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Mit unerhörter Intensität und getränkt von Mythen, Märchen und Legenden beschreibt der Journalist und Schriftsteller Wassili Golowanow seine Reisen auf die Insel Kolgujew, in der östlichen Barentssee. Er entwirft eine Sinfonie der Region, die sich aus geologischen, mythischen und historischen Elementen zusammensetzt. Seine Reisen führen ihn nicht nur auf eine karge Insel, deren Bewohner von Rentierzucht leben und auf der Erdöl gefördert wird, sondern auch in eine archaische Welt, in der er nach erschütternden Lebenskrisen zu sich selbst kommt. Bis hinein in die Beschreibungen der tief…mehr

Produktbeschreibung
Mit unerhörter Intensität und getränkt von Mythen, Märchen und Legenden beschreibt der Journalist und Schriftsteller Wassili Golowanow seine Reisen auf die Insel Kolgujew, in der östlichen Barentssee. Er entwirft eine Sinfonie der Region, die sich aus geologischen, mythischen und historischen Elementen zusammensetzt.
Seine Reisen führen ihn nicht nur auf eine karge Insel, deren Bewohner von Rentierzucht leben und auf der Erdöl gefördert wird, sondern auch in eine archaische Welt, in der er nach erschütternden Lebenskrisen zu sich selbst kommt. Bis hinein in die Beschreibungen der tief berührenden und die Menschenangelegenheiten in ihrer Schönheit übersteigenden Natur großartig übersetzt, entfaltet sich diese moderne Sage ?- die wie nebenbei auch ein Lob auf die Freundschaft ist - wie ein reicher tiefer Fluss, auf dem der Leser in die unerhörten Dimensionen Russlands und der Seele vordringt.
Autorenporträt
Golowanow, Wassili
Wassili Golowanow, geboren 1960 in Moskau, ist Journalist, Schriftsteller und Fotograf. Er arbeitet für verschiedene Literaturzeitschriften und veröffentlichte zahlreiche Bände mit preisgekrönten geopoetischen Essays und Reportagen.

Passet, Eveline
Eveline Passet, geboren 1958, arbeitet als Übersetzerin aus dem Russischen und Französischen sowie als Rundfunkautorin in Berlin. Sie übersetzte u.a. Pennac, Constant, de Musset, Kuprin, Rosanow und Prischwin. 2014 erhielt sie den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und 2017 den Literaturpreis »Zuger Übersetzer-Stipendium«.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wassili Golowanows Inselodyssee liest Rezensent Hansjörg Graf als Enzyklopädie einer Insel. Indem sich der Autor, Journalist und Fotograf Golowanow bis an die Schmerzgrenze einem ungemütlichen Eiland in der Barentssee aussetzt und seine "Flucht" dorthin möglichst unprätentiös, wie Graf erklärt, dokumentiert, entsteht ein vielgestaltiges Bild der Insel und ihrer Bewohner im globalen Wandel zwischen Rentierzucht und Erdölindustrie, das Graf beeindruckt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2013

Die Tundra, der Müll und das Meer
Der russische Autor Wassili Golowanow erkundet den Verfall der Zivilisation auf der Insel Kolgujew
Die Insel Kolgujew liegt rund siebzig Kilometer vom Festland der nordrussischen Tiefebene entfernt in der Barentssee, einem Randmeer des Arktischen Ozeans. Sie hat eine fast runde Form, ihr Durchmesser von der einen zur anderen Küste beträgt achtzig Kilometer, und bewohnt wird sie von nicht einmal 500 Menschen. Fast alle von ihnen sind Nenzen, Angehörige eines indigenen Volkes im Osten des europäischen Russland und im Norden Sibiriens, der durch administrative Zwangsmaßnahmen seiner nomadischen Lebensweise entfremdet und zur Sesshaftigkeit genötigt wurde. Außer Nenzen, die sich von der traditionellen Rentierzucht und der Herstellung von Pelzen kaum mehr ernähren können, leben nur ein paar Russen auf Kolgujew, die im Auftrag staatlicher Konzerne erforschen, ob sich tief unter dem kargen Boden der Tundra Öl verbirgt.
  Der russische Journalist, Schriftsteller und Fotograf Wassili Golowanow hat ein monumentales Buch über diese nahezu vergessene Insel und ihre in Suff und Müll versinkenden Bewohner geschrieben. Er erprobt darin verschiedene Genres wie den landeskundlichen Essay, die soziale Reportage, den wissenschaftlichen Bericht und vereint sie auf romanhafte Weise mit Passagen, in denen er seiner eigenen Leidenschaft auf den Grund zu gehen versucht. Denn vor dem Buch – das ein Lebensprojekt des 1960 geborenen Autors wurde, dem er zwei Jahrzehnte widmete – steht die rätselhafte Obsession, von der Golowanow selbst nicht recht weiß, wie und wann er sie sich zugezogen hat. Sie war einfach immer schon da, diese Sehnsucht nach der Insel, die noch gar keinen Namen hat, der Traum von einem Eiland am Ende der Welt: „Sie tritt aus Nebel hervor, den die Stimmen aufgeschreckter Möwen durchschrillen; ein niedriges, braunes, sich in feierlicher Hoffnungs- und Hortlosigkeit nach allen Seiten hin ausdehnendes Land. Glaubst Du, dass das ein und dieselbe Insel ist, die Insel meines Traumes?“
  Schon der Jugendliche ist von der „Insel als Idee“ besessen, und was er liest, hat immer mit dem Reisen zu Schiff, dem unendlichen Meer zu tun, gleich ob es sich um
Homer, Vergil oder Melville handelt. „Nach allen Büchern, die ich verschlungen hatte, träumte ich davon, ans Ende der Welt aufzubrechen, wusste aber nicht, wohin.“ Dieser Satz mutet selbstironisch an – da will sich einer auf romantische Fahrt begeben, hat aber keine Ahnung, wohin er sich zu diesem Behufe wenden könnte; doch pflegt Golowanow pathetisch zu erzählen, penibel zu beschreiben, die Dinge enzyklopädisch aufzulisten – ironisch wird er nur höchst selten. Er will sein Tun nicht ironisch infrage stellen, sondern rechtfertigen, das Selbstbildnis eines Besessenen geben, der einem Ziele nachjagt, dessen Sinn den anderen keineswegs einleuchtet.
  Warum ist er so versessen darauf, diese wenig einnehmende Insel, auf der er feindselig empfangen wird, zu der Seinen zu machen? Er weiß es nicht, darum beschäftigt er sich monomanisch mit ihr, als könnte sie ihm nicht nur ihr, sondern auch sein Geheimnis enthüllen. Zunächst liest er alle Bücher, in denen die lange Zeit unbewohnte Insel erwähnt wird. Im 19. Jahrhundert zogen russische Biologen nach Kolgujew, die vom Reichtum der Vogelwelt fasziniert waren, nach ihnen schaute der englische Seefahrer und Geograf Trevor-Battye vorbei, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts erkundete ein Künstlerpaar aus Moskau, Ada Rybacuk und Vladimir Melnicenko, Natur und Gesellschaft der Insel.
  Damals hatte die Modernisierung der Sowjetunion unter Chruschtschow auch die entlegenen Regionen erreicht, in Kolgujew wurde eine Hebammenstation eingerichtet, ein Maschinenpark angeliefert, die Dorfstraße asphaltiert. Die einzige Ansiedelung auf der Insel, Bugrino, in den stalinistischen Dreißigerjahren aus dem Boden gestampft, wird zum ansehnlichen Dorf ausgebaut; und die Nenzen, die durch die „Tundra, das offene Universum, die Milchstraße der nomadischen Existenz zogen“, werden Staatsangestellte und erhalten ein „festes, vom Arbeitsertrag unabhängiges Einkommen“.
  Dreißig Jahre später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, kommt Wassili Golowanow endlich selbst auf die Insel. Beim ersten Mal, 1992, sind die Verhältnisse noch ungeklärt; während ein Teil der alten Nomenklatura sich die Pfründe der Privatisierung unter den Nagel reißt, versucht ein anderer mit einem Putsch in Moskau das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Auch in Kolgujew scheinen sich die Dinge krisenhaft zu verschärfen, wobei noch nicht ausgemacht ist, ob es aufwärts oder hinunter gehen wird.
  1994, als Golowanow zum zweiten Mal auf die Insel kommt, ist die Sache entschieden. Nun ist Bugrino einer der traurigsten Orte der Welt. Die Häuser stehen noch in den drei Reihen, die auf dem Reißbrett für sie konzipiert wurden, aber sie verfallen, von den Traktoren funktioniert keiner mehr, die Wracks rosten im Gelände vor sich hin, der Müll wird von den Bewohnern nicht einmal mehr in der Schlucht hinter dem nächsten Hügel entsorgt, sondern im Gemeindegebiet selbst auf die Straße, in den Graben geworfen.
  Golowanow beschreibt einen zivilisatorischen Verfall, der wohl nicht mehr aufgehalten, rückgängig gemacht werden kann. Selbst die Schiffsverbindung von Archangelsk ist eingestellt. Die einzige Möglichkeit, aufs Festland zu gelangen oder vom Festland mit Lebensmitteln versorgt zu werden, ist der Hubschrauber. Er fliegt Kolgujew von Narjan-Mar an, der Hauptstadt des Autonomen Kreises der Nenzen, wo circa 20 000 Angehörige dieser sterbenden indigenen Minderheit unter schwierigen Verhältnissen leben.
  Im Schlusskapitel, das interessantes statistisches Material enthält, berichtet Golowanow, dass zwei Institutionen , die das Leben der Nenzen in den bisherigen Generationen bestimmten, ihre Bedeutung eingebüßt haben: zum einen der Dorfsowjet, die kommunistische Verwaltung, die den Nenzen zwar aufgezwungen worden war, aber doch die Grundversorgung der Gemeinschaft, den Erhalt kommunaler Strukturen garantierte. Und zum anderen die Ältestenversammlung, die traditionelle Selbstorganisation des Stammes, die das alltägliche Leben der Nenzen regelte. Wenn es die Ältestenversammlung nicht mehr gibt, ist es um ihre Kultur geschehen.
  Und tatsächlich, keine zehn Nenzen kennen auf Kolgujew noch die alten Pfade, die sie zu den Herden der Rentiere brachten, die anderen stehen tagsüber vor ihren baufälligen Häusern herum, trinken Schnaps und schlagen sich abends gegenseitig die Köpfe blutig. Der Lagerist, bei dem sich die Leute früher Ersatzteile für die kaputten technischen Geräte holen konnten, hat sich aufgeknüpft, der Bäcker und der Friseur haben das Weite gesucht. Wer immer kann, verlässt Bugrino, die Familie, die Gemeinschaft, die Insel, um sich irgendwo in den Weiten Russlands als Arbeiter zu verdingen; die meisten der Flüchtenden aber gehen schon in den nächstgelegenen Städten des Festlands im Subproletariat unter.
  Golowanow hält diesen historischen Moment fest, in dem eine kleine nationale Gruppe ihr Gedächtnis verliert, ihre Traditionen vergisst. Deswegen lässt er einige alte Nenzen so herzergreifend traurige Geschichten vom Leben in der Tundra erzählen. Was aber hat ihn selbst in diese unwirtliche, unfreundliche Welt geführt? Es war jedenfalls nicht die „Romantik des Nordens“, eher ist es ihm um Selbstbefreiung gegangen. Stets hat er darauf vertraut, das wahre Ziel seiner Expedition werde ihm erst auf dieser selbst aufgehen: „Es wird auftauchen, wenn alles, was uns widerfährt, alles, was zu erleben uns bevorsteht, unsere Gefühle bis zu spiegelnder Klarheit poliert haben wird. Und dann werden wir sehen, was das Ziel war: Spiegelung.“
  Das ist zwar schön, aber nicht wirklich klar gesagt. Immerhin über eines hat Golowanow jedoch Klarheit erlangt: „Der Schriftstellerwahn, die Ruhmsucht, all das fiel auf einen Schlag in dem Moment von mir ab, als ich die Insel annahm, als Gabe, als Geheimnis.“ Und als er so weit gekommen ist, da hat er angefangen zu schreiben – dieses überwältigende Buch einer Überwältigung.
KARL-MARKUS GAUSS
   
Wassili Golowanow: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens. Roman. Aus dem Russischen von Eveline Passer. Verlag Matthes&Seitz, Berlin 2012. 525 Seiten, 29,90 Euro.
Aus ehemaligen Nomaden
wurden Staatsangestellte mit
festem Einkommen
Alte Fangtechnik, moderne Objekte: Ein Junge aus dem Volksstamm der Nenzen spielt mit dem Lasso und den Kuscheltieren seiner Schwester.
FOTO: ASK IMAGES/VISUM
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