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Wirtschaftskrisen bieten die Chance zur Realisierung des politisch Unbequemen, formulierte Milton Friedman einmal. Die Finanzkrise hat in ihrer jüngsten Zuspitzung zu einer unverkennbaren Krise des Regierens geführt, zu einer Notstandspolitik in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik: Die Regierungsgeschäfte haben Expertenkomitees, improvisierte Gremien und 'Troikas' übernommen, deren Legitimation der Ausnahmefall ist.
Diese Entwicklung ist allerdings keineswegs neu. Wie Joseph Vogl in seinem neuen Buch zeigt, sind die Dynamiken des kapitalistischen Systems und des Finanzkapitalismus
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Produktbeschreibung
Wirtschaftskrisen bieten die Chance zur Realisierung des politisch Unbequemen, formulierte Milton Friedman einmal. Die Finanzkrise hat in ihrer jüngsten Zuspitzung zu einer unverkennbaren Krise des Regierens geführt, zu einer Notstandspolitik in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik: Die Regierungsgeschäfte haben Expertenkomitees, improvisierte Gremien und 'Troikas' übernommen, deren Legitimation der Ausnahmefall ist.

Diese Entwicklung ist allerdings keineswegs neu. Wie Joseph Vogl in seinem neuen Buch zeigt, sind die Dynamiken des kapitalistischen Systems und des Finanzkapitalismus durch eine Ko-Evolution von Staaten und Märkten geprägt, in der sich wechselseitige Abhängigkeiten etablieren und verstärken. Vom frühneuzeitlichen Fiskus und dem Auftritt des privaten Financiers über die Entstehung von Zentralbanken hin zur Herrschaft von Finanzökonomie und »global governance« zeichnen sich Souveränitätsreservate eigener Ordnung ab, die autonom innerhalb der Regierungspraxis wirken und im Interesse privater Reichtumssicherung die Geschicke unserer Gesellschaften bestimmen: als ungenannte Vierte Gewalt im Staat.

Die aktuelle Dominanz von Finanzmärkten wird so als jüngste Spielart einer Ökonomisierung des Regierens begriffen, in der die Verschränkung von Machtausübung und Kapitalakkumulation informelle 'Souveränitätseffekte' erzeugt.
Autorenporträt
Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Letzte Instanz
Joseph Vogl erhellt die Genealogie unserer finanzmarktkonformen Moderne:
Sein Essay „Der Souveränitätseffekt“ verändert den Blick auf die Gegenwart
VON JENS BISKY
Nachdem das Bankhaus Lehman Brothers falliert hatte, Dutzende weitere Banken geschlossen oder verstaatlicht worden waren, Börsenkurse und Bruttoinlandsprodukte einbrachen, Insolvenzen und Rezessionen eintraten, die Kanzlerin die Sicherheit der Konten garantierte, besann sich das allgemeine Publikum, inmitten des Wirbels aus alarmistischen Expertenmeinungen und Rettungsprogrammen, auf bleibende Werte. Das hieß: Immobilien kaufen, Moral predigen und auf die demokratische Einhegung der Finanzwirtschaft hoffen.
  Keiner dieser Versuche, sich zum Herren der Situation einzusetzen, war verächtlich, aber keiner vermochte den Schock des Lehman-Konkurses zu mildern, die Lage zu klären. Zwangssituationen und Notstandsmaßnahmen sind inzwischen so alltäglich geworden wie Minizinsen. Der jüngste Showdown im Ringen um die Finanzierung Griechenlands hat dies noch einmal vor Augen geführt. Die Zuspitzung „Varoufakis gegen Schäuble“ mag den verwickelten Zusammenhängen und Abhängigkeiten nicht gerecht werden, zeigt aber, dass es stets auch darum geht, wer entscheidet, sich durchsetzt, am Ende lächelt: griechische Wähler, eine ehrgeizige Regierung, deutsche Steuerzahler, Gläubiger, die EZB, Rettungsmaschinerien, der Euro oder die Finanzmärkte. Weitere Episoden des Dramas sind bereits angekündigt. Wer nicht von einer Rückkehr zum Nationalstaat träumt, wird weiter auf Immobilien setzen, vor Gier warnen und auf den politischen Beschluss warten, die Finanzmärkte im Sinne des Gemeinwohls zu bändigen.
  Immobilienkäufe haben ihre eigenen Risiken, moralische Appelle helfen so viel oder so wenig wie in den vergangenen
200 Jahren – und die Vorstellung, der Staat würde mit seinen juristischen und verwaltungstechnischen Möglichkeiten die Finanzwirtschaft an die Kandare nehmen, setzt ein eindeutig sortiertes Feld, ein gut aufgeteiltes Terrain voraus, dessen Existenz man behaupten mag, das sich aber in der Wirklichkeit nicht finden lässt.
  Die Entgegensetzung von Markt auf der einen und Staat auf der anderen Seite sei Teil einer liberalen Legende. Sie verstelle den Blick auf die Gegenwart, werde weder der Dynamik des Finanzkapitalismus noch der Regierungspraxis und auch nicht dem jüngsten Krisengeschehen gerecht. Das behauptet der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl in seinem Essay „Der Souveränitätseffekt“, einem ebenso kühnen wie klugen Traktat zur politischen Ökonomie.
  Nun konnte man auch bisher schon wissen, dass es mit den Spannungen zwischen Regierungshandeln und Marktmechanismen eine eigene Bewandtnis hat. Die „neoliberale“ Agenda etwa, gern als ein „Zurückdrängen des Staates“ beschrieben, konnte allein durch massiven Einsatz staatlicher Macht umgesetzt werden, ob nun im Chile Pinochets und der Chicago Boys, in Margaret Thatchers Großbritannien oder während der Schocktherapien für die osteuropäischen Länder nach 1989. Aus der Geschichte sind Unternehmen bekannt, die wie die Niederländische Ostindien-Kompanie Handel trieben und zugleich Hoheitsrechte ausübten. Und welcher Sphäre soll man „die Institutionen“ zurechnen, die bis vor Kurzem als Troika auftraten?
  Joseph Vogl spricht von „politisch-ökonomischen Indifferenzzonen“, die während der Ausbildung unserer neuzeitlichen politischen wie wirtschaftlichen Systeme entstanden. Sein „historisch-spekulativer Versuch“ unternimmt nicht weniger, als die Uneindeutigkeiten auf den Begriff zu bringen. Was durch die liberale Brille gesehen als Systemwidrigkeit, Anomalie, Ausnahmefall in Notsituationen erscheinen muss, schildert er als normal. Die Geschichte unserer Moderne ist ohne die von ihm rekonstruierten, informellen Souveränitätseffekte nicht zu verstehen.
  Dieser Essay wird nicht nur Freunden des politischen Liberalismus eine schlaflose Nacht bereiten, zu sehr hängt unser aller Verständnis der Moderne an Theorien der Ausdifferenzierung von Systemen, der klaren Trennung von Strukturen mit jeweiliger Eigenlogik. Die Macht, deren Genealogie Vogl erhellt, ist aber wirksam gerade in ihrer institutionellen Schwäche.
  Joseph Vogl wurde 2003 mit einer „Poetik des ökonomischen Menschen“ bekannt, er hat 2010 das „Gespenst des Kapitals“ heraufbeschworen und damit alle, die an die Rationalität der Märkte glauben wollen, erschreckt. Das Buch wurde ein Bestseller, es ließ dem Leser die Möglichkeit des Kopfschüttelns über die Illusionen der Ökonomen und ihren seltsam moralisierenden Utopismus.
  Sein neuer Essay erlaubt derlei Abwehr nicht. Er beginnt mit einer rasanten Erinnerung an die unerhörten Begebenheiten seit dem Herbst 2008. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte“, fasste Richard Fuld, CEO von Lehman Brothers, seine Ratlosigkeit zusammen. Die Frage, die Vogl umtreibt, lautet nicht, ob man Lehman Brothers hätte retten können oder müssen. Er will „Machtgeheimnissen der Finanzökonomie“ auf die Spur kommen, die in der Krise sichtbar geworden sind.
  Dazu zeigt er zunächst, dass gutes Regieren seit dem Ende des 17. Jahrhunderts immer auch ökonomisches Regieren war. Der Staat war nicht nur der Leviathan, der den Krieg aller gegen alle unterband, sondern wurde auch zu einem Wesen, das bürgerliche Tätigkeit ermunterte, Vermögen und Kräfte der Population bewirtschaftete.
  Dies ist eine der Linien, die in die Gegenwart führen. Eine zweite führt Vogl mit einer Anekdote ein, die wohl bloß gut erfunden, aber doch so wahr ist, dass Wikipedia das Ereignis verzeichnet. Augsburg, 1530: Karl V. besucht die Fugger, wird reichlich bewirtet. In den Kamin hängt der Kaufmann und Bankier Anton Fugger ein Bündel Zimtstangen, damals eines der teuersten Konsumgüter. Die Fugger zeigen dem Kaiser eine Schuldschein, auf dem er den Erhalt einer beträchtlichen Summe quittiert hatte, dann verbrennen sie die Schuldverschreibung und die Zimtstangen im Kanin. Diese verbreiteten, so wird erzählt, „einen Duft und einen Duft und einen Lichtschein, die der Kaiser umso süßer und angenehmer empfand“, da er von einer Schuld befreit war, die er nicht hätte begleichen können. Er erscheint, so Vogl, als „gebundener Souverän“: „Im Patrizierhaus wird der Kaiser mit der Inszenierung von höfischem Luxus, mit der Erinnerung an seine Insolvenz und an eine unerfüllte Verpflichtung gleichermaßen konfrontiert.“
  Es geht um den Haushalt des Souveräns und dessen Abhängigkeit von Finanzmärkten. Staatsfinanzierung über Kredit setzt der Macht eine Grenze. Im Durchgang durch einige Stationen – Fiskus, Münzrecht, Wechselgeschäfte – identifiziert Vogl einen Machttypus, der im Ineinander von politischen Strukturen und ökonomischen Operationen entsteht: „seigniorale Macht“, sogenannte nach seigniorage , dem Münzgewinn wie dem Gewinn der Notenbanken durch Geldemission.
  Was zeichnet seigniorale Macht aus? Zunächst ein heterogenes Gefüge aus Recht und Geschäft, privaten und öffentlichen Akteuren, weiterhin die Verknüpfung mit fiskalischen Operationen, etwa durch steuergedeckte Anleihen. Durch das „private Management öffentlichen Kredits“ werde, sagt Vogl, eine spekulative Finanzierung verstetigt. Das hat paradoxe Effekte: Mit dem Kredit-Steuer-Kreislauf stellt der Staat sich selbst auf Dauer, er ist souverän in Fiskalangelegenheiten, die sich aber zugleich dem souveränen Zugriff entziehen. Die „Privatisierung staatlicher Ressourcen“ und die „politische Besetzung privater Finanz“ gehen Hand in Hand: Seigniorale Macht entsteht mit staatlicher Autorität und gleichermaßen abseits von ihr.
  Am Beispiel der Niederlande verfolgt Vogl, wie sich seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts „verstreute Gestalten seigniorale Macht in einer kohärenten Anordnung“ zusammenfügen. Ihren Ort findet sie etwa in der 1694 gegründeten Bank of England: 1268 Gläubiger liehen dem König 1,2 Millionen Pfund Sterling gegen eine Verzinsung von acht Prozent. So wurde „der stets drohende fürstliche Diebstahl in einen Vertrag zwischen Schuldner und Gläubiger verwandelt und eine neue Institution im Akt fiskalischer Verzweiflung installiert“.
  Sätze wie dieser, und es gibt viele davon, machen die Lektüre des Essays zu einem intellektuellen Vergnügen. In pointierten Formulierungen umkreist Vogl die privat-öffentlichen Hybride und stößt, nachdem er die theoretisch bequeme Gegenüberstellung von Staat und Wirtschaft kassiert hat, den Leser in immer neue Paradoxien und Dilemmata. Er sagt nicht, dass Finanzmärkte die Herrschaft übernommen haben, reformuliert nicht die vulgärmarxistische Lehre vom staatsmonopolistischen Kapitalismus („Stamokap“). Sein Essay ist auf furchtbare Weise gelungen, weil er den politischen Doublebind ernst nimmt, an dem kein gegenwärtiger Zeitungsleser vorbeikommt: „Die verfassungsmäßigen Arrangements zur Sicherung des Kredits konnten zugleich als Gefährdung ebendieser Ordnung angesehen werden.“
  Das Parlament kontrolliert die Regierung, deren Handeln finanzökonomisch gefesselt ist und eine investierende Öffentlichkeit berauscht sich an Gewinnchancen, die eben diese „Verschränkung von staatlichen Autoritäten und privater Geschäftstätigkeit voraussetzt“. Spätestens hier verlässt Vogl alle Komfortzonen normativ begeisterter Demokratietheorie. Demokratisierung des Regierens ging einher „mit der Schaffung neuer Autoritätsenklaven“.
  Mit der „vierten Gewalt“ verbinden sich üblicherweise idealisierte Vorstellungen von Medien und Öffentlichkeit. Hier wird unter diesem Titel die Einrichtung von Zentralbanken abgehandelt. Ob es sich um das amerikanische Federal Reserve System handelt, um die 1948 gegründete Bank deutscher Länder, aus der die Bundesbank hervorging oder die EZB, „eine Verschärfung des deutschen Modells“ – ihre Unabhängigkeit bedeutet, dass sie abseits demokratischer Kontrolle agieren. Am Beispiel der chilenischen Zentralbank, deren Unabhängigkeit 1989 verfassungsrechtlich festgeschrieben wurde, zeigt Vogl, wie eben dadurch „Errungenschaften“ des autoritären Regimes für die Zeit der Demokratie gesichert wurden. Zentralbank und Finanzmärkte setzten einer anderen Wirtschaftspolitik, einer Umverteilung der Vermögen engste Grenzen.
  Wäre es deshalb vernünftiger, abhängige Zentralbanken zu schaffen, die wechselnden Mehrheiten, der Tyrannei der Majoritätsbeschlüsse unterworfen wären? Dieser Essay beunruhigt vor allem deswegen, weil er die Vorstellung verabschiedet, die exzeptionelle Macht der Finanzmärkte sei das Produkt einer Fehlentwicklung, die – politischen Willen und Vernunft vorausgesetzt – sich entschlossen korrigieren ließe. Die Entwicklung des Finanzregimes zur „parademokratischen Ausnahmemacht“ war nicht zwangsläufig, folgte aber doch einer eigenen Logik: „Souverän ist, wer eigenen Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.“
  In dieser Woche beginnt das Staatsanleihen-Kaufprogramm der EZB, unbesehen der Tatsache, dass die Folgen geldpolitischer Steuerungsversuche ungewiss sind, die ihnen zugrunde liegenden Annahmen unhaltbar. Wenn Vogls plausible Diagnose stimmt, erleben wir seit 2008 die riskante Restauration des Finanzregimes, das zur Krise geführt hat. Das geht mit einer Radikalisierung unseres Daseins als Schuldensubjekt einher. Ein heftiger Streit über diesen Essay wäre hoch willkommen, er wäre ein Streit über das Selbstbild des Westens, die Verstetigung von Ausnahmezuständen und die Möglichkeiten, mit fiskalischer Verzweiflung zu leben.
        
Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 320 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Systemwidrigkeit, Anomalie,
Ausnahmefall und Notsituationen:
Das ist alles Normalität
Souverän ist, wer eigene
Gefahren in Risiken für andere
zu verwandeln vermag
Wenn es stimmt, dass Krisen Gelegenheit zur Realisierung des politisch Unbequemen sind, wie Milton Friedman meinte, dann sind sie auch eine Zeit für unbequeme Erkenntnisse über Macht, Gewinne und Souveränitätseffekte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2015

Bleibt also nur noch die Revolte?
Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl sucht die Wurzeln neoliberalen Übels und vergisst dabei einige Kleinigkeiten

Wenn die Ergebnisse einer kleinen wissenschaftlichen Disziplin, in diesem Fall der Wirtschafts- und Finanzgeschichte, in einem anderen disziplinären Kontext großes Gewicht erlangen, ist das erfreulich. Und in der Tat, die Argumentation im soeben erschienenen Buch des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl ist weitgehend zumindest wirtschaftshistorisch inspiriert, auch wenn es nicht von wirtschafts- und finanzgeschichtlichen Fragen im eigentlichen Sinn handelt. Das Buch ist vielmehr zeitdiagnostisch angelegt. Vogl geht es um nicht weniger als die Aufdeckung der Ursachen der gegenwärtigen Finanzmalaise, die für ihn Ausdruck eines (neo-)liberalen Wahns ist, der mit der Konstitution der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung ursächlich verknüpft ist.

Diese bekannte Gedankenfigur geht nicht zu Unrecht davon aus, dass die Entstehung und Durchsetzung des Institutionensets der gegenwärtigen Wirtschaft in maßgeblicher Weise von der im achtzehnten Jahrhundert sich herausbildenden ökonomischen Semantik bestimmt wurde. Sie freilich ist für Vogl nicht ein unbestrittener Fortschritt ökonomischen Wissens, sondern letztlich Camouflage der realen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, die hinter den Erzählungen von der Trennung von Politik und Wirtschaft, der Souveränität des Staates und der Effizienz der Märkte bloß verborgen werden. Denn weder gebe es heute eine umfassende staatliche Souveränität noch eine klare Trennung von Politik und Wirtschaft, die im Gegenteil stets durch "seignioriale Akteure", vor allem Bank- und Finanzhäuser, miteinander verknüpft gewesen seien.

Diese Akteure, namentlich die seit dem späten sechzehnten Jahrhundert entstehenden Zentralbanken, nun bilden einen der wesentlichen Gegenstände von Vogls Argumentation. Sie hätten stets, als "Zwänge des Markts" verbrämt, die Logik partikularer Interessen vertreten, ja seien in ihrer teils staatlichen, teils privaten Struktur geradezu deren institutioneller Ausdruck. Die Bank von England und die Federal Reserve, die in der Tat eine eigentümliche Kombination von öffentlichem und privatem Eigentum bilden, stehen in Vogls Argumentation hierfür, vor allem dann aber die Bundesbank, die für ihn der geradezu kristalline Ausdruck der Logik des Marktes in Gestalt einer öffentlichen Institution war - und deren Erbschaft sich in der EZB finde.

Diese Akteure hätten einen wesentlichen Teil der Finanzierung des Staates nicht nur kontrolliert, sondern auf diese Weise den Staat in die Logik des Marktes hineingezogen, der gegenüber er gerade nicht souverän gewesen sei. Durch die Liberalisierung der Finanzmärkte seit den siebziger Jahren seien die "seignioralen Akteure" - zu ihnen rechnet Vogl etwa 150 Konzerne - schließlich jeder Kontrolle entglitten. Entstanden sei ein unkontrollierter und unkontrollierbarer "Finanzialisierungskomplex". Die Gegenwart lebe in einer Art "Gefängnis des Marktes", die Demokratie bilde nur noch den Rahmen des politischen Handelns, dessen Substanz sich unter dem Diktat der Finanzmärkte längst der öffentlichen Deliberation und der demokratischen Entscheidung entzogen habe. Die "Finanzialisierung" der Welt wird von Vogl als umfassender Vorgang beschrieben: Keine Region der Welt, kein Handlungsfeld sei ihr entzogen.

Auch wenn Vogls Darstellung in manchen Punkten nicht schlüssig (Bedeutung der Bundesbank für die Finanzierung der Bundesrepublik), sprunghaft (das achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert mit ihrer überaus interessanten Geschichte der öffentlichen Finanzen kommen faktisch nicht vor) und selektiv ist (so werden etwa bezüglich der lateinamerikanischen Schuldenkrise nur die ins Bild passenden Fälle besprochen): das zentrale Argument von der Abhängigkeit der Politik von der Funktion der Finanzmärkte und der damit gegebenen Unterminierung demokratischer Entscheidungsprozesse ist nicht von der Hand zu weisen.

Zahlreiche Autoren haben es in letzter Zeit verwendet, erinnert sei nur an Colin Crouch oder Wolfgang Streeck, die ähnlich wie Vogl eine Auslieferung der demokratischen Prozeduren an arkane Institutionen beklagen. Vogl argumentiert erstaunlich nüchtern. Er ist nicht an Empfehlungen interessiert. Die Lage sei vielmehr aussichtslos; politisch zu ändern, so zumindest der Eindruck nach der Lektüre, ist sie nicht. Insofern kann man Vogl auch nicht vorwerfen, das Buch zeige zu dem geschilderten Verhängnis keine Alternativen; im Grunde gibt es, folgt man der Argumentation bis zum Schluss, nur revolutionäre oder eskapistische Auswege.

Allerdings: Was ein Resultat der wirtschafts- und finanzhistorischen Entwicklung ist, nämlich die zumindest teilweise Abhängigkeit der öffentlichen Finanzen von den privaten Finanzakteuren, wird bei Vogl und anderen Autoren zur Ursache der Entwicklung gemacht. Das aber ist historisch falsch, und hier ist die nur punktuelle Heranziehung von Ergebnissen der wirtschaftshistorischen Forschung dann doch ein Problem. Es war eben nicht eine Art (neo-)liberale Verschwörung, die seit den siebziger Jahren - und bei Vogl im Grunde schon seit dem siebzehnten Jahrhundert - die Welt aus den Angeln gehoben hat. Die ältere Finanzgeschichte lässt sich im Gegenteil als ein Akt der Emanzipation von fürstlicher Willkür beschreiben.

Die neuen Zentralbanken waren nicht nur, ja nicht einmal vorrangig Agenten unterstellter Marktlogiken; sie waren vor allem wirksame Beschränkungen fürstlicher Misswirtschaft, deren Souveränität, sofern sie auf eine Ausplünderung des Landes hinauslief, von dessen Vertretern in den Parlamenten und ständischen Vertretungen gerade bestritten wurde. Die Durchsetzung der politischen Souveränität des Volkes oder zumindest von Teilen davon, im Zweifel im Bürgerkrieg, war ein Kampf gegen fürstliche Allmachtsphantasien, der vor allem ums Geld geschlagen wurde. Die moderne Finanzarchitektur mit geregelter Steuer- und Schuldenorganisation und kalkulierbarer Belastung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit war und ist damit gerade Ausdruck demokratischer Souveränität und - so hätte es ein keineswegs liberaler Autor des achtzehnten Jahrhunderts wie Adam Smith genannt - der Vernunft.

Historisch gesehen, stand die Unabhängigkeit mancher (keineswegs aller!) Zentralbanken nicht am Anfang von deren Geschichte, sondern entsprechende gesetzliche Regelungen dienten der Abwehr staatlicher Maßlosigkeit. Denn mit der Entstehung und Verbreitung des Papiergeldes konnte plötzlich die öffentliche Geldschöpfung über politisch abhängige Zentralbanken (die Geldpresse) hemmungslos genutzt werden - und sie wurde es auch mit zumeist verheerenden inflationären Folgen, an deren Ende die Enteignung der Bevölkerung stand.

Das gilt für Frankreich und Österreich in den Napoleonischen Kriegen; das gilt insbesondere für Deutschland nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Die Reichsbank war bis 1945 eben nicht unabhängig von politischen Weisungen. Adenauer, nebenher, hätte die neue Bundesbank auch gerne unter politische Kuratel gestellt, doch konnte er sich zum Glück nicht durchsetzen.

Wenn sich historisch etwas sicher sagen lässt, dann ist es die Neigung der jeweiligen Obrigkeiten oder Staaten, mehr Geld auszugeben, als sie haben. Es liegt deshalb im Interesse des Souveräns, des Volkes, diese Neigung zu beschneiden und auf ein vernünftiges Maß zu beschränken. Gerade weil die Architektur der Finanzmärkte die staatliche Finanzwirtschaft derart restringiert, ist es ja zur Schuldeneskalation und der Auslieferung von Teilen der staatlichen Handlungsfähigkeit an Finanzmarktakteure gekommen. Es war, nehmen wir nur den deutschen Fall, seit den späten sechziger Jahren eben sehr viel leichter, politische Projekte durch Schulden als durch Steuererhöhungen voranzutreiben, und zwar nicht allein wegen des zu erwartenden politischen Widerstands, sondern auch, weil man zu Recht in hohen Steuern ein ökonomisches Problem vermutete.

Seither lässt sich in Deutschland ein Prozess der Schuldenkumulation (jeweils aus durchaus nachvollziehbaren Gründen) beobachten, der das Land schließlich von der Finanzierungsbereitschaft der in der Tat global gewordenen Finanzmärkte abhängig macht. Und was für Deutschland gilt, gilt für andere Länder noch sehr viel mehr. Letztlich war es die Politik, die sich den Finanzmärkten so ausgeliefert hat, dass ihr nach 2008 scheinbar gar nichts anderes übrigblieb, als diese um jeden Preis zu stabilisieren.

Nicht irgendeine (neo-)liberale Verschwörung war es mithin, welche die Finanzmärkte entfesselt hat, sondern eine Politik, die sich ihnen auslieferte. Gerade das macht es ja auch so schwer, nun zu einer Änderung zu gelangen, da es eben nicht genügt, Finanzmarktakteure zu kontrollieren, von deren unkontrollierter Leistungsfähigkeit die Politik ihrerseits abhängt. Was heute die Lage bestimmt, ist kein "regulatorischer Kapitalismus", sondern im Gegenteil die zumindest punktuelle Suspendierung der kapitalistischen Logik der Selbstkontrolle auf den Finanzmärkten durch das ominöse "too big to fail".

Vogl beklagt eine außer Kontrolle geratene (neo-)liberale Konstellation. Aber es ist gerade das konkrete staatliche Handeln gewesen, das sich hinter Argumentationen wie der von Joseph Vogl sogar noch verstecken kann und das auch tut. Denn gerade aus dieser Ecke werden die Forderungen nach einem Ende der vermeintlichen Austeritätspolitik immer lauter, also nach einem Weiterdrehen an der Schuldenschraube, das ja erst die Lage geschaffen hat, in der sich die Weltwirtschaft derzeit befindet. Vogls Buch, so treffend es viele Momente der Gegenwart beschreibt, zäumt daher letztlich das Pferd von hinten auf. Die Lage ist keineswegs ausweglos, und Europa befindet sich nicht am Vorabend eines großen Krieges. Es kommt vielmehr darauf an, politischer Vernunft das Wort zu reden.

WERNER PLUMPE

Joseph Vogl: "Der Souveränitätseffekt". Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 320 S., geb., 24,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Alexander Cammann findet Joseph Vogls neuestes Buch nicht nur einseitig, sondern in letzter Konsequenz sogar gefährlich. Vogl beschreibt in "Der Souveränitätseffekt" die Verbrüderung von Staat und Wirtschaft im siebzehnten Jahrhundert, deren innige Beziehung, die seither in und außerhalb der sich wandelnden Institutionen fortbestanden habe und die nur scheinbare Ohnmacht einer Politik, die sich im Geheimen die Steuerung längst mit der Wirtschaft teile, während sie in der Öffentlichkeit ein Drama zwischen Abhängigkeit und Opposition aufführe, fasst der Rezensent zusammen. Letzten Endes führe das nicht nur zu einer "Delegitimierung der Neuzeit" im Ganzen, warnt Cammann, es ignoriere auch die ausdifferenzierten Machtverhältnisse zugunsten der Dichotomie von Herrschern und Beherrschten, kritisiert der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Wer ist der Souverän im modernen Staat? Indem er detektivisch den historischen Voraussetzungen der aktuellen Finanz- und Haushaltskrisen und dem Zusammenspiel von Finanzmärkten und Regierungshandeln nachspürt, gibt Joseph Vogl eine politisch brisante Antwort.« Jury »Preis der Leipziger Buchmesse«