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Mit über neunzig Jahren wendet sich Margarete Mitscherlich, die Grande Dame der deutschen Psychoanalysedie unermüdliche Aufklärerin, mit großer Entschiedenheit nochmals den großen Fragen ihres Lebens zu: Dem Vergessen und Verdrängen und der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern; der Emanzipation im weitesten Sinne, also der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien, aber auch im engeren Sinne der Emanzipation der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft; den Geschlechterrollen, männlichen und weiblichen Werten.
Zugleich reflektiert Margarete Mitscherlich das Älter- und
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Produktbeschreibung
Mit über neunzig Jahren wendet sich Margarete Mitscherlich, die Grande Dame der deutschen Psychoanalysedie unermüdliche Aufklärerin, mit großer Entschiedenheit nochmals den großen Fragen ihres Lebens zu: Dem Vergessen und Verdrängen und der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern; der Emanzipation im weitesten Sinne, also der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien, aber auch im engeren Sinne der Emanzipation der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft; den Geschlechterrollen, männlichen und weiblichen Werten.

Zugleich reflektiert Margarete Mitscherlich das Älter- und Altwerden und beschreibt mit großer Offenheit, wie es ihre Sicht auf die Dinge prägt. In einem sehr persönlichen Stück beschreibt sie schließlich mit dem geschulten Blick der Psychoanalytikerin ihr Leben und Lebenswerk. Ein bewegendes Zeugnis lebendiger Zeitgeschichte.
Autorenporträt
Margarete Mitscherlich-Nielsen, geb. 1917 in Dänemark, war Psychoanalytikerin, Medizinerin und Autorin zahlreicher Bücher. Die Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin studierte Medizin und Literatur in München und Heidelberg und wurde 1950 in Tübingen zum Dr. med. promoviert. 1947 traf sie in der Schweiz den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908 - 1982), den sie 1955 heiratete. Gemeinsam bemühten sie sich nach dem Krieg um die Wiederbelebung der Psychoanalyse in Deutschland. 1960 war sie Mitbegründerin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, wo sie fortan vorrangig arbeitete, und fungierte viele Jahre als Herausgeberin der Zeitschrift "Psyche". Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Margarete Mitscherlich ist 2012 in Frankfurt am Main verstorben, einen Monat vor ihrem 95. Geburtstag.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das den vorliegenden Band beschließende, erstaunlich lockere und unglaublich "ehrliche" Interview von Alice Schwarzer mit Margarete Mitscherlich ist in den Augen Ina Hartwigs zur Abrundung unbedingt nötig, weil es zeige, dass die Psychoanalytikerin wesentlich weniger nüchtern ist, als sie sich ansonsten liest. Der Band versammelt Aufsätze und Reden der letzten 15 Jahre und umkreist die Hauptthemen der zum Zeitpunkt der Buchentstehung 92 Jahre alten Autorin, wie die Rezensentin betont. Herausgekommen ist dabei so etwas wie ein "berührendes" Lebensresümee, so Hartwig, die Überzeugendes über die "Schuldgefühle der Frauen", Vages über "die Weiblichkeit" und sehr Mutiges über NS-Ärzte bei Mitscherlich gefunden hat.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2010

Man schafft sich feierliche Momente morgens im Bett
„Ein Problem ist allerdings meine Eifersucht“: Margarete Mitscherlich, die Grande Dame der deutschen Psychoanalyse,
fragt nach der Radikalität des Alters, den Verbrechen der NS-Ärzte und den falschen Schuldgefühlen der Frauen
Guter Trick: Alice Schwarzer fummelt an ihrem neuen Aufnahmegerät herum, ruft „verflixt“ und fordert ihre Gesprächspartnerin auf, einfach drauflos zu reden. Was die Grande Dame der deutschen Psychoanalyse sich nicht zweimal sagen lässt: „Ich heiße Margarete Mitscherlich, bin 92 Jahre alt und halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden, sondern auch noch sterben müssen.“
Damit ist der Ton des Interviews vorgegeben: direkt, ehrlich, ein bisschen schnodderig. Margarete Mitscherlich erwähnt die „peinliche Karre“, die sie neuerdings zum Gehen benötige, hält sich immer noch für wissbegierig und gibt unumwunden zu: „Ein Problem ist allerdings meine Eifersucht.“ Woraufhin Schwarzer frohlockt: „Das war ja bei Alexander vielleicht nicht verkehrt.“ Antwort: „Genau. Der hätte sich sonst sonst was erlaubt (lacht).“ Damit ist das Thema ehelicher Untreue – und es handelt sich bei Alexander und Margarete Mitscherlich immerhin um eines der großen intellektuellen Vorzeigepaare der aufgeklärten Bundesrepublik – auch schon erledigt.
Inzwischen ist Margarete Mitscherlich 93 Jahre alt; wo sie auftritt, wird sie verehrt und bewundert. Das geschieht zur Zeit wieder öfter, soeben ist ihr Band „Die Radikalität des Alters“ erschienen, eine Sammlung von Aufsätzen und Reden aus den letzten fünfzehn Jahren, allesamt überarbeitet, einige neu geschrieben, nicht gerade ihr Vermächtnis, aber doch so etwas wie das berührende Resümee eines Lebens, in dem das Denken stets eng mit der eigenen Biographie verwoben war. Das Interview der forschen Alice Schwarzer, das den Band beendet, ist ob seiner Lebendigkeit unverzichtbar; denn als Autorin mag Margarete Mitscherlich klar und schnörkellos formulieren, doch gibt sie sich nüchterner, als es ihrem Wesen entspricht. Man ahnt, dass ihr eigentliches Medium das gesprochene Wort ist.
Von der eigenen Biographie wurde ihr ein spannungsreicher Konflikt gewissermaßen in die Wiege gelegt. Das Elternhaus war binational und ansässig im deutsch-dänischen Grenzbereich (in dem sich die Grenzen bald wieder verschoben). Die kleine Margarete Nielsen wuchs zweisprachig auf als Tochter einer patriotischen Deutschen, einer Schuldirektorin und für ihre Zeit emanzipierten Frau. Der Vater war Däne, ein Landarzt und ebenfalls patriotisch gestimmt. Im Unterschied zu ihrem älteren Bruder, der in den dänischen Widerstand gehen sollte, wo er Niels Bohr beriet, identifizierte sich Margarete zunächst stark mit dem „Mutterland“ Deutschland.
Der nächste Konflikt folgte auf dem Fuße. Margaretes Mutter trauerte ihrem an Tuberkulose verstorbenen Verlobten nach; und ihre „traurigen Augen“ verschleierten der Tochter die Stimmung. Diese fühlte sich nach eigener Darstellung berufen, „meine Mutter glücklich zu machen“; eine Bürde, die sie – neben dem Schock angesichts der durch Hitler brutal zerstörten, vormals idealisierten deutschen Kultur – erst in ihren drei Analysen, die Lehranalyse bei Michael Balint in London, bewältigen würde.
Der Abschied von Idealen und Vorbildern sollte eines ihrer Lebensthemen werden. Nur wer um das Verlorene getrauert habe, könne in der Gegenwart leben. Die Pathosformel von der „Unfähigkeit zu trauern“, die Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Bestseller von 1967 bei den Deutschen diagnostiziert hatten, gelte, so die These der seit 1982 verwitweten Analytikerin, noch für das wiedervereinigte Deutschland. Die fremdenfeindlichen Überfälle der „Nazi-Skins“ bezeugten dieselbe fehlende Empathie, dieselbe emotionale Verkapselung, die dem manischen Wiederaufbau im Westen zugrunde gelegen habe.
Um vier große Themenkomplexe kreist Margarete Mitscherlichs Denken und Fühlen: Auschwitz (wie war es möglich?); die Psychoanalyse (ihre Möglichkeiten, ihre Methoden, ihre Ethik); die Frauenfrage (woher kommt die Angst vor Emanzipation?); die Herkunft. Undogmatisch und euphorisch bekennt sich die Mitbegründerin des Frankfurter Sigmund Freud Instituts und langjährige Mitherausgeberin der Zeitschrift „Psyche“ zur „talking cure“ als „Denkalternative“ zu jeglicher Form von Verhärtung: „Lebendig bleiben nur solche Menschen“, lautet ihr Credo, „die die Lust an neuen Erkenntnissen auch über sich selber höher bewerten als die Anerkennung von außen.“ Rührend, dass sie sich nach all den Jahren immer noch mit Adornos Formel vom „Nicht-Identischen“ in Einklang weiß.
Was die „Angst“ der Frauen vor Emanzipation betrifft, so ist dies gemeint: Nicht nur äußere, vor allem innere Beweggründe seien dafür verantwortlich, dass die eine Hälfte der Menschheit nach wie vor viel zu oft zur Unterordnung bereit sei. Was Mitscherlich über die falschen Schuldgefühle der Frauen, über deren Angst vor Liebesverlust und Entwertung sagt, überzeugt und ist zudem von der Realität solange gedeckt, wie ein deutscher Professor ungestraft (die Rezensentin hat es aus dem Munde von Norbert Bolz vernommen) verkünden darf, durch die Beschäftigung mit Wissenschaft verlören Frauen ihre Weiblichkeit.
Schade, dass Margarete Mitscherlich selber einem nebulösen Begriff von Weiblichkeit anhängt, so dass unklar bleibt, ob die Frauen nun „kämpfen“ sollen oder ob die Gesellschaft insgesamt „weiblicher“ werden solle, was sie offenbar begrüßen würde. Unterschlagen werden bei derlei feministischen Blütenträumen die mächtigen (und grausamen) Herrscherinnen der Geschichte genauso wie die sensiblen Männer der Literatur.
Glasklar hingegen, auch mutig, ist Mitscherlichs Auseinandersetzung mit der Frage, warum die Ärzteelite unter Hitler bereit war, den hippokratischen Eid zu vergessen und ihr Fach, die Medizin, für mörderische Menschenexperimente zu missbrauchen. Mutig auch deshalb, weil sie einen (später revidierten) Irrtum Alexander Mitscherlichs zur Sprache bringt. Dieser hatte nach dem Krieg im Auftrag der westdeutschen Ärztekammern die Beteiligung an eugenischen Verbrechen untersucht und als eine Erklärung die der Medizin innewohnende Technizität ausgemacht („Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen“, 1947; zusammen mit Fred Mielke). Dem widerspricht Margarete Mitscherlich ebenso wie dem Historiker Ernst Klee, der in seiner monumentalen Studie über die NS-Medizin (1997) blankes Karriere- und Machtdenken als Motivation der inhumanen Forscher ausmacht. Auch den „eliminatorischen Antisemitismus“, mit dem Daniel Jonah Goldhagen die Diskussionen anheizte, lehnt sie als zu simples Erklärungsmodell ab. Sie bringt stattdessen – vor dem Hintergrund, dass Hitlers Absichten jedermann bekannt gewesen seien, alles andere sei eine „Lebenslüge“ – das gesellschaftliche Klima ins Spiel, durch das die Elite der Mediziner sich quasi geschützt hatte fühlen dürfen. Dieses Klima nennt Margarete Mitscherlich schlicht „irrational“. Es ist dies ihr Kerngedanke: dass der Antisemitismus unfähig sei, „die Realität wahrzunehmen“, seine Unmenschlichkeit sei somit mit einem kalten Selbstbetrug identisch. Eine Diagnose, deren Sprengkraft erst auf den zweiten Blick kenntlich wird.
Und die „Radikalität des Alters“, die dem Sammelband den Titel gibt? Margarete Mitscherlich spricht über den alternden Körper, in dem das Ich wohne, den nahenden Tod, vor dem sie, die an keinen Gott glaube, sich fürchte. Sie spricht von der Zeitlosigkeit des Unbewussten und davon, dass sie sich feierliche Momente schaffe, wie nach dem Aufwachen im morgendlich warmen Bett, wenn der Tag noch nicht von Schmerzen getrübt ist. INA HARTWIG
Margarete Mitscherlich
Die Radikalität des Alters
Einsichten einer Psychoanalytikerin. Mit einem Vorwort von Alice Schwarzer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 269 Seiten, 18,95 Euro.
Der Antisemitismus, so ihr
Kerngedanke, sei unfähig,
die Realität wahrzunehmen
„Ich heiße Margarete Mitscherlich, bin
92 Jahre alt und halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden,
sondern auch noch
sterben müssen.“
Foto: dpa
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das berührende Resümee eines Lebens, in dem das Denken stets eng mit der eigenen Biographie verwoben war. Ina Hartwig Süddeutsche Zeitung 20101005
Margarete Mitscherlich ist alt und gescheit und kein bisschen allwissend geworden. Gabriele von Arnim Deutschlandradio Kultur 20101130