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Henry T., ein ehemals erfolgreicher Schriftsteller, bekommt eines Tages einen Brief von einem Leser, der ihn sehr neugierig macht. Die Suche nach jenem führt Henry zur Tierpräparation "Okapi" und ihrem Besitzer. Der zeigt ihm Szenen eines ungewöhnlichen Theaterstückes, das er gerade schreibt. Es handelt vom "Schrecken". Doch was ist der "Schrecken", was geschieht da, und wie können wir Erlebnisse benennen, die sich in ihrer Grausamkeit jeglicher Sprache entziehen?
Yann Martel hat ein literarisches Zauberspiel über die Barbarei der Diktatur geschrieben. Anwendbar für jeglichen
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Produktbeschreibung
Henry T., ein ehemals erfolgreicher Schriftsteller, bekommt eines Tages einen Brief von einem Leser, der ihn sehr neugierig macht. Die Suche nach jenem führt Henry zur Tierpräparation "Okapi" und ihrem Besitzer. Der zeigt ihm Szenen eines ungewöhnlichen Theaterstückes, das er gerade schreibt. Es handelt vom "Schrecken". Doch was ist der "Schrecken", was geschieht da, und wie können wir Erlebnisse benennen, die sich in ihrer Grausamkeit jeglicher Sprache entziehen?

Yann Martel hat ein literarisches Zauberspiel über die Barbarei der Diktatur geschrieben. Anwendbar für jeglichen fürchterlichen, alles Menschliche unterdrückenden Faschismus, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Ein poetisches wie grauenerregendes Plädoyer für Menschenwürde und Toleranz.
Autorenporträt
Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er war nominiert für den Governor General Award und den Commonwealth Writers Prize und gewann den Booker Prize 2002. Yann Martel lebt mit seiner Familie in Saskatchewan.

Manfred Allié, geb. 1955 in Marburg a. d. L., übersetzt Literatur, u.a. Scott Bradfield, Ralph Ellison, Richard Powers, Yann, Martel und Michael Innes. Er lebt in der Eifel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2010

Fragen an das Tier in dir

Fast zehn Jahre ließ Yann Martel sich nach "Tiger mit Schiffbruch" Zeit für seinen nächsten Roman. "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts" ist der gewagte Versuch einer Holocaust-Parabel.

Yann Martel ist ein Schriftsteller, den man leicht unterschätzen kann. Denn der 1963 geborene Sohn eines Diplomaten schreibt auf den ersten Blick eingängig und schlicht, wenngleich mit zeichenhafter Doppelbödigkeit. Inhaltlich aber geht es Martel, der sich selbst einmal als "unzeitgemäß" bezeichnet hat, immer ums große Ganze. Um existentielle Abgründe und tiefste menschliche Verzweiflung. So schickte er schon in seinem Erfolgsroman "Schiffbruch mit Tiger", im Original "Life of Pi", mit dem er, aus dem Nichts kommend, 2002 überraschend den Booker-Preis gewann, einen Sechzehnjährigen in die Hölle, indem er den Teenager Pi nach einem Schiffsunglück auf einem Rettungsboot mit einem Bengalischen Tiger zusammenpferchte. 227 Tage lang musste der Junge das hungrige Raubtier mitten im Ozean bei Laune halten, um zu überleben - ein aussichtslos anmutendes Himmelfahrtskommando.

Auch in Martels neuem, lange erwartetem Roman geht es nun wieder um die Bannung eines ungeheuerlichen Schreckens. Diesmal allerdings um den ungeheuerlichsten Schrecken, der historisch überhaupt verbürgt ist: um den Holocaust. Oder präziser: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts", der im Englischen treffender "Beatrice and Virgil" heißt, stellt die Frage, ob wir Nachgeborenen angesichts der Monstrosität des millionenfachen Judenmords womöglich erstarrt sind in der immergleichen Gedenk-Routine, den immergleichen Rede- und Mahn-Ritualen.

Henry jedenfalls, der Protagonist des Romans, ein Schriftsteller, wünscht sich mehr "dichterische Freiheit" bei diesem Thema. Denn, so seine Überlegung: "Warum dieses Misstrauen gegenüber der Phantasie, warum dieser Widerstand gegen die künstlerische Metapher?" Henry wünscht sich eine Kunst, die wie ein "Koffer" funktioniert, der, leicht tragbar und aufs Wesentliche konzentriert, "die größte Tragödie von allen" beinhaltet.

Das sind zwar keine neuen, aber natürlich auch keine unproblematischen Überlegungen. Zumal Martel abermals einen Tiervergleich findet. Statt eines Tigers stehen jetzt eine Eselin und ein Affe im Mittelpunkt der Geschichte - zweifellos zwei gewagte Symbolgestalten für verfolgte Juden, auf die amerikanische Kritiker bereits mit dem Vorwurf der "Verharmlosung" reagiert haben. Vielleicht etwas allzu voreilig, denn Yann Martel macht sich die Sache keineswegs leicht, sondern wählt eine raffinierte Erzählkonstruktion, die gleich drei Handlungsstränge miteinander verknüpft. Dadurch eröffnen sich ganz unterschiedliche, durchaus gegensätzliche Sichtweisen auf die heutige Kultur der Erinnerung.

Da ist zunächst die Rahmengeschichte von Henrys Scheitern als Schriftsteller. Nachdem er, auch darin Martels Alter Ego, mit seinem letzten Roman einen Bestseller gelandet hatte, wird sein neues Manuskript - halb ein Essay, halb ein Roman über den Holocaust - vom Verleger abgelehnt; ein solches Buch sei unverkäuflich. Daraufhin zweifelt auch Henry an seinem Projekt. Warum sollte ausgerechnet er über den Holocaust schreiben? Er sei ja "nicht mal Jude, was ging ihn das denn überhaupt an?" Eine Haltung, die jener oft kritisierten Musealisierung Vorschub leistet, die Auschwitz auf ein Ausflugsziel reduziert. Dieser Art von Erinnerungskultur setzt Martel das Bild eines Totenkults entgegen, der gerade in seiner Unheimlichkeit fasziniert.

Nachdem Henry alle seine Schreibpläne aufgegeben und mit seiner schwangeren Frau Sarah die Stadt gewechselt hat, begegnet er einem alten, grimmigen Tierpräparator. Dieser Kauz bittet ihn um professionelle Hilfe bei seinem Theaterstück, an dem er angeblich schon sein Leben lang schreibt. Henry besucht den Alten regelmäßig in seinem Laden, in dem die ausgestopften Tiere bezeichnenderweise derart lebendig wirken, als wäre "die Zeit stehengeblieben". Es ist der Ort einer Vergangenheit, die nicht vergeht.

Wieder und wieder lässt sich Henry vom Präparator aus dessen Bühnenstück vorlesen. So kommen die Symboltiere ins Spiel - die Eselin Beatrice und der Brüllaffe Vergil. Natürlich sind es nicht zufällig die Namen von Dantes Höllenbesuchern aus der "Göttlichen Komödie". Eselin und Affe sind im Drama des Alten gequälte Tiere in einem Albtraum-Land, das in der dichterischen Phantasie das surreale Aussehen eines Sträflingshemds hat. Beide sind verzweifelt und leiden unter jener spezifischen Sprachlosigkeit, die auch viele Holocaust-Überlebende beklagen. Deswegen gibt es kaum Handlung im Stück, und die Unterhaltungen der Tiere kreisen immer wieder um denselben Punkt: Kann es eine Sprache geben, in der sich ihre Leidenserfahrungen ausdrücken und damit begreifen lassen? Eine Sprache, die den Schmerz weder kleinredet noch pathetisch überhöht.

Es ist die altbekannte Problematik, die Elie Wiesel zu der Überzeugung führte, dass Auschwitz sich jeder Fiktionalisierung verweigere. Die traumatisierten Tiere kommen aber so nicht weiter. Um sich überhaupt über ihren Schmerz verständigen zu können, sprengen sie sprachliche Konventionen und schaffen sich ihr eigenes Zeichensystem, therapeutisch wirksame Codes. Diese Troststrategie geht sogar so weit, dass beide Tiere sich höchst makabere "Spiele für Gustav" ausdenken. "Gustav" ist ein toter Mann, der gleich neben ihnen an der Straße liegt. Ein Szenarium wie von Beckett.

Lange scheint es so, dass das Theaterstück des Präparators tatsächlich die ästhetische Lösung für eine zeitgemäße Holocaust-Darstellung bereithält, nach der Henry als Schriftsteller erfolglos gesucht hat. Umso verstörender wirkt die Pointe des Buches. Sie zeigt, wie schwer, ja, vielleicht unmöglich es nach wie vor ist, die Schrecken zu bannen. Man kann dem Roman allegorische Überfrachtung vorwerfen. Auch ein Übermaß an literarischen Verweisen und geistesgeschichtlichen Anspielungen. Doch eins ist er bestimmt nicht: verharmlosend. Im Gegenteil könnte man Yann Martels Parabel als einen originellen und durchaus überzeugenden Versuch lesen, wie man den Holocaust heute und trotz aller berechtigter Zweifel literarisieren kann.

GISA FUNCK

Yann Martel: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts". Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 206 S., geb., 18,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2010

Spielkarten zum Holocaust
Yann Martel versucht in „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“, das Beispiellose als Allgemeines in die Literatur zu holen
Die künftig wichtigste Folge des Holocausts ist, dass es ihn gegeben hat. Die Menschheit wird auch dann, wenn alle Zeugen, Opfer wie Täter, gestorben sein werden – also demnächst –, fortfahren müssen, sich mit der monströsen Tatsache des planmäßig durchgeführten Mordes an Millionen Menschen zu beschäftigen, politisch, moralisch, anthropologisch. Was kann die Literatur dazu beitragen? Über dem Holocaust hängt ein wohlbegründetes Fiktionstabu. Angesichts der Ungeheuerlichkeit pochten erst die Überlebenden, dann Wissenschaft und Öffentlichkeit zu Recht auf minutiöse Faktizität, denn hier muss man unbedingt und unbestreitbar erfahren, wie es eigentlich gewesen ist. Erst dann können Schlüsse aus dem beispiellosen Geschehen gezogen werden.
Schon dass es beispiellos bleiben, sich nicht wiederholen soll, verbietet eigentlich jene literarische Verallgemeinerung, die Aristotelesdurch seine Unterscheidung von Mimesis in Literatur und Historie kennzeichnete: Mimesis, also Nachahmung von Wirklichkeit in der Fiktion, stelle das Mögliche und Wahrscheinliche dar, Historie, Geschichtsschreibung, hingegen das tatsächlich Geschehene. Mimesis in fiktionalen Werken arbeitet mit Modellen der Wirklichkeit, deren Wahrheit in ihrer Plausibilität besteht; sie stellt das dar, was jederzeit möglich ist.
Historie dagegen, die von Aristoteles ausdrücklich als „weniger ernsthaft, weniger philosophisch“ bezeichnete Gattung muss auch vom Unwahrscheinlichen (oft nur Zufälligen) berichten, sofern es nur faktisch belegt ist. Sie darf sich fiktive Anteile nicht erlauben, seien diese noch so hilfreich zur Erklärung des Wirklichen. Dass diese Trennung von Drama oder Roman und Historie, von Fiktion und Faktizität, in der Praxis der Geschichtsschreibung, die immer auswählen, erklären, Muster bilden, verallgemeinern und veranschaulichen muss, sich nicht reinlich durchhalten lässt, hat eine jahrhundertelange Diskussion herausgearbeitet. Trotzdem bleibt der Ausgangspunkt des Aristoteles prinzipiell richtig: Das unwahrscheinliche Faktische, gerade die kaum zu glaubende Tatsächlichkeit fällt ins Fach der Historie; unwahrscheinliche Romane oder Dramen haben etwas Unbefriedigendes.
Auch das erklärt, warum es seit jeher Kriegsromane gibt, aber kaum einen nennenswerten Holocaustroman. Kriege hat es immer gegeben, auch künftig stehen sie zu erwarten, mit ihnen hat sich die Menschheit irgendwie arrangieren müssen. Den Holocaust auf die literarische Verallgemeinerungsstufe der Mimesis zu heben, dagegen sperrt sich vorerst alles in uns, denn dann müssten wir seiner möglichen Wiederholbarkeit ins Auge schauen und damit grauenerrengende Blicke in die menschliche Natur tun. Doch warum sollte, was einmal geschah, nicht noch einmal möglich sein? In dieser Frage liegt die fortdauernde Erbschaft des Massenmords an den Juden (oder auch der stalinistischen und maoistischen Großverbrechen) für die Nachwelt. Und diese Frage mag auch mit den Mitteln der Literatur bearbeitet werden.
Genau das versucht ein kurzes, ambitioniertes Buch des kanadischen Autors Yann Martel, des Booker-Preisträgers von 2002. Es handelt von einem erfolgreichen Schriftsteller, der sich an einem Holocaust-Buch versucht und daran scheitert. Henry, so sein Name, wollte sein Werk buchstäblich von zwei Seiten aus beginnen: Auf der einen Seite als Erzählung, von der Rückseite (das Buch sollte gedreht werden) als Essay. In der Mitte sollten beide Texte sich treffen. Schon durch diesen formalen Kniff, der Roman und Sachbuch zwischen zwei Buchdeckel bringt, war der höhere Gesichtspunkt markiert: Fiktion und Wahrheit, Roman und Erkenntnis sollten sich vereinen. Doch Henrys Verleger reden ihm das Vorhaben aus: unverkäuflich.
Daraufhin bricht Henry seine Schriftstellerkarriere erst einmal ab und zieht mit seiner (bald schwangeren) Frau in eine fremde große Stadt – dass es Berlin sein dürfte, zeigt der Umstand, dass sie über zwei Zoos verfügt. Henry nämlich interessiert sich (wie sein Verfasser Martel) für Tiere, und so kommt es passend, dass ihn der Brief eines Lesers erreicht, der sich als Tierpräparator erweist und der dazu noch in derselben Stadt wohnt. Der Präparator wünscht von dem berühmten Autor Hilfe bei der Fertigstellung eines literarischen Werks, wie sich herausstellt, einem Theaterstück, das unter Tieren spielt.
Dieses Stück aber, das der Leser von Martels Roman Szene für Szene kennenlernt, erscheint als jene Wahrheit schaffende Fiktion über ein namenloses Verbrechen, wie sie Henry nicht zustande gebracht hat. Der unheimliche Verfasser, groß, hager, finster, der in seiner Werkstatt mit Hunderten entfleischter, entbeinter und neu aufgepolsterter Tiere lebt, einem schaurig-schönen Totenreich und Naturtheater, nennt sein Stück mal „Beatrice und Vergil“ (der englische Titel von Martels Roman), mal „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ (sein deutscher Titel).
Beatrice und Vergil sind die Namen der Figuren, die den Dante der „Göttlichen Komödie“ erst durch die Hölle und das Fegefeuer, dann ins Paradies führen; bei dem Präparator ist Vergil ein Brüllaffe und Beatrice eine Eselin; ihre Gespräche stellen den Kern seines Stückes dar. Dessen ominös grau-blau gestreifte, also an KZ-Kleidung erinnernde, ansonsten abstrakte Bühnenszenerie bezeichnet die Regieanweisung des hageren Verfassers als „Hemd des 20. Jahrhunderts“.
Wir lesen, und man hat mehr von Martels Roman, wenn man das erkennt, ein veritables Beckett-Drama, ein Stil-Pasticcio von beachtlicher Virtuosität; schon die Gestalt des Präparators, seines Verfassers, ist überdeutlich nach Samuel Becketts markanter Physiognomie gezeichnet. Das Stück ist ein Endspiel nach dem Ende aller Dinge, das heißt nach einer Erfahrung, die so grauenhaft ist, dass sie direkt nicht mehr benannt werden kann; die Dialoge umkreisen sie in einem Ton wachsender Verzweiflung. Erst ganz am Schluss wird deutlich, dass die Eselin Beatrice von Menschenhand auf entsetzliche Weise gefoltert wurde.
An diesem, nach kunstvollen Windungen (Henry trifft sich immer wieder mit dem Präparator, der ihm sein Stück vorträgt, sein eigenes Leben geht weiter, seine Frau bekommt ihr gemeinsames Kind) erreichten Abschluss trifft die Fiktion dann allerdings zwangsläufig doch auf die Tatsächlichkeit: Denn alles, was wir hier lesen und erfahren, lässt sich auf wohlbekannte Berichte von Gewaltopfern zurückführen, sei es Jean Amérys Essay zur Folter, seien es jüngste Meldungen vom Waterboarding. Die literarische Verallgemeinerung, die Martel mit den abstrahierenden Mitteln des absurden Theaters und zahllosen weiteren Literaturzitaten ansteuert, ist schließlich doch zusammengesetzt aus historischer Wirklichkeit und ihren realen Zeugnissen.
Am Ende aber entpuppt sich der düstere, an Beckett erinnernde Verfasser, der sein Stück nicht zu Ende bringen kann und darum Hilfe sucht, als Täter, als Mörder, der mit seiner literarischen Arbeit Entlastung, ja Absolution sucht. Er begeht einen Mordversuch an dem angewiderten Henry. An diesem kolportagehaften Punkt kurz vor Schluss droht Martels Roman von seiner Verallgemeinerungsebene herunterzupurzeln: Das Pseudo-Endspiel, das ein anthropologisches, ja durch die Tiermasken sogar biologisches, alles Leben in seinen Schlund ziehendes Grauen auf die Bühne der Abstraktion zieht, ist Camouflage eines Verrückten und Verbrechers, eines Foltermörders, der nebenbei auch ein Spinner ist: eine Figur grotesker Nichtbanalität des Bösen. In einer letzten Wendung aber versucht Martel, diesen Absturz abzufangen.
Seinem Helden, dem Schriftsteller Henry, einem jungen Familienvater und Tierliebhaber, gelingt es, zu dem Stück des Präparators noch einen Teil beizusteuern, den eigentlichen Abschluss: Spielkarten, auf denen Fragen stehen, die beantworten muss, wer diese Karten zieht. Eine dieser Fragen lautet: „Deine Tochter ist eindeutig tot. Wenn du auf ihren Kopf steigst, kommst du weiter nach oben, wo die Luft besser ist. Steigst du auf den Kopf deiner Tochter?“ Und das ist nicht die fürchterlichste dieser Spielkarten, die Martels literarisch so komplexen Roman kurz angebunden beenden. Auch sie aber gehen unvermeidlich zurück auf faktische Berichte von Schreckensszenen in Gaskammern. Dass Henry sie „erfinden“ konnte, zeigt, wie sehr die Erinnerung an den Holocaust ihn angesteckt hat. Spielkarten zum Holocaust: In dieses unerträgliche Paradox mündet Martels literarisch kunstfertiger, problematischer Roman.
Das aber kann nur heißen: Der Holocaust, die Vorstellung entfesselter Gewalt, ist fortan überall, er hat unsere ganze Kultur durchdrungen. Gespiegelt wird diese Diagnose in einem Naturbild. Henry, der Schriftsteller, hatte zwei liebenswürdige Haustiere: den Hund Erasmus und die Katze Mendelssohn. Sie vertragen sich zunächst gut, leben friedlich zusammen im Haushalt Henrys und seiner Frau. Erasmus allerdings, der Hund, begleitete Henry immer wieder in den düsteren, muffig riechenden Laden des Tierpräparators, in ein Universum auch mit toten Artgenosssen. Am Ende bekommt der Hund mit dem humanistischen Namen die Tollwut und zerfleischt die Katze mit dem jüdischen Namen. Ist das Erkenntnis, ist das Kitsch?
GUSTAV SEIBT
YANN MARTEL: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 220 Seiten, 18,95 Euro.
Ein Beckett’sches
Endspiel nach dem Ende
aller Dinge
Der so kunstfertige
wie problematische Roman
mündet in ein Paradoxon
Claus und Matthias Eberth in Becketts „Endspiel“ am Bayerischen Staatsschauspiel. Foto: Thomas Dashuber
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gisa Funck zeigt sich beeindruckt von Yann Martels jüngstem Roman, der fast zehn Jahre nach seinem Erfolgsbuch "Schiffbruch mit Tiger" erscheint und in dem er sich an ein heikles und schwieriges Thema heranwagt, wie die Rezensentin anerkennend feststellt. Der Autor lässt einen Schriftsteller daran scheitern, ein zwischen Essay und Fiktion liegendes Werk über den Holocaust zu veröffentlichen und macht ihn dann zum Mitarbeiter eines alten Tierpräparators, der seine Hilfe beim Schreiben einer Holocaust-Parabel um eine Eselin und einen Affen erfragt; die "verstörende Pointe" des Romans für die Rezensentin liegt darin, dass auch hier der Schrecken nicht gebannt werden kann. Funck kann nachvollziehen, wenn man dem Buch "allegorische Überfrachtung" vorwirft oder sich an den vielen geistesgeschichtlichen Verweisen stört. Dass man den Roman aber als "verharmlosend" tadelt, wie es amerikanische Kritiker getan haben, kann sie absolut nicht verstehen, im Gegenteil würdigt sie ihn als "originellen und durchaus überzeugenden Versuch" über den Holocaust zu schreiben.

© Perlentaucher Medien GmbH
ein intelligentes und gut lesbares Buch [...] Auf ermutigende Weise zeigt er, dass [...] es das eben doch geben kann: ein zeitgemäßes Erzählen vom Holocaust. Christine Regus taz.die tageszeitung 20110122