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Rupert Kramer, genannt Ratz, ist der Sohn eines österreichischen Ministers. Er ist 35 Jahre alt und das, was man einen Versager nennt. Nächtelang sitzt Ratz vor dem Computer, um ein abstruses Vatervernichtungsspiel zu entwickeln. Er hasst seinen korrupten sozialdemokratischen Vater, der seine Familie wegen einer jungen Frau verlassen hat. Im November 1999 erhält Ratz einen geheimnisvollen Anruf von Mimi, seiner Jugendliebe. Ratz fliegt nach New York, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Bald ist klar: Er soll helfen, das Versteck von Mimis Großonkel auszubauen, einem alten Nazi, der an der…mehr

Produktbeschreibung
Rupert Kramer, genannt Ratz, ist der Sohn eines österreichischen Ministers. Er ist 35 Jahre alt und das, was man einen Versager nennt. Nächtelang sitzt Ratz vor dem Computer, um ein abstruses Vatervernichtungsspiel zu entwickeln. Er hasst seinen korrupten sozialdemokratischen Vater, der seine Familie wegen einer jungen Frau verlassen hat.
Im November 1999 erhält Ratz einen geheimnisvollen Anruf von Mimi, seiner Jugendliebe. Ratz fliegt nach New York, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Bald ist klar: Er soll helfen, das Versteck von Mimis Großonkel auszubauen, einem alten Nazi, der an der Hinrichtung litauischer Juden beteiligt war. Seit 32 Jahren verbirgt er sich im Keller eines Hauses auf Long Island. Dort kommt es zu einer unheimlichen Begegnung mit dem verwahrlosten Mann.
Anschaulich und fesselnd erzählt Josef Haslinger vom Schicksal dreier Familien: einer jüdischen Familie, die bei den Massakern der Nazis in Litauen vernichtet wird, der Familie der Täter, die sich nach Amerika re tten kann und dort einen grotesken Zusammenhalt bewahrt, sowie von Ratz eigener, sozialdemokratischer Familie, die sich im Wien der neunziger Jahre erbärmlich auflöst. Bestechend genau beleuchtet Haslinger die Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts und macht eindringlich spürbar, dass man der Geschichte nicht entkommen kann.
Autorenporträt
Josef Haslinger, 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, lebt in Wein und Leipzig. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien und den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels. 2010 wird Josef Haslinger der Mainzer Stadtschreiber.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2000

Mimi und der Mörder
Josef Haslingers neuer Roman „Das Vaterspiel”
„Ich war zu schnell unterwegs, das wusste ich”. Ein guter Anfang, es ist dunkel, es liegt Schnee auf der Straße, immer mehr fällt vom Himmel, und ein Mann fährt durch den Morgen, Rupert Kramer, der Ministersohn: „Die vielen Kurven machten es schwer, das Auto in der Straßenmitte zu halten. Die Panzer hatten gute Chancen mich zu kriegen. Ich hätte langsamer fahren sollen, aber ich tat es nicht. Ich hatte einen Auftrag, und ich wollte ihm gewachsen sein. ”
Rupert Kramer ist ein erfolgloser Videospiel-Bauer, seine Realität ist voller Simulationen: „Schau, sagte er, ich habe dir das schon oft erklärt. Ich würde dir nichts Gutes tun damit. Schade, antwortete ich, kann man nichts machen. Und dann rammte ich ihm das Messer in den Bauch. ” Rupert Kramer ist 35 und sein liebstes Computer-Kind ist das Vatervernichtungsspiel, an dem er seit Jahren baut. Der Vater gibt ihm kein Geld mehr, Rupert hat keine Frau, und er wird für hässlich gehalten. Weil er einen den Unterkiefer speziell überragenden Oberkiefer hat, gleicht sein Gesicht dem einer Ratte.
„Ich heiße Jonas Shtrom und bin amerikanischer Staatsbürger. Um hier, vor der ,Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen‘, meine Aussage zu machen, bin ich eigens aus Chicago angereist. ” Auf Seite 30 beginnt der zweite Ich-Erzähler von Josef Haslingers neuem Roman „Das Vaterspiel”: Shtrom, der ursprünglich aus dem Memelland stammt, dann mit seinen Eltern vor den Nazis ins litauische Kaunas floh, bevor er in die USA kam, vermutet, er habe bei einer amerikanischen Fernseh-Ehrung für erfolgreiche Immigranten den Mörder seines Vaters gesehen: Algis Munkaitis, einen ehemaligen Mitschüler. Drei Protokolle der Aussagen von Jonas Shtrom, beginnend im Jahre 1959, wechseln sich mit Rupert Kramers Erzählung aus dem Jahre 1999 ab.
Nicht mein Kind
Rupert Kramers Part ist ein Bildungsroman, der zeigt, wie es ist, als Sohn eines mächtig werdenden SPÖ-Ministers in Österreich heranzuwachsen. Jonas Shtroms Aussagen bilden ein fiktives Holocaust-Memoir: Beide Erzählstränge gehen weit in die eigene (Familien-)Vergangenheit zurück und ergeben zusammen beinahe einen zukunftsgerichteten Kriminalroman. Was sie verbinden soll, ist Ruperts Fahrt im Schnee an diesem frühen Morgen: Er will das Flugzeug erwischen, von Linz über Frankfurt am Main nach New York, denn Mimi, eine ehemalige Kommilitonin, die einzige Frau, die den „Ratz” Rupert einmal an sich herangelassen hat, hat ihn von dort aus gebeten, ihr zu helfen. Wobei, das wollte sie noch nicht sagen. Doch da man erfährt, dass Mimis Vorfahren aus Litauen stammen, und gleich auf dem Buchrücken steht „Einem Nazi helfen. Sonst noch etwas?”, ist es für jeden Leser nicht schwer zu vermuten, dass Mimi mit Algis Munkaitis etwas zu tun haben wird.
„Es kann als ein markantes Merkmal der bürgerlichen Lebensform gelten, dass sie eine intim-private Sphäre und eine öffentlich-rechtliche auseinanderdriften lässt”. Josef Haslinger, der mit seinem ersten Roman „Opernball” rasch bekannt wurde, ist nicht als Bestseller-Autor geboren worden. Er hat über „Die Ästhetik des Novalis” promoviert und den Frühromantiker dabei auf den „Boden der Gesellschaft” zurück geholt. In seinen Essays hat sich Haslinger gegen die kulturkritische Verdammung verkäuflicher Literatur gewehrt und in Interviews hat er seine Distanz zu den eigenen Produkten festgelegt: „Mein Roman ist nicht mein Kind”. Ein „moderner Intellektueller” also, der sich auch einen „verirrten Linken” genannt und ein gescheites Buch über Österreich & Waldheim geschrieben hat.
Und jetzt also, fünf Jahre nach dem erfolgreichen „Opernball”, nach dem Kolportage-Sujet eines rechtsradikalen Terroranschlags auf die Wiener Festivität, Haslingers zweiter Roman: Nationalsozialismus, Judenverfolgung, zwei Familiengeschichten, verwoben mit einer dritten, deren Hintergrund der korrupte österreichische Staatssozialismus ist.
Alles scheint zu „passen”, auch zu Haslingers eigener Publikations-Geschichte. Man beginnt das Buch gern zu lesen, man freut sich über die schnellen Sätze, hält das Buch zuerst mal für „spannend”, merkt gleich, dass es episch angelegt ist und ist auch bereit, geduldig zu beobachten, wie der Jonas- und der Rupert-Strang sich vermutlich allmählich verknoten werden.
Doch sie tun es nicht recht, über hunderte von Seiten hinweg fährt dieser Rupert durch den Schnee und denkt an sein Leben zurück, und während man das in der traurigen Liebesgeschichte zwischen Jonas und Lea anrührende Fake einer Judenverfolgungs-Geschichte liest, wo es doch gerade in letzter Zeit wieder viele tatsächlich erlebte Geschichten dieser Art zu lesen gibt, denen man von vornherein jeden Satz glaubt, beginnt man sich immer dringender zu fragen, was die Geschichte von der Bildung und Zerstörung des Ghettos in Kaunas denn mit der viel breiter ausgewalzten Jugend eines österreichischen Ministersohns zu tun hat?
Einmal liegen ganze 160 Seiten zwischen zwei „Protokoll-Teilen”. Immer wieder verliert sich Haslinger, man wünscht dem Lektor einen Säbel, im österreichischen Familien-Sumpf. Nicht nur von Ruperts Vater, dem Ehrgeizling und Macher, auch von seiner zwischen Männern herumirrenden Schwester erzählt der Sohn viel, von der verpfuschten Ehe der Eltern, deren Verhältnis zu den jeweiligen Großeltern, die aus verschiedenen Schichten stammen, aus dem Wiener-Arbeiter-Altsozialismus einerseits, aus dem ländlichen katholischen Bürgertum andererseits; einzelne Passagen sind ironisch, lustig, packend geschrieben, andere nur „aufschlussreich”. Kurz: Man liest das, obwohl die Einzelgänger-Figur Rupert gut gelungen ist (die ihn mit Ekel betrachten, betrachtet er mit Distanz), je länger es dauert, wie mühseligen Geschichtsunterricht mit Pappkandidaten.
Warum? Die Story ist nicht gut genug. Hinter dem „Opernball” stand ein genialer, der Terroranschlags-Einfall. Das Vatervernichtungsspiel trägt keine 575 Seiten, das Trumm wirkt erstaunlich brav. Es bleibt, unentschieden, irgendwo zwischen seinen Möglichkeiten stecken. Es ist, weil zu zahm, keine übliche Familien-Destruktionsgeschichte; es kann, weil fingiert und auf Spannung getrimmt, aber auch kein gewichtiger Vergangenheitsbewältigungstext werden.
Umso mehr, als das Buch einen erstaunlichen blinden Fleck hat: In Österreich hat es, so das „Vaterspiel”, den Nationalsozialismus nicht gegeben. Ja, es gab nur Sozialisten (die echten, damals, Großvater Kramer, die schlechten, korrupten heute, Vater Kramer) und konservative Katholiken (die Familie der Mutter). Den Nationalsozialismus gab es in Litauen, damals, es gibt ihn heute in den USA, weil dort die litauischen Nazis hingeflohen sind. Sehr leicht und naheliegend wäre es gewesen, den katholischen Großvater mit etwas Nazitum auszustatten, man hätte es Ruperts Bewusstsein zugetraut. Doch der jeder Vergangenheitsfälschung recht unverdächtige Haslinger, der offenbar die Litauen-Geschichte unterbringen wollte (er hat dort recherchiert), dachte sich die ergänzende österreichische Erzählung wohl aus dramaturgischen Gründen nazifrei. Was nun beide Teile unglaubwürdig und schwerfällig konstruiert erscheinen lässt. Mit dem „Anschluss” beider Länder hätte man mehr anfangen können.
Das zweite Paradox in diesem Zusammenhang führt in den Kern des Romans, der nicht politisch ist: Algis Munkaitis, der seit über 30 Jahren in einem New Yorker Keller haust, weil er sich vor Jonas Shtrom versteckt und dabei inzwischen von Nichte Mimi versorgt wird, ist eine eindrückliche Figur, obwohl er nach eigenem Eingeständnis ein Mörder und ein „unbelehrbarer” Oswald-Spengler-Fan und Darwinist ist. Nicht die politische Haltung entscheidet hier über gut oder schlecht. Was sanktioniert wird, ist das Verhalten dem Vater gegenüber. Fast so ergreifend wie Shtrom erzählt Munkaitis von seinem eigenen Vater. Täter wie Opfer lieben ihren Erzeuger, sind ihm treu geblieben. Und nur wer das von sich sagen kann, ist mit sich selbst im Reinen.
Dieser einfachen Moral genügt Rupert, das zunehmend orientierungslose Ekel, dem Algis sympathisch ist, nicht: Sein Vatervernichtungsspiel wird in New York entdeckt und kommt ins Internet. Das Spiel hat einen Riesenerfolg, an Weihnachten wählen sich 33 000 User ein. Doch Rupert, der am Gewinn beteiligt und reich geworden ist, kann sich an seinem Sieg nicht freuen. Er ist gerade zu Besuch in Wien, wo sich sein Vater umgebracht hat; im Zimmer, in dem die Leiche aufgefunden wurde, steht ein Laptop: „Ich will ihn aufklappen, einschalten, den Internetbrowser aufrufen und nachsehen, welche Adressen in den letzten Wochen angewählt wurden. Aber nicht vor Zeugen. ” Und dann heißt es, Rupert’s monströsem Vater, der sonst nie von Persönlichem sprach, sei vor fünf Jahren einmal „etwas nicht aus dem Sinn” gegangen: „Dass ich meinen Sohn verloren habe”. Hier nähert sich dieser Roman, an dem sich ein guter Schreiber verhoben hat, dem Kitsch.
HANS-PETER KUNISCH
JOSEF HASLINGER: Das Vaterspiel. Roman. S.Fischer-Verlag. Frankfurt a. Main. 575 Seiten. 44 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2000

Die Familienfalle
Josef Haslingers "Vatervernichtungsspiel" · Von Thomas Steinfeld

Alle Einwände, die gegen dieses Buch geltend gemacht werden, hätten auch gegen seinen Vorgänger angeführt werden können. Die Geschichte wirkt konstruiert, der Autor schweift immer wieder weit ab ins Detail, ein Verbrechen geschieht, und es sprengt alle Dimensionen. Aber der "Opernball" aus dem Jahr 1995, Josef Haslingers Debüt als Romancier, wurde zu einem großen Erfolg, beim Publikum wie bei der Kritik. Und dieser Erfolg darf sich offenbar nicht wiederholen. Dabei hätte der neue Roman des österreichischen Schriftstellers das Zeug für einen Bestseller. "Das Vaterspiel" ist ein kluges Buch, das auf hohem Niveau unterhält, und wenn die Geschichte zuweilen etwas steifbeinig und kalkhaltig daherkommt, dann liegt darin eine literarische Schwäche, die Josef Haslinger mit seiner Entscheidung für das Genre der kriminalistisch inspirierten Fallgeschichte in Kauf genommen hat.

Denn von einem Fall erzählt auch dieses Buch, oder genauer gesagt: von drei Fällen. Der erste handelt von der Familie eines österreichischen Sozialisten, der in den sechziger Jahren als politischer Aufrührer beginnt, in den achtziger Jahren zum Minister und Meister von hundert Aufsichtsräten wird und am Ende so tief stürzt, wie man in einem geschlossenen System der Bestechlichkeit nur fallen kann. Der zweite Fall erzählt von einem jüdischen Jungen, der in Klaipeda zur deutschen Schule geht, bis seine Eltern vor der einmarschierenden Sowjetarmee nach Kaunas fliehen müssen, wo die Familie nach der Eroberung Litauens durch die Wehrmacht den Massakern zum Opfer fällt, die Deutsche und Litauer gemeinsam an der jüdischen Bevölkerung verüben. Nur der Junge überlebt, zieht in die Vereinigten Staaten und erkennt irgendwann den Litauer wieder, mit dessen Auftreten der Mord an seiner Familie begann. Der dritte Fall schließlich ist die Geschichte dieses Litauers und seiner Nichte - und diese lernt irgendwann (das Buch hat schon knapp das zweite Drittel seines Umfangs erreicht) den Sohn jenes österreichischen Ministers kennen.

Von drei Familien erzählt dieser Roman. Er berichtet davon, wie keiner der Beteiligten seiner Familie entkommt, wie jeder am Ende in diesen engen Kreis zurückkehrt, wie jede große Entscheidung, auch die scheinbar politische, auf privatem Grund steht - und davon, wie hilflos am Ende jede dieser Entscheidungen ist. Drei Väter gibt es in dieser Geschichte: zuerst den österreichischen Minister, einen Phrasendrescher, einen Ehrgeizling und Karrieristen, dann den Vater des jüdischen Knaben, einen treusorgenden Rechtsanwalt, und schließlich den litauischen Massenmörder, der es in den Vereinigten Staaten kurz zu einem kleinen Vermögen bringt - aber der ist nur eine Art Stiefvater. Der erste begeht Selbstmord, als sein Mogelimperium zusammenbricht, der zweite wird von der litauischen Miliz an der einzigen Tankstelle von Kaunas erschlagen, und der dritte, auch er der Sohn eines Politikers, verbringt die letzten drei Jahrzehnte als lebender Toter in einem Keller auf Long Island, aus Angst, der zum Journalisten gewordene jüdische Junge sei auf seine Spur gekommen. Eine vaterlose Gesellschaft ist da zusammengekommen, und das heißt, nicht nur psychoanalytisch betrachtet: Es gibt hier keine Werte, die einem den Weg durch das Leben weisen könnten, keine philosophische Haltung, die sich von einer Generation auf die nächste übertragen ließe, und Recht und Unrecht laufen auf verhängnisvolle Weise ineinander.

Eine Figur ist wichtiger als alle anderen: Helmut Kramer, der Sohn des sozialistischen Ministers gleichen Namens. Seine Geschichte - und das heißt: der Haß auf seinen Vater - hält dieses Buch zusammen. Der junge Helmut, der sich später "Rupert" nennt, ist ein enger Verwandter der Helden von Michel Houellebecq: Ein blasser Kerl mit schütterem roten Haar, dünnem Bart und vorstehender Oberlippe, ein Mensch also, dessen Gesicht so sehr dem einer Ratte ähnelt, daß er nur "der Ratz" gerufen wird. Er bummelt sich durch ein Studium der Publizistik, keine Frau will ihn erhören, er versinkt in dicken Schwaden von Haschischrauch, und mit dem einzigen Freund, den er für eine kurze Zeit behalten darf, teilt er die Vorliebe für ein Lied der populären Musik: "Losing My Religion" heißt der Song der amerikanischen Rockgruppe "R. E. M.", und darin singt Michael Stipe: "I thought that I heard you laughing / I thought that I hear you sing / I think I thought I saw you try . . ." Man hat diesem Buch seine Weitschweifigkeit vorgeworfen. Es gibt sie, das ist wahr. Aber diese Weitschweifigkeit ist kein Verstoß gegen die Ökonomie des Lesens, im Gegenteil: Das Buch handelt davon - nicht nur von den Schwierigkeiten, im Rausch das Gefühl für die Zeit zu bewahren, sondern auch von der Unfähigkeit, im Leben einen Halt zu finden.

Nur ein Talent hat der "Ratz", nämlich eine handwerkliche Begabung. Sie verhilft ihm zu seinem ersten und einzigen Beischlaf, als er einer Kommilitonin das Zimmer renoviert, sie läßt ihn als Autofahrer im Schneetreiben überleben, und sie führt ihn in die Vereinigten Staaten, wo er das Versteck des mittlerweile unter starker Knochenverkalkung leidenden litauischen Massenmörders behaglich ausstattet - eines Mannes, den er bald mag, obwohl er von seiner Vergangenheit weiß. Und es ist das handwerkliche Talent, das ihm den einzigen wirklichen Erfolg in seinem Leben beschert. Über Jahre hinweg hat er die Nächte am Computer verbracht, endlos spielend und schließlich selber Spiele entwerfend. Zuerst ist dabei ein Fußballspiel entstanden, in dem es keinen Ball gibt, sondern nur Bewegungen in eine definierte, aber leere Richtung - auch dies eine etwas aufdringliche Metapher. Dann entwickelt Rupert Kramer das "Vatervernichtungsspiel", ein Spiel der Todesarten, das fiktive Ausleben des ödipalen Konflikts, einschließlich der Opferung des Gehaßten auf einer überdimensional großen Zitronenpresse von Philippe Starck.

Rupert Kramer versucht, dieses Spiel mit Hilfe von Software-Unternehmen auf den Markt zu bringen, aber vergeblich. Erst als er jemanden kennenlernt, der mit dem "Internet" zu arbeiten versteht, mit dem freien, durch keine Hierarchie gegliederten Raum, bekommt das Spiel seine Chance: "The newest from Vienna, the city of Sigmund Freud: The Father Game. Check it out. It's a thrilling experience. And it's a lot of fun." Plötzlich hat der junge Mann Geld, er muß nicht mehr zu Hause betteln gehen, sondern mietet sich einen "Lincoln" und gibt an: "Dieses Auto wird meinen Vater überzeugen, daß wir in eine neue Weltordnung eingetreten sind, in der sein Geld ausgespielt hat. Sein Geld hat keine Macht mehr. Hier steht der Lincoln. Ich habe in der Familie die Macht übernommen. Ab sofort diktiere ich." Aber in diesem Augenblick ist der Vater schon beinahe tot, und ernst gemeint war diese Euphorie der Macht wohl nicht - denn schon hört man im Hintergrund die Mutter weinen.

Über fünfhundert Seiten hat dieses Buch, und das ist mehr, als manche Rezensenten ertragen wollten. Manche dieser Seiten sind voller Stereotypen, voller greller, überdeutlicher, übertrieben einfacher Ideen wie die von der Macht des Vaters, die sich in einem allzu großen Automobil kundtut. Oft gehen die Dialoge daneben, und dann reden die Figuren miteinander, als schrieben sie einander Briefe. Josef Haslinger kann trotzdem schreiben, mit lakonischer Eleganz: "Ich hätte langsamer fahren sollen, aber ich tat es nicht. Ich hatte einen Auftrag, und ich wollte ihm gewachsen sein." Das "Vaterspiel" ist ein Thesenroman, und er funktioniert als solcher - und wenn es sein muß, also um der Wahrheitsfindung willen, gegen das Literarische an der Literatur. Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" aus dem vergangenen Jahr war offensichtlich nur ein Vorbote: Das romantische Genre des Reflexionsromans ist zurückgekehrt. Und wie vor fast zweihundert Jahren heißt das nicht, daß die Dichtung darunter zu leiden hat.

Josef Haslinger: "Das Vaterspiel". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 575 Seiten, geb., 46,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ganz darüber im klaren ist sich der Rezensent Dirk Knipphals nicht, was er von Josef Haslingers Roman "Das Vaterspiel" halten soll. Für ihn fällt der Roman in inhaltlicher wie stilistischer Hinsicht "zwischen die Stühle" und ist schwer kategorisierbar. Am ehesten gehe er noch als - von amerikanischen Mustern geprägte - politische Unterhaltungsliteratur durch, die aber in der deutschen Rezeption nicht besonders beliebt sei. Das mache es schwierig, den Roman zu loben, ohne gleichzeitig unter Rechtfertigungsdruck zu geraten. Knipphals vergleicht den Charakter des Romans mit dem seines Protagonisten: "Der ist ein missratenes Kind, mit offensichtlichen Schwächen, aber auch mit eigenen Qualitäten". Er empfindet die Art, wie Haslinger popkulturelle Referenzen benutzt, als plump und etwas nervig. Problematisch findet Knipphals auch die Bemühungen des Autors, die teilweise sehr weit auseinanderliegenden Erzählstränge zusammenzuführen: "das sind eher Leerstellen als wirklich starke Szenen". Trotzdem: der Aufbau erlaube es Haslinger, so etwas wie "ein gesellschaftliches Panorama zusammenzubasteln". Das wirke manchmal etwas beliebig "wild erzählt" und unelegant. Trotzdem findet er den Roman interessant, denn er erzählt Geschichten und birgt interessante Beobachtungen. Knipphals beschreibt Haslingers Erzählstil wie folgt: "Es gibt in der Sicht Josef Haslingers zu viele Geschichten, die erzählt werden wollen, als dass man sich mit Forderungen mach inhaltlicher Geschlossenheit herumschlagen sollte"

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