung auf den französischen Revolutionär Collot d’Herbois), in dem Nicas Vater 1978 eine nicht unwichtige Rolle – als Beleuchter – spielte, scheint sich 1990 als Farce zu wiederholen. Das Volk ist längst gekauft, um es mit den Stöckartisten zu sagen, und dubiose Westler horten Stasi-Akten, um sie zu Geld zu machen. „Nebentage“ wäre aber kein Schelmenroman, würde er solche gradlinigen Erkenntnisse nicht ins Vieldeutige verzerren. Der Icherzähler, immer im Grenzgebiet zwischen tapsig und verlogen, klaut die entscheidende Akte – und kann als einziger nachempfinden, wie die Stasi den sowieso schon gebrochenen Nica-Vater gänzlich zerstörte.
Schließlich ist er selbst ein Gefangener, wenn auch mit erträglichen, Papier spendenden Wärtern. In diesen zweifachen Gefängniserfahrungen läuft der Roman zu großer Form auf. „Nebentage“, erklärt die wegen ihres Spitzel-Vaters verzweifelte Nica einmal, „das seien verlorene Tage, an denen sie ohne jeden Grund neben sich stehe“. Jede dieser aus der Spur geratenen Figuren ist auf ihre eigene, verstolperte Art nicht ganz bei sich, ihre Fährten zeichnet der Roman mit voller Tiefenschärfe nach, von schwarzhumorig bis bitterernst.
JUTTA PERSON
Thorsten Palzhoff:
Nebentage. Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2018. 333 Seiten, 22 Euro.
E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Fesselnde Geschichte von Republikflucht und Wiedervereinigung: [...] ein Zeitroman, der im Gedächtnis bleibt. Uwe Schütte Wiener Zeitung 20180324