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Über siebzig Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung erscheint das Buch "The Dear Monster" des deutschen Emigranten René Halkett (1900 - 1983) auch auf Deutsch. Darin berichtet der aus sächsisch-thüringischem Adel stammende Verfasser von seinem bewegten Leben und zeichnet ein packendes historisches Panorama von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus. Halkett war Kadett und Soldat im Ersten Weltkrieg, unsteter Wandervogel und Student in Gießen, Heidelberg und Frankfurt/Main, Freikorpskämpfer und KPD-Sympathisant, Mitglied der Bühnenwerkstatt am Bauhaus in Weimar und Mitarbeiter der…mehr

Produktbeschreibung
Über siebzig Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung erscheint das Buch "The Dear Monster" des deutschen Emigranten René Halkett (1900 - 1983) auch auf Deutsch. Darin berichtet der aus sächsisch-thüringischem Adel stammende Verfasser von seinem bewegten Leben und zeichnet ein packendes historisches Panorama von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus. Halkett war Kadett und Soldat im Ersten Weltkrieg, unsteter Wandervogel und Student in Gießen, Heidelberg und Frankfurt/Main, Freikorpskämpfer und KPD-Sympathisant, Mitglied der Bühnenwerkstatt am Bauhaus in Weimar und Mitarbeiter der "Roten Bühne" in Berlin, Segelflugpionier im ostpreußischen Rossitten und Adept der "Loheland"-Schule, Maler in der Rhön und Journalist für die "Frankfurter Zeitung" und die "Vossische Zeitung". Die verschiedensten, oft konträren politischen und kulturellen Milieus zogen ihn an, und er hatte Kontakt zu vielen bekannten Zeitgenossen, wie z.B. Lyonel Feininger, Erich Maria Remarque oder Rabindranath Tagore.
Nach gescheiterten Exil-Versuchen auf Ibiza emigrierte Halkett im Sommer 1936 endgültig nach London. Dort erschien 1939 sein Buch "The Dear Monster". Autobiographisch grundiert, spannt es den Bogen von den frühen Reformbewegungen der Gründerzeit bis zu den repressiven Strukturen des Dritten Reichs. Halkett beschreibt eindringlich die Entstehung der intellektuellen und künstlerischen Bohème in der Weimarer Republik, veranschaulicht die Wecheselwirkungen zwischen individueller Emanzipation und gesellschaftspolitischer Orientierung und gibt mit Blick auf die britische Leserschaft Erklärungsversuche für das Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland und den drohenden Kriegsausbruch.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2012

Hansdampf auf allen Lebensbühnen

René Halkett hat das Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre so illusionslos und lebendig beschrieben wie kaum ein anderer. Nun ist seine Autobiographie in deutscher Sprache erschienen.

Wer dieses zwischen 1937 und 1939 im englischen Exil von René Halkett geschriebene Buch gelesen hat, begreift, warum bei seinem Erscheinen ein anderer deutscher Emigrant, Sebastian Haffner, die Arbeit an seinen eigenen Lebenserinnerungen abbrach. Beide kannten sich von gemeinsamer journalistischer Tätigkeit bei der Berliner "Vossischen Zeitung". Aber Halketts Biographie war von ganz anderer Faszination des Abenteuerlichen. 1900 in Weimar als Albrecht Georg Friedrich Freiherr von Fritsch geboren (den Künstlernamen René Halkett wählte er erst 1929), schien der Sohn vom Adjutanten des Erbgroßherzogs als Zögling der Königlich-Preußischen Kadettenanstalt zunächst ganz von der aristokratisch-militärischen Tradition gestanzt zu werden.

Aber spätestens in dem Moment, da im Ersten Weltkrieg die Waffen schwiegen, zersprengte angesammelter Zündstoff das Gerüst der Überlieferung. Der kein Monarchist mehr sein will, gerät in den Bann revolutionärer Ideen, ohne zunächst klare Vorstellungen vom Sozialismus zu haben. Die Nachricht vom Mord an baltischen Baronen treibt ihn zum Freikorps. Dann entdeckt er seine alte Liebe zum "Wandervogel" wieder. Aber bald finden wir ihn als Mitarbeiter einer Buchhandlung der Linken, der Unterricht in der Arbeiterhochschule erteilt. "Es gab nichts Unverrückbares, Sicheres oder Selbstverständliches in meiner Welt." Er macht sich kundig in der Kunst des modernen Tanzes wie des "Bauhauses", malt selbst Bilder. Zwischendurch versucht er sich mit einem unternehmungslosen Architekten als Glücksspieldirektor. Er ist im Jahrzehnt der "Roaring Twenties" wirklich einer der Wilden, inszeniert sogar auf der Berliner "Roten Bühne" ein Propagandastück für die Wahlen zum Reichspräsidenten.

Gewiss, er ist ein Hansdampf auf allen Lebensbühnen. Aber kein "Gesinnungsloser". Jeden Sinnes- und Berufswandel reflektiert er auf beeindruckendem Niveau. Er ist eine Inkarnation der Neugier, erobert sich die Welt durch unmittelbare Anschauung. Von einer Schwester eingeladen, reist er über Holland und Port Said nach Java. Und mit dem kosmopolitischen Schriftsteller Georg Dibbern beginnt er von Kiel aus eine Weltumsegelung, die allerdings in England endet, weil ihn ein Angebot auf einen Korrespondentenposten in Paris lockt (für das er allerdings zu spät kommt). Und da es ihm offenbar nicht genügt, die Welt von der Bodenperspektive aus zu sehen, erlernt er in Rossitten auf der Kurischen Nehrung den Segelflug.

Er ist ein illusionsloser Beobachter jener politischen Entwicklung, die seinen Entschluss, ins Exil zu gehen, unausweichlich macht. Aber halten wir uns, da man über diese Entwicklung durch die Historiker gut informiert ist, an einige seiner besonderen Wahrnehmungsfelder und Themen. So drängt sich zunächst der Blick auf das Weimar seiner Jugend auf. Und da befinden wir uns in einem Weimar, in dem die Zeit stillsteht. Das Hoftheater, dessen Intendant für ein Vierteljahrhundert Goethe war, hat noch seinen eigenen Charme und "zurückhaltenden Pomp" bewahrt. Aber es ist zum Sinnbild einer Stadt geworden, die nur die Kulisse für eine Bühne bildet, auf der das Stück mit dem Titel "Leben in der Residenz" aufgeführt wird.

Die Gesellschaftskonvention verlangt noch Repräsentation in Festen, die eigentlich zu teuer geworden sind. Und ans Licht der Lächerlichkeit kommt das verkrustete landesherrliche Privileg, eine Mätresse auszuhalten, als irrtümlich für diese Rolle der Karoline Jagemann (im alten Weimar) nun die Schauspielerin Thea von Harbou engagiert worden ist, die später als die Frau Fritz Langs die Drehbücher seiner berühmten Stummfilme schrieb. Nach den lüsternen Gerüchten soll sie den Großherzog durch ihre Standhaftigkeit zur Raserei gebracht haben. Es gibt neben diesem Gesellschaftsporträt keine andere ähnlich lebendige und sanft ironische Darstellung des Lebens im Vorkriegsweimar.

Zu einem Leitmotiv des Buches wird die "Jugendbewegung", also jene neuromantische Bewegung, die feste Organisationsformen mied, von Volksliedern fasziniert war und ihre Anfänge im "Wandervogel" hatte. Auf eine Wandervogel-Gruppe stößt schon der Junge bei einem nächtlichen Spaziergang auf dem Landgut; er ist, trotz aller Disziplinierungsversuche des Vaters, gebannt von dieser Lebensform, einer Gemeinschaft ohne das Korsett der gesellschaftlichen Regeln. An dieser Freideutschen Jugend, für deren romantischen Idealismus der Opfertod der Freiwilligenregimenter in der Schlacht von Langemarck im Oktober 1914 zum Zeichen wurde, enthüllt der bilanzierende Emigrant ihre höchst problematische Seite.

Er schildert ein Streitgespräch am Lagerfeuer um die Frage, ob ein Jude die Idee der Jugendbewegung zu würdigen wisse. Und dann fällt das fatale Wort vom Juden, der nicht vom gleichen Blut sei. "Das Blut ist der Geist." Hinter diesem "mystischen Schild" habe sich später auch der Nationalsozialismus verschanzen können. So wird das Buch Halketts zur Analyse seines eigenen (frühen) Tributs an eine Bewegung, die sich einer verhängnisvollen Mythologie vom "deutschen Wesen" öffnete. Von hier aus lässt sich wohl auch der englische Titel der Erinnerungen, "The Dear Monster", verstehen. Er bezieht sich auf ein Märchen, das Halkett in seiner Kindheit gehört haben will: Das Ungeheuer hat zwar seine liebenswerten Seiten, aber es frisst kleine Kinder und verwüstet Länder. Halketts erster Versuch der Emigration endete auf fast blamable Weise. Nach dem Reichstagsbrand und Hitlers Durchsetzung des Ermächtigungsgesetzes wurde ihm in Deutschland der Boden zu heiß. Er floh nach Ibiza, musste aber, nachdem Geldanweisungen aus Deutschland unmöglich geworden waren und er weder auf Mallorca noch in Barcelona Arbeit fand, nach Deutschland zurückkehren. Im "Deutschen Luftsportverband" machte er sich unauffällig. Als sich aber Hitler nach dem Tod Hindenburgs 1934 zum Alleinherrscher aufschwang, konnte den geborenen Freiherrn, der auf schottische Vorfahren verweisen konnte, nichts mehr aufhalten, ins englische Exil zu gehen.

Die Autobiographie eines Adligen von wachem Geist, der auf kurvenreichem Weg in der republikanischen Gesellschaft Fuß fasste, führt durch den Dschungel von Revolutionen und Gegenrevolutionen und über Lichtungen einer innovativen Kunst in die absolute Barbarei. Was diese Erinnerungen so lebendig und spannend macht, ist die Verknüpfung von individueller Erfahrung und allgemeiner Reflexion und Analyse. Von früh an schon verfolge ich die unermüdlichen Bemühungen Thomas B. Schumanns, mit seiner "Edition Memoria" Dokumente der Exilliteratur zu sichern. Ein Fund wie dieser wird so leicht nicht zu übertreffen sein.

WALTER HINCK.

René Halkett: "Der liebe Unhold". Autobiographisches Zeitporträt von 1900 bis 1939.

Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen von Ursula C. Klimmer. Edition Memoria, Hürth bei Köln 2011. 488 S., br., 36,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.01.2012

Der Weltwandervogel
Wie René Halkett, ein Freiherr aus Weimar, 1939 den Engländern Hitlerdeutschland erklärte
Der Kölner „Kleinverleger“ Thomas B. Schumann, einer von denen, die das Lesen am Leben erhalten, hat ein großes Buch entdeckt, das 1939 in England erschien und dort Furore machte, „The Dear Monster“. Er hat für eine vorzügliche Übertragung und einen den Zeithorizont erhellenden Kommentar gesorgt, indem er Ursula C. Klimmer engagierte. Das Werk, das in England kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erschien, hatte dort ein solches Echo, dass Sebastian Haffner, der den ihm in London begegnenden René Halkett schon aus Berlin als Albrecht von Fritsch gekannt hatte, seine eigene Arbeit an der postum zum Bestseller gewordenen „Geschichte eines Deutschen“ vorerst abbrach.
„The Dear Monster“ hat jetzt in der deutschen Ausgabe leider einen irreführenden Titel. „Der liebe Unhold. Ein autobiographisches Zeitportrait von 1900 bis 1939“ legt nahe, der Autor meine sich selbst. Halkett meint aber Hitlerdeutschland. Er erklärt im Schlusskapitel, er habe als Kind ein Märchen von einem „Lieben Unhold“ gehört, der nacheinander Ländereien verwüste und kleine Kinder fresse. Dem Ritter, der ihm entgegenzieht, erklärt der Riese, immer wieder überzeugend, dass seine Expansion als herzensgute Wohltat zu verstehen sei. Größe verlangt Opfer.
Halketts „The Dear Monster“ will im Sommer 1939 den Engländern, vielleicht auch sich selbst, das Gewehr bei Fuß stehende Hitlerdeutschland erklären. Seine Lebensgeschichte und persönlichen Anlagen sind dafür hervorragend geeignet.
Albrecht Georg Friedrich Freiherr von Fritsch, 1900 in Weimar geboren, wächst in standesgemäßer konservativer Umgebung auf. Aber dann stößt er, erstmals mit zehn Jahren, zu den „Wandervögeln“ der Jugendbewegung, wird von den beunruhigten Eltern nach Borkum ins Internat verpflanzt, darauf in eine Kadettenanstalt gesteckt, nimmt siebzehnjährig während des letzten Jahrs am Weltkrieg teil, und beginnt dann, nach einer kurzen, unstandesgemäßen Wandervogelhochzeit und der Verstoßung aus dem Elternhaus, eine Kette von Stationen, die sich ihm anbieten oder die er aufsucht. Es ist ein Fächer, ein Panorama der verschiedensten Lebensbereiche, in die er eintritt und die er wieder verlässt.
Er ist Verlader am Frankfurter Hafen, Arbeiter unter Arbeitern, Redakteur ihres sozialistischen Organs, schließt sich einem gesetzlosen Freikorps zur Rettung Baltischer Barone an, ist, bald gründlich enttäuscht, Student in Gießen und Heidelberg, wird für einige Zeit Schüler des Bauhauses in Weimar und führt Regie auf der Roten Bühne in Berlin, als sei er Piscator.
Was ihn zum exzeptionellen Zeitzeugen macht, ist seine enorm bewegliche Begabung, die Fähigkeit, in immer neue Bezirke osmotisch einzutauchen und auf Zeit Herr der Situation zu sein: ein Weltwandervogel. Er wird ein Segelflugpionier in Ostpreußen, lernt das große Thema der Zeit, den Tanz, als Adept der Lohelandschule kennen, lebt zurückgezogen als bestaunter Wunderarzt und Maler in der Rhön, schreibt für die Frankfurter Zeitung und die berühmte Vossische , kennt Tagore und Remarque.
Man fragt sich abwechselnd, ist er, frei nach Eichendorff, ein romantischer Taugenichts, dem von Zeit zu Zeit das Glück lacht, oder ein Felix Krull – wohin er kommt, ein Mann von Profession, „vom Fach im allgemeinen, dem Fach der Darstellung nämlich“, um Thomas Mann zu zitieren? Dem achtzehnjährigen Albrecht von Fritsch gelingt es, als schneidiger Fahnenjunker seinen 1918 in Ostpreußen gefallenen Vater in einem Sonderwaggon der Reichsbahn durch das sich auflösende Kaiserreich zur Familiengrabstätte in Weimar zu dirigieren.
Aber er ist kein Hochstapler, sondern ein suchend hierhin und dorthin Verschlagener, dem es nicht gelingt, sich einzuwurzeln, den es nirgends hält, weil nicht haltbar scheint, was sich ihm anbietet. Aus der Zeit gefallen, aus allen Zusammenhängen, ist er eher ein Ahasver, der seine Straße zieht und dabei eine ins Elend taumelnde Epoche und ihre Verrücktheiten spiegelt.
Dreimal kurz verheiratet, findet er 1932 Hildegard Geißler, die seine Lebensgefährtin wird und mit der er nach letzten Versuchen, doch noch im NS-Deutschland Fuß zu fassen, nach England auswandert, wo er den Namen des schottischen Zweigs seiner Familie annimmt: Halkett.
„The Dear Monster“ ist ein verzweifeltes Buch, keineswegs düster, sondern hell. Die Fähigkeit, in die unterschiedlichsten Welten einzutauchen, verbindet sich mit einer schritthaltenden, teils begeisterungsfähigen, teils ironischen Wahrnehmungsbereitschaft, einem Sinn für die humoristische Groteske und das Absurde eines erstarrten oder aus den Fugen geratenen Alltags. Halkett erzählt das Abenteuer seines Lebens in farbigen Szenen und konkreter, genauer Sprache. England hat abgefärbt. Distanziert vermitteln Geschichten Geschichte.
Sie beginnt als Unwirklichkeit. Weimars Adelswelt, deren Häuser zu absurd konkurrierenden Festlichkeiten einladen und sich erregen, als Isidora Duncan auf Goethes Theaterbrettern barfuß (barfuß, ich bitte Sie!) tanzt, erscheint ihm als geschichtlicher Stillstand. Die Auslagerung nach Borkum macht den Jungen mit Saufgelagen, Homosexualität und grober Judenverachtung bekannt. In seinen drei Jahren Kadettenanstalt kommt der Drill hinzu. Als er sich 1917 freiwillig zum Krieg meldet, um dem sinnlosen Spiel zu entkommen, erfährt er ihn als blutige Unwirklichkeit, die einer überholten Mechanik folgt, und beginnt in dem folgenden Macht- und Ordnungsvakuum zunächst zu taumeln.
Der entscheidende Erfahrungsraum bleibt der „Wandervogel“, die vielgestaltige Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und – in nicht allzu großer Entfernung – die unüberschaubare Reformbewegung vor und nach dem Weltkrieg. Es ist eine Aufbruchslandschaft, sie wird ihm zum Schlüssel.
Dabei erscheint dem Wahlengländer die Neigung, selbst noch den Nudismus, die Nacktkultur religiös zu überhöhen und in Fanatismus umschlagen zu lassen, als deutsche Spezialität. Er bemerkt das Überangestrengte in den „Nestern“, „Siedlungen“ oder „Tanzschulen“ und klösterlichen Rückzugsorten. Dieser Zug scheint auch dem Bauhaus nicht fremd zu sein, weder seiner das Handwerk anbetenden Seite noch seinem rationalen, der Funktionalität verpflichteten Zukunftstraum. Dass aber die fortwährend tanzende Bauhausgesellschaft vom Weimarer Bürgertum mit Erbitterung angefeindet wird, ihr der Vorwurf des „Kulturbolschewismus“ gemacht wird und die Württembergische Reichswehr gegen die „Roten“ anrückt, um Ordnung wiederherzustellen, ist eine Erfahrung, die dem vorübergehenden Bauhäusler bewusst macht, in welchem Grad die Anfälligkeit für irreale Feindbilder an Macht gewonnen hat. Er spricht davon mit größter Beunruhigung, der Antisemitismus ist ein fortwährendes Motiv seiner Lebensgeschichte, er ahnt das Schlimmste, auch was das „lebensunwerte Leben“ betrifft.
Zeit der Retter – „Muck Lamberty“, ein einstiger Drechsler und dann sich als säkularer Erlöser empfindender Wanderprediger, dem es gelingt, auf den Marktplätzen Thüringens die Einwohner, Polizisten und Beamte eingeschlossen, zum Tanzen zu verführen und von Thüringens Regierung eine Zeitlang unterstützt zu werden, dieser Lamberty wird in dem Buch zu einer Vorahnung des erfolgreichen Rattenfängers.
René Halketts Blickwinkel lässt erkennen, wie eine idealistische Jugendbewegung und Aufbruchslandschaft umgebogen wird in eine uniforme, bösartige, starre Monokultur: „Wir werden weitermarschieren / Wenn alles in Scherben fällt . . . “ Das ausdrückliche Ziel Halketts ist es, England darüber aufzuklären, dass das gegenwärtige Deutschland eine Gefahr für den Rest der Welt darstelle.
Man wird nicht leicht ein Beispiel finden, das auf vergleichbar breiter konkreter Erfahrung die Deformation der idealistischen, sogenannten Deutschen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts nachzeichnet. Biographische Darstellung hat ihre Grenzen, aber den Vorzug, dass sie die Leser in die Erlebnisseite der Geschichte hineinzieht und dabei zugleich die subjektive Perspektive einräumt. Sie lässt dadurch anderen Perspektiven Raum, eröffnet sie vielleicht sogar, und verhindert den Eindruck der Objektivität und Zwanghaftigkeit des Geschehens, zu der die Historiographie neigt.
UWE PÖRKSEN
RENÉ HALKETT: Der liebe Unhold. Autobiographisches Zeitportrait von 1900 bis 1939. Übersetzung aus dem Englischen von Ursula C. Klimmer. Vorwort von Diethart Kerbs. EditionMemoria, Köln 2011. 488 Seiten, 36 Euro.
Selbst die Nacktkultur wird
religiös überhöht, Nudismus
schlägt in Fanatismus um.
War dieser Freiherr von Fritsch
ein romantischer Taugenichts
oder ein Bruder des Felix Krull?
So mit Erfahrung gesättigt wurde
die idealistische Deformation
noch nie nachgezeichnet
Ein Suchender war Halkett, nirgendwo verwurzelt, weil ihm nicht haltbar schien, was sich ihm bot. Unser Bild zeigt eine Collage des Bauhaus-Schülers mit dem Titel „ Hitherto untapped“. Foto: Galerie Inge Baecker, Bad Münstereifel oh
Als Albrecht Georg Friedrich Freiherr von Fritsch in Weimar geboren, wanderte er nach England aus und nahm den Namen des schottischen Zweiges seiner Familie an: René Halkett 1931 auf Ibiza. Foto: Nachlass
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Diesen subjektiven, ganz und gar unhistoriografischen Blick auf die gesellschaftlichen Deformationen in Deutschland um 1939, die in die Katastrophe führten, hält Rezensent Uwe Pörksen für ausgesprochen originell. Zwar weiß er nicht zu entscheiden, ob dieser Weltwandervogel Rene Halkett alias Albrecht von Fritsch nun ein romantischer Taugenichts oder ein Felix Krull mit enormen Verwandlungsfähigkeiten und unbändiger Neugier ist, an der Hellsichtigkeit Halketts in Bezug auf die deutsche Anfälligkeit für irreale Feindbilder, die der Autor übrigens in den Dienst seiner Wahlheimat England stellte, zweifelt Pörksen jedoch keine Sekunde. Ein großes Buch, meint der Rezensent, eine Entdeckung, für die dem Verleger und seiner Übersetzerin, die Pörksen mit ihrem Kommentar auch den Zeithorizont eröffnet, ebenso großer Dank gebührt.

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