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Wann ist so eindringlich über den Verlust einer Welt und den Gewinn einer neuen geschrieben worden?
Anton ist Arzt in Kreuzberg, mit Sorge sieht er, wie seine Mutter in seinem Heimatort in der niedersächsischen Provinz gegen eine schnell fortschreitende Demenz kämpft. Jedes Jahr schickt sie ihm und seinen Freunden Alix und Bernd Erdbeermarmelade nach Berlin. Die Erdbeeren wachsen auf dem "Acker", wie sie ihren Garten nennt, den sie ihr Leben lang mit Liebe gepflegt hat. Aber in diesem Frühsommer vergisst sie, die Ableger auszupflanzen ... Anton muss erkennen, wie seine Mutter Stück für…mehr

Produktbeschreibung
Wann ist so eindringlich über den Verlust einer Welt und den Gewinn einer neuen geschrieben worden?

Anton ist Arzt in Kreuzberg, mit Sorge sieht er, wie seine Mutter in seinem Heimatort in der niedersächsischen Provinz gegen eine schnell fortschreitende Demenz kämpft.
Jedes Jahr schickt sie ihm und seinen Freunden Alix und Bernd Erdbeermarmelade nach Berlin. Die Erdbeeren wachsen auf dem "Acker", wie sie ihren Garten nennt, den sie ihr Leben lang mit Liebe gepflegt hat. Aber in diesem Frühsommer vergisst sie, die Ableger auszupflanzen ...
Anton muss erkennen, wie seine Mutter Stück für Stück verloren geht, und mit jeder ihrer Niederlagen verschwindet ein Teil seiner eigenen Existenz: Das vertraute Land der Kindheit.
Dann trifft er Lydia und findet nach Jahren des Alleinseins eine Zukunft, in der Liebe möglich zu sein scheint. Aber Lydia bringt eine Vergangenheit mit, die in beider Leben mit Vehemenz einbricht.
In diesem vielstimmigen Roman gelingt Katharina Hacker das einfühlsame Porträt von Menschen, die zurückblicken müssen, um weitergehen und die zweite Lebenshälfte gestalten zu können.
Autorenporträt
Hacker, KatharinaKatharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Israel als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg. 2006 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für »Die Habenichtse«, zuletzt erschienen der Roman »Skip« (2015) und das Jugendbuch »Alles, was passieren wird« (2021).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2010

Showdown in Calberlah
Verlag gewechselt, Marmelade mitgenommen: Katharina Hackers Novelle „Die Erdbeeren von Antons Mutter“
„Die Erdbeeren von Antons Mutter“, so dinglich und schlicht kommt die Novelle daher, die Katharina Hacker wie einen Bremsklotz in das Räderwerk einer Debatte schiebt, in die sie mit ihrem letzten Roman geraten war. „Alix, Anton und die anderen“ hieß das kleine Büchlein über vier Berliner Fortysomethings, das vor einem halben Jahr die Gemüter nicht seines Inhalts wegen erhitzte, sondern weil die Autorin auf ihrer Homepage bekanntgegeben hatte, dass es gegen ihren Willen bei Suhrkamp erschienen war, ihrem bisherigen Verlag, den sie bereits mit diesem Buch hatte verlassen wollen.
Man müsste diese Geschichte nicht noch einmal aufwärmen, wenn es dabei nur um Verlagsquerelen und Autoren-Eitelkeiten ginge. Doch sie ist geradezu ein Lehrstück, wie heikel und verletzlich kreative Prozesse sind, und wie wenig sie sich von außen beeinflussen lassen. Was immer ein Autor über seine Absichten erklärt, am Ende zählt die ästhetische Glaubwürdigkeit seines Werks.
Auch wer Katharina Hacker als Autorin schätzt, konnte in „Alix, Anton und die anderen“ beim besten Willen nicht das Werk erkennen, das sie selbst darin sah. Es sollte der erste Band eines großangelegten Romanprojekts werden, das die Lebenswege der vier Hauptpersonen auf eine Weise erzählt, dass auch die ausgeschlagenen Möglichkeiten kenntlich werden. Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches, gehört es doch zum Handwerkszeug des Romanciers, auch die Wünsche, Träume, und Ängste seiner Figuren darzustellen. Erst so entsteht eine eigene Romanwirklichkeit, die der Autor, je nach Gusto, auch ins Surreale oder Spielerische kippen lassen kann.
In Händen aber hielt der verblüffte Leser kein polyphones Werk im Geiste eines Joyce oder Cortázar, sondern ein großformatiges Buch, das aussah, als habe die Autorin ihren Zettelkasten ausgekippt: 125 locker bedruckte Seiten, gesetzt in zwei Text-Blöcken von unterschiedlicher Länge und Breite, dazwischen und rundherum sehr viel Leerraum. Auch darum war es in der Auseinandersetzung mit Suhrkamp gegangen: Katharina Hacker hatte sich zwei gleichbreite Text-Blöcke vorgestellt. Ihr Roman hätte dann einen Umfang von 200 Seiten gehabt. Allerdings hätte das nichts daran geändert, dass die ästhetische Pointe allein in der Formidee unbedruckten Papiers stecken sollte: als Symbol ausgeschlagener Lebensmöglichkeiten.
Während bei „Alix, Anton und die anderen“ die literarische Ambition größer war als die zur Verfügung stehenden Mittel, verhält es sich bei der nun erschienenen Novelle genau umgekehrt. Sie gehört in den Umkreis des gelegentlich als Trilogie apostrophierten Projekts, ohne ein Teil davon zu sein. Das hört sich etwas seltsam an, aber im S. Fischer Verlag, bei dem Katharina Hacker nun publiziert, scheint man die Kunst diplomatischer Autorenbeschwichtigung aufs schönste zu beherrschen. Wie sonst hätte man dieser skrupulösen Schriftstellerin, die nicht erst seit dem Erfolg ihres Romans „Die Habenichtse“ mit ihren hohen Ansprüchen an sich selbst zu kämpfen hat, so schnell ein derart gelungenes Kunstwerk entlocken können? In „Die Erdbeeren von Antons Mutter“ überantwortet sich Katharina Hacker ganz den strengen Formgesetzen der Novelle und erzählt damit ihre Geschichte aus dem Berlin der Gegenwart auf unangestrengte Weise weiter.
Wieder stehen die vier kinderlosen Mittvierziger im Zentrum, die sich zu einer Art Wahlfamilie zusammengeschlossen haben: die an Hyperakusis leidende, hochsensible und schöne Graphikerin Alix, ihr Mann Jan, ein Psychotherapeut, der schwule Buchhändler Bernd und eben jener Anton, der als Allgemeinarzt in Kreuzberg praktiziert und dessen Lebensweg am Ende des Romans auf eine Spur gesetzt wurde, die ihm endlich das Glück verhieß, auf das er schon so lange hoffte. Er war einer Frau ins Fahrrad gelaufen, Lydia, ungefähr so alt wie er, ebenfalls Allgemeinärztin in Kreuzberg, alleinerziehende Mutter einer dreijährigen Tochter. Deren Namen hat die Autorin beim Übertritt vom einen Buch ins andere geändert. Sie heißt nun nicht mehr Antonia, sondern weniger plakativ Rachel.
Anton träumte schon lange vom Familienglück mit Frau und Kind, Haus und Garten. Während er zum ersten Mal in seinem Leben in die Reichweite dieses Glücks gelangt, geraten zugleich die sicher geglaubten Eckpfeiler seiner Existenz ins Wanken. Wie Hacker die Not, in die er gerät, konstruiert, wirft ein Licht auf das gesamte Projekt: Es geht auch um den Generationenvertrag und darum, was mit Lebensläufen geschieht, in denen Kinder nicht mehr selbstverständlich sind. Antons Eltern, die im niedersächsischen Örtchen Calberlah leben, drohen schneller in die Demenz abzugleiten, als er seine Lydia in das Familienwesen verwandeln kann, das er ihnen gerne vorführen würde. Zwar kann sich auch Lydia eine gemeinsame Zukunft vorstellen, doch hat sie eine dunkle Vorgeschichte und will die Tochter vor Enttäuschungen bewahren.
Die Novelle gleicht einem Staffellauf: Wird es Anton gelingen, den Familienstab rechtzeitig in Empfang zu nehmen, bevor sich seine Eltern aus dem Leben verabschieden? Das Dingsymbol, das den Wettlauf gegen die Zeit leitmotivisch vorantreibt, sind eben jene Erdbeeren, die dem Buch seinen Titel geben. Jedes Jahr im Juni hat Antons Mutter dem alleinlebenden Sohn ein Paket mit selbstgekochter Erdbeermarmelade nach Berlin geschickt. Im letzten Herbst aber hat sie vergessen, die Pflanzen auszusetzen, die sie auf einem kleinen Acker hegt und pflegt, bis der Frühsommer ins Land zieht. Um seine Mutter, die am Telefon über ihr Versäumnis weinte, zu trösten, bittet Anton einen Bauern, heimlich und zur Unzeit Erdbeerpflanzen auszusetzen. Mit Recht hofft er, die Mutter werde vergessen, was sie vergessen hat und die Erdbeerpflanzen als ihre eigenen annehmen.
Die Novelle spielt in den wenigen Wochen bis zur Reife der Pflanzen, die vom Kochen der Marmelade gekrönt werden soll. Katharina Hacker findet eindrucksvolle Bilder für das allmähliche Abgleiten der Mutter ins Vergessen und den täglichen Kampf der Ehepartner, ihre Defizite voreinander zu verbergen. Sie zeigt Anton hin und her gerissen zwischen seinem Berliner Alltag und den Besuchen bei den Eltern. Wenigstens einmal sollen Lydia und Rachel mitkommen aufs Land, um den Eltern zu zeigen, dass es der Sohn endlich geschafft hat, eine Familie zu haben, wie es sich gehört. Zum Showdown zieht man gemeinsam aufs Erdbeerfeld, unterlegt vom Basso continuo einer Bedrohung, die Katharina Hacker hier wie in all ihren Büchern mit einer großen „Bangnis“ um die Verletzlichkeit des Glücks inszeniert.
Katharina Hacker hat wie nur wenige jüngere Autoren feinste Antennen für alle Formen der Angst, während sie zugleich nach Modellen der Fürsorge und des Trostes sucht. Sie unterlegt ihrer Novelle, zu der „Alix, Anton und die anderen“ gleichsam die Hintergrundskizze bildet, die Legende vom Bucklicht Männlein, spielt geschickt mit romantischen Motiven und verdichtet die Lebensläufe ihrer Figuren auf knappstem Raum. Mit „Die Erdbeeren von Antons Mutter“ ist ihr ein Werk gelungen, das nicht im großen Entwurf stecken bleibt, sondern das Machbare zum Ausgangspunkt des Gelingens wählt. Dass sich die Geschichten um Alix, Anton, Jan und Bernd fortsetzen lassen, scheint nun gewiss. Die richtige Form wird sich schon finden.
MEIKE FESSMANN
KATHARINA HACKER: Die Erdbeeren von Antons Mutter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 175 Seiten, 17,95 Euro.
Je mehr Lebensmöglichkeiten
ausgeschlagen werden, desto
mehr Papier bleibt unbedruckt
„Die Erdbeeren, sagte jemand, die Erdbeeren, rief jemand anders. Die Straße war so still, dass die Stimmen hallten. Das Kind braucht keine Jacke, wir pflücken Erdbeeren, aber schau doch zum Himmel, es kann jederzeit wieder anfangen zu regnen, schaut nur zum Himmel!“ Foto: Caro / Giesen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2010

Mit den Erdbeeren wachsen

Von unzeitgemäßer Ernsthaftigkeit und großer Meisterschaft: Katharina Hackers neue Erzählung ist das Früchtchen der Saison.

Von Friedmar Apel

In Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" leuchten die Früchte trotz der fehlenden Farbe als Symbole der Erinnerung an die Kindheit und zugleich eines schuldhaft verfehlten Lebens. In John Lennons "Strawberry Fields", einem seiner persönlichsten Lieder, führt der Weg zum Erdbeerfeld in eine als unwirklich empfundene und doch unauslöschliche Erinnerung an die Kindheit. Erdbeeren sind seit François Villons Ballade von der wilden Lust im Erdbeerfeld nicht mehr unschuldig, obwohl sie in der bildenden Kunst oft Demut symbolisieren. So stehen auch Chardins appetitlich aufgetürmte Walderdbeeren auf dem Umschlag von Katharina Hackers neuem Buch von vornherein unter dem Verdacht tieferer Bedeutung.

Mit "Alix, Anton und die anderen" (2009) hatte Katharina Hacker das erste von drei Büchern eines Zeit- und Gesellschaftsromans vorgelegt, der manchen Leser von ferne an die symbolische Verfahrensweise von Goethes "Wahlverwandtschaften" oder gar der "Wanderjahre" erinnerte. Dem sozialen Nebeneinander, wie es in Berlin zu beobachten ist, sollte im ersten Teil des ambitionierten Projekts ein im zweispaltigen Druck repräsentiertes paralleles Erzählen entsprechen. Anordnung und Druckbild der Spalten fielen jedoch nicht wie von der Autorin geplant aus, aber vermutlich hätten sich viele Leser auch andernfalls damit schwergetan, zwei Textblöcke nebeneinander aufzufassen und aufeinander zu beziehen. Zusätzlich führten die öffentlich ausgetragenen Querelen der Autorin mit dem Suhrkamp Verlag zu einer unglücklichen Vermengung von Aspekten in einer ungewohnt zwiespältigen Aufnahme des Werks der seit "Eine Art Liebe" (2003) und "Die Habenichtse" (2006) viel gelobten Autorin.

So ist es gut, dass Katharina Hackers erstes Buch im neuen Verlag von diesen Aspekten nicht berührt wird. Allerdings geht es in "Die Erdbeeren von Antons Mutter" wieder um die kleine Gruppe von kinderlosen Vierzigjährigen, die in Schöneberg und Kreuzberg leben und arbeiten und sonntags um den Schlachtensee in Zehlendorf spazieren, denen es eigentlich gutgeht und die trotzdem eigentümlich heikel und gefährdet sind. Dennoch handelt es sich dabei nicht um einen Teil der Trilogie, sondern um eine in sich geschlossene Erzählung, die im Wesentlichen der Definition der Novelle entspricht. Obwohl einige Ereignisse aus "Alix, Anton und die anderen" als Zitate eine Rolle für den Hintergrund der Beunruhigung spielen, darunter der Mord in einem vietnamesischen Restaurant, wird die Kenntnis des Buchs nicht vorausgesetzt.

Die Handlung wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die Gleichzeitigkeit von äußeren und inneren Geschehnissen wird kunstvoll, aber in herkömmlicher Textdarbietung exponiert. Im Vordergrund richtet sich der Blick auf Anton, den in Kreuzberg praktizierenden Allgemeinarzt. Er hatte sich in die übersensible Alix verliebt wie gleichzeitig sein Freund Jan, ihr aber zu dessen Gunsten entsagt. Durch einen Zusammenstoß beim Radfahren lernt Anton Lydia kennen und lieben. Noch bevor er mit ihrer kleinen Tochter Bekanntschaft machen darf, hofft er auf eine gemeinsame Wohnung und Veränderung seines Lebens.

Auf Antons Verheiratung und auf Enkelkinder warten daheim in Calberlah bei Wolfsburg schon lange Antons Eltern Hilde und Wilhelm, aber noch ist es zu früh, ihnen Lydia vorzustellen. Hilde schickt Anton und seinen Freunden jedes Jahr Erdbeermarmelade aus den Früchten, die sie auf ihrem ererbten Acker anbaut. Dieses Jahr aber hat sie vergessen, die Erdbeeren rechtzeitig zu pflanzen. Anton überredet den Bauern Helmer, bereits angegangene Stauden heimlich in Hildes Beet einzusetzen. Gegen dessen gärtnerische Prognose reifen die Früchte, während Anton einsehen muss, dass seine Eltern an schnell fortschreitender Demenz erkrankt sind. Mit "Bangigkeit, mit Schrecken und schlechtem Gewissen" wird ihm im Anblick seiner Mutter fasslich, wie einem das Leben enteignet werden kann.

Zudem bricht Lydias Vergangenheit ins Geschehen ein. Sie war mit Rüdiger zusammen, der vor dem Leben in der deutschen Provinz in die Fremdenlegion geflüchtet war und sich hernach als Söldner auf den internationalen Schlachtfeldern die Identität gehärtet hatte. Auch in Berlin trägt er noch Camouflagehosen. Die Trennung von Lydia und dem Kind kann er dennoch nicht verwinden. Sie hatte ihn in der Schwangerschaft verlassen, um ihr eigenes, von Verwahrlosung bedrohtes Leben wieder in Ordnung zu bringen. Rüdiger zur Seite steht Martin, sein ehemaliger Pilot, ein kleiner Mann, der unbeauftragt meint, Lydia vor Anton beschützen zu müssen. Überdies wird er auf seltsamen Wegen dessen Mutter zum Spiegel, in dem sie der Versäumnisse ihres Lebens noch einmal ansichtig wird, während ihr Gedächtnis zunehmend versagt.

In raffinierter Engführung setzt die Erzählerin die Stimmen und Geschehnisse in Beziehung zueinander. Während die Erdbeeren wachsen, wächst Antons Liebes zu Lydia, wächst die Sorge um die Eltern, wächst die Angst vor einer diffusen Bedrohung, vor der ihn auch die alten Freunde nicht bewahren können. In Katharina Hackers poetischem Realismus werden Befindlichkeiten in der Abbildung auf die sichtbare Welt bis hinein in die Dinge des täglichen Gebrauchs zur sinnlichen Gewissheit. Die Erdbeeren erscheinen schließlich als dämonisch schillernde Symbole der Gleichzeitigkeit allen Werdens und Vergehens, von Hingabe und Vergeblichkeit, von Lust und Liebe, Angst und Trägheit des Herzens.

Auf dem Acker bei Calberlah ist denn auch das Feld bereitet, auf dem alle Personen und Handlungsstränge zusammengeführt werden. Die "unerhörte Begebenheit" nach Goethes Definition der Novelle aber hat sich als unberechneter Einbruch der Natur in die menschliche Einrichtung bereits ereignet. Unter dem Blattwerk werden nun nur noch die Folgen von Antons mitleidigem Betrugsmanöver sichtbar. Da gehen alle nach Hause und fühlen sich als Besiegte, obwohl ein schlimmes Unglück nicht geschehen ist. Nur Martin, "das bucklicht Männlein", bleibt noch eine Weile auf dem Acker stehen und bedenkt, dass eine Zeit nun vorüber ist. Nun gilt es, neu zu beginnen.

Die Erzählung ist unaufdringlich, aber unverkennbar auch ein Lehrstück über die Liebe als Medium der Wahrnehmung, das eine unzeitgemäße Ernsthaftigkeit nicht scheut. Die Liebe mag kommen wie eine Naturkraft, belebend, beseelend und verändernd oder verfehlt, beängstigend und zerstörerisch. Sie zu läutern, zu bewahren und ihre Früchtchen zu schützen, ihre modernen Gefährdungen auszuhalten, Widersprüche zu ertragen und zu gestalten erscheint als nie endende Aufgabe. Wie und ob die Menschen in Katharina Hackers Romanwerk sie bewältigen, wird den Leser nach dieser meisterlichen und ergreifenden Novelle umso mehr interessieren.

Katharina Hacker: "Die Erdbeeren von Antons Mutter". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 176 S., geb., 17,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Eher desillusioniert hat Rezensent Jochen Jung diese Novelle über die vier Fortysomethings, die er schon in Katharina Hackers letztem Buch kennengelernt hat, wieder zugeklappt. Denn für seinen Geschmack verarbeitet die Geschichte zu viel "Direktgefühl", was er für eher literaturinkompatibel hält. Das Dauerkümmern der Protagonisten umeinander macht ihn, wie man dem Ton der Kritik anmerkt, etwas mürbe. Die berührendsten und glaubwürdigsten Seiten gelingen der Autorin aus seiner Sicht noch mit den "feinen Schilderungen verschwindender Geistes- und Lebensgegenwärtigkeit" der Eltern eines ihrer Protagonisten. Von der Autorin hätte sich Jung mehr über Leben und Alltag von Anton und den anderen gewünscht. Und vom Verlag weniger Druckfehler.

© Perlentaucher Medien GmbH
Showdown in Calberlah

Verlag gewechselt, Marmelade mitgenommen: Katharina Hackers Novelle „Die Erdbeeren von Antons Mutter“

„Die Erdbeeren von Antons Mutter“, so dinglich und schlicht kommt die Novelle daher, die Katharina Hacker wie einen Bremsklotz in das Räderwerk einer Debatte schiebt, in die sie mit ihrem letzten Roman geraten war. „Alix, Anton und die anderen“ hieß das kleine Büchlein über vier Berliner Fortysomethings, das vor einem halben Jahr die Gemüter nicht seines Inhalts wegen erhitzte, sondern weil die Autorin auf ihrer Homepage bekanntgegeben hatte, dass es gegen ihren Willen bei Suhrkamp erschienen war, ihrem bisherigen Verlag, den sie bereits mit diesem Buch hatte verlassen wollen.

Man müsste diese Geschichte nicht noch einmal aufwärmen, wenn es dabei nur um Verlagsquerelen und Autoren-Eitelkeiten ginge. Doch sie ist geradezu ein Lehrstück, wie heikel und verletzlich kreative Prozesse sind, und wie wenig sie sich von außen beeinflussen lassen. Was immer ein Autor über seine Absichten erklärt, am Ende zählt die ästhetische Glaubwürdigkeit seines Werks.

Auch wer Katharina Hacker als Autorin schätzt, konnte in „Alix, Anton und die anderen“ beim besten Willen nicht das Werk erkennen, das sie selbst darin sah. Es sollte der erste Band eines großangelegten Romanprojekts werden, das die Lebenswege der vier Hauptpersonen auf eine Weise erzählt, dass auch die ausgeschlagenen Möglichkeiten kenntlich werden. Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches, gehört es doch zum Handwerkszeug des Romanciers, auch die Wünsche, Träume, und Ängste seiner Figuren darzustellen. Erst so entsteht eine eigene Romanwirklichkeit, die der Autor, je nach Gusto, auch ins Surreale oder Spielerische kippen lassen kann.

In Händen aber hielt der verblüffte Leser kein polyphones Werk im Geiste eines Joyce oder Cortázar, sondern ein großformatiges Buch, das aussah, als habe die Autorin ihren Zettelkasten ausgekippt: 125 locker bedruckte Seiten, gesetzt in zwei Text-Blöcken von unterschiedlicher Länge und Breite, dazwischen und rundherum sehr viel Leerraum. Auch darum war es in der Auseinandersetzung mit Suhrkamp gegangen: Katharina Hacker hatte sich zwei gleichbreite Text-Blöcke vorgestellt. Ihr Roman hätte dann einen Umfang von 200 Seiten gehabt. Allerdings hätte das nichts daran geändert, dass die ästhetische Pointe allein in der Formidee unbedruckten Papiers stecken sollte: als Symbol ausgeschlagener Lebensmöglichkeiten.

Während bei „Alix, Anton und die anderen“ die literarische Ambition größer war als die zur Verfügung stehenden Mittel, verhält es sich bei der nun erschienenen Novelle genau umgekehrt. Sie gehört in den Umkreis des gelegentlich als Trilogie apostrophierten Projekts, ohne ein Teil davon zu sein. Das hört sich etwas seltsam an, aber im S. Fischer Verlag, bei dem Katharina Hacker nun publiziert, scheint man die Kunst diplomatischer Autorenbeschwichtigung aufs schönste zu beherrschen. Wie sonst hätte man dieser skrupulösen Schriftstellerin, die nicht erst seit dem Erfolg ihres Romans „Die Habenichtse“ mit ihren hohen Ansprüchen an sich selbst zu kämpfen hat, so schnell ein derart gelungenes Kunstwerk entlocken können? In „Die Erdbeeren von Antons Mutter“ überantwortet sich Katharina Hacker ganz den strengen Formgesetzen der Novelle und erzählt damit ihre Geschichte aus dem Berlin der Gegenwart auf unangestrengte Weise weiter.

Wieder stehen die vier kinderlosen Mittvierziger im Zentrum, die sich zu einer Art Wahlfamilie zusammengeschlossen haben: die an Hyperakusis leidende, hochsensible und schöne Graphikerin Alix, ihr Mann Jan, ein Psychotherapeut, der schwule Buchhändler Bernd und eben jener Anton, der als Allgemeinarzt in Kreuzberg praktiziert und dessen Lebensweg am Ende des Romans auf eine Spur gesetzt wurde, die ihm endlich das Glück verhieß, auf das er schon so lange hoffte. Er war einer Frau ins Fahrrad gelaufen, Lydia, ungefähr so alt wie er, ebenfalls Allgemeinärztin in Kreuzberg, alleinerziehende Mutter einer dreijährigen Tochter. Deren Namen hat die Autorin beim Übertritt vom einen Buch ins andere geändert. Sie heißt nun nicht mehr Antonia, sondern weniger plakativ Rachel.

Anton träumte schon lange vom Familienglück mit Frau und Kind, Haus und Garten. Während er zum ersten Mal in seinem Leben in die Reichweite dieses Glücks gelangt, geraten zugleich die sicher geglaubten Eckpfeiler seiner Existenz ins Wanken. Wie Hacker die Not, in die er gerät, konstruiert, wirft ein Licht auf das gesamte Projekt: Es geht auch um den Generationenvertrag und darum, was mit Lebensläufen geschieht, in denen Kinder nicht mehr selbstverständlich sind. Antons Eltern, die im niedersächsischen Örtchen Calberlah leben, drohen schneller in die Demenz abzugleiten, als er seine Lydia in das Familienwesen verwandeln kann, das er ihnen gerne vorführen würde. Zwar kann sich auch Lydia eine gemeinsame Zukunft vorstellen, doch hat sie eine dunkle Vorgeschichte und will die Tochter vor Enttäuschungen bewahren.

Die Novelle gleicht einem Staffellauf: Wird es Anton gelingen, den Familienstab rechtzeitig in Empfang zu nehmen, bevor sich seine Eltern aus dem Leben verabschieden? Das Dingsymbol, das den Wettlauf gegen die Zeit leitmotivisch vorantreibt, sind eben jene Erdbeeren, die dem Buch seinen Titel geben. Jedes Jahr im Juni hat Antons Mutter dem alleinlebenden Sohn ein Paket mit selbstgekochter Erdbeermarmelade nach Berlin geschickt. Im letzten Herbst aber hat sie vergessen, die Pflanzen auszusetzen, die sie auf einem kleinen Acker hegt und pflegt, bis der Frühsommer ins Land zieht. Um seine Mutter, die am Telefon über ihr Versäumnis weinte, zu trösten, bittet Anton einen Bauern, heimlich und zur Unzeit Erdbeerpflanzen auszusetzen. Mit Recht hofft er, die Mutter werde vergessen, was sie vergessen hat und die Erdbeerpflanzen als ihre eigenen annehmen.

Die Novelle spielt in den wenigen Wochen bis zur Reife der Pflanzen, die vom Kochen der Marmelade gekrönt werden soll. Katharina Hacker findet eindrucksvolle Bilder für das allmähliche Abgleiten der Mutter ins Vergessen und den täglichen Kampf der Ehepartner, ihre Defizite voreinander zu verbergen. Sie zeigt Anton hin und her gerissen zwischen seinem Berliner Alltag und den Besuchen bei den Eltern. Wenigstens einmal sollen Lydia und Rachel mitkommen aufs Land, um den Eltern zu zeigen, dass es der Sohn endlich geschafft hat, eine Familie zu haben, wie es sich gehört. Zum Showdown zieht man gemeinsam aufs Erdbeerfeld, unterlegt vom Basso continuo einer Bedrohung, die Katharina Hacker hier wie in all ihren Büchern mit einer großen „Bangnis“ um die Verletzlichkeit des Glücks inszeniert.

Katharina Hacker hat wie nur wenige jüngere Autoren feinste Antennen für alle Formen der Angst, während sie zugleich nach Modellen der Fürsorge und des Trostes sucht. Sie unterlegt ihrer Novelle, zu der „Alix, Anton und die anderen“ gleichsam die Hintergrundskizze bildet, die Legende vom Bucklicht Männlein, spielt geschickt mit romantischen Motiven und verdichtet die Lebensläufe ihrer Figuren auf knappstem Raum. Mit „Die Erdbeeren von Antons Mutter“ ist ihr ein Werk gelungen, das nicht im großen Entwurf stecken bleibt, sondern das Machbare zum Ausgangspunkt des Gelingens wählt. Dass sich die Geschichten um Alix, Anton, Jan und Bernd fortsetzen lassen, scheint nun gewiss. Die richtige Form wird sich schon finden.

MEIKE FESSMANN

KATHARINA HACKER: Die Erdbeeren von Antons Mutter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 175 Seiten, 17,95 Euro.

Je mehr Lebensmöglichkeiten
ausgeschlagen werden, desto
mehr Papier bleibt unbedruckt

„Die Erdbeeren, sagte jemand, die Erdbeeren, rief jemand anders. Die Straße war so still, dass die Stimmen hallten. Das Kind braucht keine Jacke, wir pflücken Erdbeeren, aber schau doch zum Himmel, es kann jederzeit wieder anfangen zu regnen, schaut nur zum Himmel!“ Foto: Caro / Giesen

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