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Bei Ausbruch des Krieges begann Heinrich Mann im französischen Exil ein Tagebuch, das er bis August 1940 führte. Ein Jahr später war er in die USA emigriert und bereitete die Veröffentlichung dieses Kriegstagebuchs vor. Jetzt erscheint es erstmalig Das Buch zeugt vom genialen Weitblick des Autors. Klug und erhellend kreisen Manns Reflexionen um die Machthaber des Krieges und die Vision eines geeinten Europas, um Literatur und Philosophie. Zur Seite steht ihm Churchill als eine »achtbare Zusammensetzung von Tugenden und Mängeln.« Ein neuer Heinrich Mann ist zu entdecken.

Produktbeschreibung
Bei Ausbruch des Krieges begann Heinrich Mann im französischen Exil ein Tagebuch, das er bis August 1940 führte. Ein Jahr später war er in die USA emigriert und bereitete die Veröffentlichung dieses Kriegstagebuchs vor. Jetzt erscheint es erstmalig Das Buch zeugt vom genialen Weitblick des Autors. Klug und erhellend kreisen Manns Reflexionen um die Machthaber des Krieges und die Vision eines geeinten Europas, um Literatur und Philosophie. Zur Seite steht ihm Churchill als eine »achtbare Zusammensetzung von Tugenden und Mängeln.« Ein neuer Heinrich Mann ist zu entdecken.
Autorenporträt
Mann, HeinrichHeinrich Mann, 1871 in Lübeck geboren, begann nach dem Abgang vom Gymnasium eine Buchhhandelslehre, 1891/92 volontierte er im S. Fischer Verlag. Heinrich Mann hat Romane, Erzählungen, Essays und Schauspiele geschrieben. 1933 emigrierte er nach Frankreich, später in die USA. 1949 nahm er die Berufung zum Präsidenten der neu gegründeten Akademie der Künste in Ost-Berlin an, starb aber 1950 noch in Santa Monica/Kalifornien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2005

Allein England kann Europa retten
Mit der Zuversicht eines Voltaire: Heinrich Manns Kriegstagebuch der Jahre 1939 und 1940

Wenn Heinrich Manns Kriegstagebuch erst dreiundsechzig Jahre nach seiner Fertigstellung erscheint, so hat das mehrere Gründe. Emigrantenliteratur hatte es in den Vereinigten Staaten nicht leicht, gedruckt und rezipiert zu werden, und voller Selbstzweifel fragt der Autor daher am 24. April 1941 den befreundeten Journalisten Hermann Budzislawski um Rat: "Wenn ich ein Tagebuch über das erste Jahr des Krieges anbieten wollte, ich weiß nicht, ob ich zu spät käme mit dieser unwillkürlichen Combination aus Erfahrung, Reflexion und dem Lauf der Welt." Der Adressat machte ihm Mut, doch der "Reader's Report" Harry Hansens vom New Yorker Verlag Alfred A. Knopf, der das Werk prüfte, war eindeutig: "Hier analysiert ein Intellektueller den Krieg, die beteiligten Nationen und die Menschen, die diesen Krieg führen; diese Analyse widmet sich vor allem den psychologischen Faktoren und weniger den militärischen, diplomatischen Aspekten." Der Gutachter hatte instinktiv die hybride Form des Manuskripts erkannt.

Mann hatte dieses Kriegstagebuch vom 8. September 1939 bis zu seiner Flucht aus Frankreich am 22. August 1940 geführt. Es handelt sich dabei weder um eine systematische Abfolge der politisch-diplomatischen Ereignisse noch um einen Lebensbericht, sondern um die Auswahl exemplarischer Vorkommnisse - Polenfeldzug, U-Boot-Krieg und Versenkung der "Royal Oak", russisch-finnischer Winterkrieg - und Reden, sei es im englischen Unterhaus oder im Reichstag. Sie boten ihm Anlaß zu Rückblicken auf die Sünden der Kaiserzeit und die Schwächen der Weimarer Republik, ermöglichten grundsätzliche Exkurse oder erlaubten Kurzporträts der Protagonisten beider Lager.

Mann wählte das Jahr 1939 für eine Publikation aus und verfaßte im Frühjahr 1941 eine fast hundertseitige Einleitung für das nordamerikanische Publikum. Neben einem Selbstporträt legt sie seine Zielvorstellungen dar: Die Rettung Europas könne nur durch Großbritannien im Bündnis mit den Vereinigten Staaten erfolgen. Deutschland solle nach seiner Niederwerfung nicht geteilt, jedoch politisch-sittlich neu erzogen werden. Hellsichtig ist hier bereits die spätere "reeducation" vorgezeichnet; die Teilungs- und Abtretungspläne nahmen bekanntlich erst später Gestalt an. Als Mann sein Tagebuch für den Druck vorbereitete, hielt er einen Sieg Hitlers prinzipiell für möglich. Doch von Sommer 1941 an überstürzten sich die Ereignisse, zunächst durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni, später im Dezember durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Trotz scharfsinniger Analysen und prophetischer Passagen war die Aktualität des gesamten Textes dahin. Da der bereits zitierte Gutachter des Knopf Verlags die Absatzchancen ohnehin gering eingeschätzt hatte ("modest sale"), zerschlug sich das Projekt; auch andere Verlage bissen nicht an. Heinrich Mann zog schweren Herzens die Konsequenz und begann im Februar 1943 ein neues umfassenderes Buch, das erstmals 1946 unter dem Titel "Ein Zeitalter wird besichtigt" in Stockholm erschien und die wichtigsten Ideen des Kriegstagebuchs und seiner Einleitung integriert.

Dennoch ist die vorliegende Edition, die zur Hälfte aus Nachwort, Kommentar, dem Abdruck von Materialien zur Entstehungsgeschichte, Faksimiles und Registern besteht, mehr als eine "pia causa" und nicht nur für Heinrich-Mann-Spezialisten eine ergiebige Quelle. Der Autor wirft sein ganzes Gewicht als antifaschistischer Intellektueller und humanistischer Schriftsteller, als ausgebürgerter Exilant und rühriger Organisator internationaler Widerstandskomitees in die Waagschale, um allen Deutschen, die guten Willens sind, Hoffnung für die Zeit nach Hitler zu machen. Der Diktator wird als ein pathologischer Kleinkrimineller nach Art von Chaplins Hynkel oder Brechts Arturo Ui gezeichnet, der eine Bande gleich verächtlicher Genossen anführt. Gelegentlich zeigt er Angst und Reste von schlechtem Gewissen, ist noch nicht das blutsäuferische Monster, das die Welt in den Abgrund führt. Der gewählte Titel enthält eine bewußte "damnatio memoriae". Hitler mag seine eigenen Landsleute knechten und die Nachbarvölker unterjochen, die Epoche soll nicht seinen Namen tragen. Churchill ist der Mann der Stunde! Er schmiedet seine Landsleute zu einer unverbrüchlichen Kriegskoalition zusammen und schärft ihnen ein: "The most powerful democracy has in effect declared in a solemn statute that they will devote their overwhelming industrial and financial strength to insuring the defeat of Nazism in order that nations great and small may live in security, tolerance and freedom."

Heinrich Mann vollzieht hier einen eindrucksvollen Paradigmenwechsel. Er war immer ein aufrichtiger Freund und Verehrer Frankreichs und der Dritten Republik gewesen, schon vor dem und im Ersten Weltkrieg. Gerade darin hatte er sich von seinem Bruder Thomas unterschieden. Später hatte er die deutsche Kriegsschuld bestätigt und den Versailler Vertrag als ihren Preis akzeptiert. Er kannte die französische Literatur genau und fühlte sich den großen Aufklärern mindestens ebenso verbunden wie den deutschen Klassikern. Doch Teile der französischen Bourgeoisie waren seiner Meinung nach vom Pfad der demokratischen Tugend abgewichen und hatten sich mit dem Faschismus und seinen Führern eingelassen. Die Niederlage vom Juni 1940 war daher nur folgerichtig, der Vichy-Staat ein verächtliches Marionettenregime.

In dieser Situation kann allein England Europa retten. Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 ist Mann unverständlich: "Der Verrat der Union an Frankreich, und wofür? Um sich selbst einem Hitler zu verraten. Ihren Anspruch auf die Humanisierung des Lebens auszuliefern an den feindlichen Staat, der das Leben entmenscht wie kein anderer vor ihm." Der Schriftsteller kann es drehen und wenden, wie er will, er hat seine alten Bezugssysteme verloren und ist heimatlos: Deutschland hat ihn vertrieben, die Tschechoslowakei, die ihm und seinem Bruder 1936 hochherzig das Bürgerrecht verlieh, ist durch Hitler ausgelöscht, Frankreich besiegt, und Rußland hat sich mit dem Diktator verbündet. So lobt er England und seine Bewohner wegen ihrer Festigkeit, obwohl er weder ihre Sprache spricht noch ihr Land wirklich kennt. Seine Flucht erfolgt über eine tschechische Einwanderungsquote in die Vereinigten Staaten, ein Land, das ihm nicht weniger fremd bleiben wird. Mit einer gewissen Erleichterung registriert er später den deutschen Überfall auf die Sowjetunion, die nicht nur Deutschlands Niederlage einleitet, sondern ihm erlaubt, die Sowjetbürger wieder als Freiheitskämpfer zu feiern und auf dieses Land seine Hoffnung zu setzen. Aber das wird erst den Gegenstand von "Ein Zeitalter wird besichtigt" bilden, ein Werk, das die Summe seiner Kriegserfahrungen bündelt.

Wenngleich "Zur Zeit von Winston Churchill" weder "die intellektuell federnde Simplizität" noch die Lesebuchdignität erreicht, die Thomas Mann dem Werk "Ein Zeitalter wird besichtigt" bescheinigt, verdient es auch heute noch wegen seiner überzeitlichen Botschaft aufmerksame Leser. Denn an die Stelle von verbissenem Haß und blinder Verzweiflung setzt der Autor eine voltairianische Zuversicht in den Sieg der Sittlichkeit und der Vernunft. Nur, "vorher muß Hitler geschlagen sein. Auch er soll nicht vergebens geträumt haben - von der Landung in England. Hoffentlich gelangt er hin, aber wohlverwahrt auf einem britischen Kriegsschiff."

Heinrich Mann: "Zur Zeit von Winston Churchill". Herausgegeben, bearbeitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Hans Bach. Textkonstitution und Vorarbeiten von Sigrid Anger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 543 S., 30 Abb., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2005

Vom hochgehängten Ideal in die Resignation
Heinrich Manns bislang unveröffentlichtes Kriegstagebuch von 1939 / Von Joachim Fest
Kaum ein Schriftsteller von vergleichbarem Rang hat sich in den öffentlichen Angelegenheiten so wider alle Einsicht geäußert wie Heinrich Mann, keiner sich so hochherzig blind darin erwiesen. Das Dilemma, das im Verein mit anderen Ausstattungsmängeln fast sein gesamtes Lebenswerk in Mitleidenschaft gezogen hat, bestand darin, dass er von der Politik nicht lassen konnte und seine Wunschbilder für die Wirklichkeit nahm. Am gelungensten sind denn auch diejenigen seiner Werke, die vom Politischen absehen wie „Die kleine Stadt” oder „Henri Quatre”. Überall sonst schlug seine Neigung zum Pamphletistischen durch, selbst „Der Untertan” ist, trotz aller bösen Genialität, ein streckenweise ins Sozialmythologische aufgeblähter Hampelmann.
Heinrich Mann liebte an seinen Figuren die karikaturesken Möglichkeiten, und diese Neigung hatte mancherlei Motive. Vorab kam darin das antibourgeoise Ressentiment zum Ausdruck, das zu den inspirierenden Kunstlaunen der Epoche zählte und im Fall Heinrich Manns noch durch den großbürgerlichen Abstammungshintergrund verstärkt wurde. Er verdammte alles, was, wie mittelbar auch immer, dieser Welt entsprang. Frühe Verlautbarungen zeugen vom Affekt gegen Liberale, gegen Sozialdemokraten sowie Republikaner, und selbst antisemitische Begleittöne fehlen darin nicht. Auch hatte er eine fatale Vorliebe fürs Outrierte, und das Falsche störte ihn nicht, sofern es nur mit sattsamer Verve formuliert war.
Eine kaum weniger gewichtige Rolle für seine Parteinehmerei spielte die brüderliche Rivalität. War Thomas in den frühen Jahren der nachlaufende Bruder Heinrichs gewesen, kehrte sich die Rangordnung mit dem Erscheinen der „Buddenbrooks” alsbald um. Da Thomas sich auf hochtrabende Weise unpolitisch gab, sah sich Heinrich geradezu ins Politische gedrängt und entdeckte plötzlich „das Volk”, den „Fortschritt”, die „Menschenrechte” und wie die glitzernden Münzen der besseren Welt sonst noch hießen. Für Thomas sagte sich der ältere Bruder damit von der Literatur los.
Das Genie zum Glück
Doch blieben beide selbst im schroffsten Gegensatz noch Brüder, der eine von allem politischen Grundverständnis so weit entfernt wie der andere. Was immer sie zum Tag äußerten, war Rhetorik. Während die Politik für Heinrich eine Art Märchenland hergab, für das man Projekte und Paradiese ausdenken konnte, betrachtete Thomas die öffentlichen Dinge die längste Zeit mit interesseloser Verachtung. Anders als sein Bruder benötigte er die idealen Vorstellungen nicht, nach denen jener ungeduldig auf der Suche war. Bald nach der Jahrhundertwende entdeckte Heinrich in Italien, was den steifleinenen Deutschen fehlte, doch zu jedem, wie er meinte, politisch-menschlichen Dasein zählte: Anmut, Farbigkeit und schöner Theaterglanz noch auf den engsten Gassen, ferner naive Animalität, wie es einmal heißt, sowie das Genie zum Glück.
Um jedoch den Gegensatz zu Thomas womöglich noch provozierender hervorzukehren, umarmte Heinrich nach dem Weltkrieg das siegreich-rachsüchtige Frankreich mit ebenso stürmischer Emphase wie vordem Italien. Es war nun der Richtsatz allen zivilisierten Denkens, die Heimat der Bürgerrechte und der Verfassungen mit dem verklärten Bild der Großen Revolution im Bildhintergrund. Er hatte sich eine seltsam altertümliche Vorstellung davon zurechtgemacht, aber die Patina, die darüber lag, empfand er nicht als überholt, sondern rührte ihn ans Herz. Frankreich gab für ihn den Maßstab für den politischen Entwicklungsstand jeden Landes ab: ob eine Nation ihre Bastille bereits erkämpft hatte oder der Sturm noch bevorstand, entschied über ihren Rang.
Es konnte bei alledem nicht ausbleiben, dass Heinrich im Lauf der zwanziger Jahre zu einem glühenden Bewunderer der Sowjetunion wurde. Noch 1919 hatte er geschrieben, die Oktober-Revolution sei ein Gebilde aus „Blutdurst und Logarithmen”. Doch die Rauschwirkung der großen Menschheitsworte löste bald jeden Vorbehalt auf, und schon wenig später gab er dem fragwürdigen Regime in Moskau allen Kredit, den er der verzweifelt um ihren Bestand ringenden deutschen Republik versagte.
Thomas verstand seinen Bruder nicht mehr und die Abwege nicht, in die Heinrich sich so begeistert verlief. Doch wie weit sich die beiden Brüder unterdessen voneinander entfernt hatten, blieben sie auch jetzt noch in ihrer Politikfremdheit aufs engste verwandt. Bezeichnenderweise enthalten ihre Stellungnahmen zur Zeit der untergehenden Republik von Weimar keinen Beleg der Sorge über das Desaster, dem das Land entgegentaumelte. Im demagogischen Aufruhr, in parlamentarischen Tumulten und gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zu den so genannten „Blutsonntagen” kündigte sich das Bevorstehende auf Schritt und Tritt an. Doch die Brüder sahen die Zeichen an der Wand nicht, und die Emigration, zu der sie bald nach dem Machtantritt Hitlers genötigt waren, traf sie weitgehend unvorbereitet.
„Vertriebene haben immer etwas falsch gemacht”, notiert Heinrich Mann in den Aufzeichnungen, die jetzt erstmals veröffentlicht werden. Sie beginnen mit einem Rückblick vom Jahr 1941 auf den Herbst 1939, zu dessen Beginn der Autor sich vorstellt: Er sei, schreibt Heinrich Mann, ein kontinentaler Europäer, der insbesondere Italien und Frankreich liebe und später, infolge der politischen Wirrnisse, in die Vereinigten Staaten geraten sei, ohne aber je dort anzukommen. Es sind knappe, kommentierende Einwürfe, die auf diese ersten Kapitel folgen. Kurzessays zum Fortgang des Krieges, über die Figur des Deserteurs, den gezielten Einsatz von Greuelmeldungen oder den General Gamelin. Dann erst setzt das Hauptstück ein: das Tagebuch, das Heinrich Mann am 8. September 1939, eine Woche nach dem deutschen Einmarsch in Polen, in Nizza zu schreiben begann und das annähernd ein Jahr darauf, am 22. August 1940, gleichsam mitten im Satz abbricht, weil er sich wenig später zusammen mit seiner Frau, seinem Neffen Golo sowie den Werfels vor der nachrückenden Wehrmacht auf die Flucht über die Pyrenäen begab.
Das Jahr war nahezu ausschließlich von deprimierenden Ereignissen beherrscht. Begonnen hatte es mit dem Hitler-Stalin-Pakt, der den Krieg gegen Polen ermöglichte, und Andeutungen Heinrich Manns legen nahe, dass er sich, „betroffen und ratlos”, zwei Tage in seiner Wohnung einschloss, um sich darüber klar zu werden, dass die Sowjetunion keinen „Verrat” begangen hatte. Dann folgte die unerwartet rasche Niederlage Polens und die drole de guerre bis hin zum kläglichen Zusammenbruch Frankreichs, von dem er ein ums andere Mal gesagt und geschrieben hatte, es könne nicht unterliegen, weil es, anders als im Ersten Weltkrieg, wisse, wofür es einzustehen habe. Der Widerhall der steten Schreckensnachrichten bis hin zu Frankreichs Bereitschaft zur Kollaboration wird in dem aus Besorgnis und Atemlosigkeit gemischten Grundton vernehmbar, der auf fast jeder Seite durchschlägt.
Der gleichen Verzweiflung entspringt die Leichtgläubigkeit, mit der Heinrich Mann den unsinnigsten Gerüchten aufsitzt. So behauptet er, dass Hitler den Deutschen eine Woche lang den Ausbruch des Krieges verheimlicht habe, und kennt unbegreiflicherweise nicht das triumphale „Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen!”. An anderer Stelle hält er fest, dass die Wehrmacht allenthalben kapituliere, weil den Soldaten fälschlicherweise gesagt worden sei, sie zögen ins Manöver, dass die Frauen sich aus Verzweiflung vor die Züge würfen, und anderes dieser Art. Er glaubte zu leicht, was er wahrhaben wollte, und Hermann Kesten hat bei Gelegenheit an Heinrich Mann eine auffallende „Naivität” und eine geradezu „groteske Unkenntnis der Wirklichkeit” festgestellt.
Seine Wahrnehmungen waren eine eigentümliche Verbindung aus Unglück, Irrtum, Zuversicht und ideologischer Verbohrtheit. Die Gewissheiten, die er daraus gewann, waren schwer zu widerlegen, weil erdachte Welten keine Korrektur dulden. So versicherte Heinrich Mann allen Ernstes, die Kommunisten seien „in Europa die letzten Verteidiger der Demokratie” oder vermerkte noch nach der Aufteilung Polens im Herbst 1939, die Sowjetunion hege keine Eroberungsabsichten. Aber die melancholische Stimmung, die sein Wesen war, machte ihm zunehmend zu schaffen: denn immer wieder zerschlug ihm die Wirklichkeit die schönen Gaukelbilder. Schon wenig später überfiel Moskau das kleine Finnland, und Heinrich Mann notierte, dieser Angriff sei wirklich „unentschuldbar”. Den gestern noch bewunderten Stalin nannte er diesmal den „Schakal im Kreml” und sorgte sich darüber, dass die Sowjetunion sich als „erster Feind an Hitlers Platz” dränge.
Die vorliegenden Aufzeichnungen sind kein Tagebuch im herkömmlichen Sinne. Heinrich Mann, der das Private so liebte und oft darüber klagte, einem Jahrhundert anzugehören, in dem die Macht das Menscheninteresse kujoniere, vermeidet auf diesen Seiten fast jedes persönliche Wort. Weder die Lebensumstände im geliebten Süden Frankreichs noch die Verbindungen zu anderen Emigranten werden vermerkt, und nicht einmal die Hochzeit mit Nelly Kröger, die in die Zeit der Niederschrift fällt, findet irgendeine Erwähnung. Stattdessen kommentiert er die sich überstürzenden politischen Ereignisse und sitzt weiterhin seinen Irrtümern und falschen Tröstungen auf. Viele dieser Seiten bestehen aus geschwollener Leitartikelprosa. Aber dann und wann fällt im Schnellgeschriebenen ein Satz, der Thomas Manns geringschätzige Bemerkung über Heinrichs eilige „Blasebalg-Poesie” vergessen und den großen Schriftsteller erkennbar macht. Alles verläuft in hohem Tempo, „presto allegro”, hält Heinrich an einer Stelle fest, „und langsam sind nur die Tränen, die beiseite fallen”.
Wer wir waren und warum
Natürlich gelingen ihm auch im Politischen verschiedentlich Formulierungen von mitleidlos kalter Hellsicht, so wenn er die Mitschuld des Westens am Aufstieg Hitlers verzeichnet oder schon einen Monat nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts vermerkt, dass der von den neuen Bündnispartnern losgetretene Krieg nicht enden werde ohne Hitlers Versuch, ein großes Stück der Sowjetunion an sich zu reißen. Er bereue seine Verirrungen nicht, schreibt Heinrich Mann einmal, und habe sie wörtlich stehen lassen: „Die Irrtümer sind, was am Reichlichsten lohnt”, fährt er fort. „Gegen die Wirklichkeit gehalten, zeigen sie, wer wir waren und warum.”
Eine Erklärung verlangt der Titel des Buches „Zur Zeit von Winston Churchill”. Heinrich Mann hat die Wahl verschiedentlich begründet. Auffallend daran war seit je, dass er weder das zur Wahlheimat erhobene Frankreich nannte, auch nicht das ihm immer fremd gebliebene Amerika noch gar die Sowjetunion, mit der er bald nach dem Zerwürfnis wegen des Überfalls auf Finnland wieder seinen Frieden gemacht hatte: denn in seiner politischen Anlehnungsbedürftigkeit benötigte er das Land, ungeachtet der zahllosen Barbareien, die von dort gemeldet wurden, als Hoffnung und feierte bald wieder den „Ruhm der Moskauer Prozesse”.
Doch England gegenüber gab es keine Vorbehalte. Und Churchills einsame Standfestigkeit gegen den eurasischen, aus Deutschland und der Sowjetunion gebildeten Mächteblock erkannte er als eines der Wunder der Zeit. Im erwähnten Rückblick auf das Tagebuch, mit dem die vorliegende Veröffentlichung einsetzt, zitiert er die berühmten Shakespeare-Verse aus „Richard II.” von der „fortress built by Nature for herself/ Against infection and the hand of war”: sie seien so gültig wie am ersten Tag. Und an Thomas Mann schrieb er Anfang Mai 1940: „Ich setze mein Vertrauen in Großbritannien. Lebenslang war mein Interesse für England schwach; nicht einmal die Sprache habe ich erlernt. Umso tiefer bewegt mich die neue Erfahrung. Bei den Engländern ist die Vernunft, Voraussicht und Entschlossenheit. Sie kämpfen wirklich.”
Das irrationale Zeitalter
Die nachgelassenen Aufzeichnungen haben eine umfangreiche, verworrene Entstehungsgeschichte. Der Herausgeber Hans Buch hat die Einzelheiten in einem umfangreichen Editionsbericht sachkundig dargelegt. Ein breiter Anmerkungsteil, der die Vorgeschichte des Werkes widerspiegelnde Briefwechsel sowie eine Zeittafel sind hinzugefügt.
Trotz der Zeitbedingtheit des Buches und der vielfach verengten Sicht des Verfassers ist die Veröffentlichung ein aufschlussreiches Dokument. Gleich vielen seiner apolitischen Landsleute ist Heinrich Mann den Weg vom allzu hoch gehängten Ideal in die Resignation mit- oder gar vorausgegangen. Trotz all der appellhaften Töne dieser Notizen blieb die Zuversicht ihres Autors gering. Mit nachlassender Kraft hoffte er auf das Ende des „irrationalen Zeitalters”, in dem er zu leben gehabt hatte, doch es dauerte und dauerte. Mitunter zweifelte er überhaupt an einer Besserung der Umstände und zumal daran, dass mit literarischen Mitteln irgendetwas zu bewirken sei. Schon von seinem erfolgreichsten Buch, dem „Untertan”, hatte er gesagt, das Publikum habe es „verschlungen”, doch geändert habe sich nichts.
An zahlreichen Stellen des Tagebuchs klingt durch, dass Heinrich Mann die „kriegerischen Aufzeichnungen”, wie er das Konvolut während des Entstehens einmal nennt, vor allem für sich selber geschrieben habe. Zu den Einsichten seines zum Abschied kommenden Lebens gehörte, dass ihm das Schreiben nicht einmal mehr über seine pessimistischen Bedrückungen hinweghalf. Das vorliegende Tagebuch endet an Silvester 1939 mit dem an sich selber gerichteten Zuspruch aus einem „Discours” de La Mettries, man solle sich beim Schreiben durch keine Rücksicht beirren lassen: wie wenn man im All allein wäre. Alle Worte, setzt Heinrich Mann als eine Art Lebensweisheit hinzu, seien ein „leiser Gesang, um Mut zu behalten”. Dann folgt noch der Nachsatz: „Auf dem Weg in das Dunkel.”
HEINRICH MANN: Zur Zeit von Winston Churchill. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 356 Seiten, 22,90 Euro.
Joachim Fest ist Publizist. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde”.
Heinrich Mann 1943 in seinem Arbeitszimmer in Santa Monica
Foto: SV Bilderdienst
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Das Kriegstagebuch Heinrich Manns aus dem ersten Kriegsjahr, das der Schriftsteller in der Emigration im französischen Nizza schrieb, wird erstmals veröffentlicht, teilt Stephan Reinhardt mit, herausgegeben von dem Leipziger Historiker Hans Bach, der das Dokument auch mit einem informativen Kommentar und einem Nachwort versehen hat. Das Tagebuch beginnt kurz nach dem Überfall Deutschlands auf Polen und endet abrupt im September 1940, als Deutschland in Frankreich einmarschierte und Heinrich Mann alles stehen und liegen lassen musste, um zu fliehen. Bemerkenswert an diesem Dokument aus dem ersten Kriegsjahr ist für Reinhardt Heinrich Manns gewandelte Meinung zur Sowjetunion, die er früher idealisiert hatte. Dem Hitler-Stalin-Pakt begegnet er zunächst mit Ratlosigkeit, analysiert Reinhardt, dann mit Ablehnung und Entrüstung; in der Folge wende sich Mann England und Churchill zu, dessen Härte und Geradlinigkeit dem Autor imponiert habe. Tagebuchstellen, bei denen Heinrich Mann der Kriegspropaganda aufgesessen sei, werden vom Herausgeber gekennzeichnet und erklärt, so der Rezensent, der bloß bedauert, dass Herausgeber Bach nicht der Frage nachgegangen ist, warum Heinrich Mann in seinem autobiografischen Bericht von 1943 "Ein Zeitalter wird besichtigt" plötzlich wieder gut auf Stalin zu sprechen war.

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