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"Waren es nicht wir selbst, vor denen wir uns am meisten fürchteten?"Von den zurückgelassenen Landschaften der Kindheit bis zu einem Mittsommer auf den Lofoten reicht die Spannweite dieser Gedichte - sie entwerfen Räume und stellen Räume in Frage, auch einen sicher geglaubten Ort wie Minsk. Wie schon in ihrem herausragenden Gedichtband"Nachtaufnahmen"sucht und findet Lavinia Greenlaw die Verschränkungen von wissenschaftlicher und alltäglicher Wahrnehmung, sie streift durch alte Tierhäuser des Londoner Zoos und vereint dabei wie selbstverständlich die Mentalitätsgeschichte vergangener Epochen…mehr

Produktbeschreibung
"Waren es nicht wir selbst, vor denen wir uns am meisten fürchteten?"Von den zurückgelassenen Landschaften der Kindheit bis zu einem Mittsommer auf den Lofoten reicht die Spannweite dieser Gedichte - sie entwerfen Räume und stellen Räume in Frage, auch einen sicher geglaubten Ort wie Minsk. Wie schon in ihrem herausragenden Gedichtband"Nachtaufnahmen"sucht und findet Lavinia Greenlaw die Verschränkungen von wissenschaftlicher und alltäglicher Wahrnehmung, sie streift durch alte Tierhäuser des Londoner Zoos und vereint dabei wie selbstverständlich die Mentalitätsgeschichte vergangener Epochen mit Beobachtungen der Gegenwart. Ihr ruheloser, inquisitorischer Blick, ihre Kunst, mit geringstem rhetorischem Aufwand das Gedicht zum Klingen zu bringen, machen Lavinia Greenlaw zu einer der wichtigsten zeitgenössischen Lyrikerinnen - nicht nur in Großbritannien.
Autorenporträt
Lavinia Greenlaw wurde 1962 in London geboren, wo sie auch lebt und für Fernsehen und Rundfunk arbeitet. 1990 erhielt sie den Eric George Award. Sie unterrichtete in England und in den USA. Von ihr erschien außerdem "Nachtaufnahmen" (1998).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2006

Brustkorb im Schlepptau
Nach Versmaß: Lavinia Greenlaw wühlt im Eingeweide des Gefühls

Gedichte sind Vers gewordenes Leben, aber kein Weg führt zur Biographie zurück. René Char hat das so gefaßt: "Da es das Ziel der Dichtung ist, uns Souveränität zu gewähren, indem sie uns unpersönlich macht, rühren wir, dank des Gedichts, an die Fülle dessen, was durch die Großspurigkeit des Individuums nur flüchtig entworfen oder aber entstellt worden war." Lavinia Greenlaws 2003 im Original, nun auf deutsch publizierter Band "Minsk" demonstriert dieses Prinzip eindrücklich.

Private Details aus früher Kindheit, Traumerlebnisse, ja, das Kennenlernen der Eltern im Seziersaal werden Thema; aber nie geht es um den privaten Inhalt, sondern um dessen sprachliche Erscheinungsweise. Etwa im Gedicht "Was die Fülle und Perfektion des Lebens ausmacht". Unter diesem religiösen Titel - der Übersetzer verfehlt leider den biblischen Ton des Originals - wird nichts dargestellt als das Wiederkehren und Verschwinden eines Traums beim zögernden Durchschreiten einer Tür, wobei das Innehalten im Nachdenken über den unscheinbaren Wasserhaushalt eines Gartens besteht. Der alte Vergleich von Traum und Wasser stellt sich ebenso beiläufig ein, wie er auch wieder vergeht, denn bei genauer Lektüre zeigt sich, daß der Traum eben nicht mit dem Wasser, sondern mit dem Innehalten im Denken verglichen wird. All dies geschieht in fünf Versen, die aus der Verschwommenheit von Traum und Wirklichkeit einen Moment klarer Vollkommenheit entstehen lassen. Man muß dies so detailliert beschreiben, denn viele Gedichte wirken auf den ersten Blick spröde, ehe sie plötzlich im erkennenden Nachvollzug aufgehen. Liest man sich etwa in "Foxtrot" ein, so erlebt man das Nachhausetrotten nach einer durchtanzten Provinznacht, das mit dem Funkalphabet einer Polizeistreife verwoben wird, ehe es in den Tanzrhythmus selbst übergeht. So wird dumpf Erlebtes zu sprachlichem Bewußtsein erhoben - auch wenn in der deutschen Schlußzeile ein Schritt fehlt.

Das Buch ist in sich klassisch zu Zyklen geordnet. Auf die Familiengedichte folgen solche über den Londoner Regent's Park Zoo, die in der bizarren Architektur der Gehege sprachliche Zerrbilder der Wirklichkeit erkennen lassen. Der Mittelteil ist thematisch offen und nimmt literarische Werke und Motti zum Sujet, deren Kanon von Dantes Geryon bis zu englischen Erzählungen und Otis Blackwaters Elvis-Presley-Hit "Don't Be Cruel" reicht. Das Gedicht "Minsk" hingegen zentriert die in alle Welt verstreuten Angehörigen einer Großtante um den sinnlosen Namen ihres Herkunftsortes, den sie auf die Frage "Where from?" eines U-Bahn-Kontrolleurs ausspricht. Der dritte Teil ist der Polarnacht und dem Polarsommer gewidmet. Liegt in den anderen Teilen des Bandes bisweilen ein fahles Licht auf Wörtern und Dingen, so versinkt nun zunächst alles in konturloses Dunkel, um im Gedicht "Sonnensüchtig" jubelnd zu kulminieren: "Helle verbrennt Sonnwend- / feuer zu Luft: sie knistern, unsichtbar." Die originalen Wörter "brightness", "fire" und "air" machen das Durchsichtigwerden auch im Klang erfahrbar. Das Schlußgedicht über die Rückreise in gemäßigte Zonen heißt demgegenüber konsequent "Rückkehr ins Dunkel".

Die 1962 in London in eine Wissenschaftlerfamilie geborene Dichterin hat in ihrem dritten Gedichtband bewundernswerte Kontrolle über den Prozeß der Verwandlung des Privaten ins Allgemeine gewonnen, da sie Vorgänge nicht lyrisch nacherzählt, sondern poetische Wirklichkeit aus der Wirklichkeit der Wörter gewinnt. Dies stellt extreme Anforderungen an den Übersetzer. Der Lyriker Raphael Urweider, der im Untertitel für seine Übersetzungen selbst Gedichtstatus beansprucht, hat vieles respektabel gelöst. Einiges ist, wie bereits angedeutet, schiefgegangen, doch nichts so sehr wie das Beispiel, an dem er im Nachwort sein Verfahren darstellt. Zugegeben, wenn eine Pathologin im Brustkorb nach "a misericord or ... a rip-cord" tastet, stutzt man. "Reißleine" ist klar, aber "a misericord"? Urweider zählt die Wörterbuchbedeutungen "Klappstuhl für müde Chorsänger" und "Dolch für den Gnadenstoß" auf, entscheidet sich aber für das Wort "Schlepptau", um den Gleichklang "-cord" semantisch nachzubilden. Was macht ein Schlepptau im Brustkorb?

Urweider übersah, daß die Ärztin ein Rechtsherz, "dextrocardia", diagnostiziert hatte. Es geht am Leitfaden der Silben -card/-cord nicht um Seile, sondern um eine Reflexion über Leben und Tod, Eingeweide und Gefühl. In "misericord" steckt der "Stich der Barmherzigkeit", changierend zwischen eigentlicher und übertragener Bedeutung vor dem Hintergrund der biblischen "viscera misericordiae" ("Eingeweide des Erbarmens"); auch "rip-cord" schimmert zwischen "Reißleine (eines Fallschirms)" und geplatztem Gefäß. All das ist unübersetzbare Wortkunst, die sich gleichwohl hätte andeuten lassen. Indes wird so auch der kritisch-wache Leser dankbar in die Zweisprachigkeit des Bandes eintauchen.

THOMAS POISS

Lavinia Greenlaw: "Minsk". Gedichte in zwei Sprachen. Englisch-Deutsch, übertragen von Raphael Urweider. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2006. 132 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Für die beeindruckte Sibylle Cramer betritt die britische Lyrikerin Lavinia Greenlaw mit ihrem Gedichtband "Minsk" Neuland. Nicht zeitliche, sondern räumliche Erfahrungen bilden Basis und Struktur dieser Gedichte, sei es in den Erinnerungen an idyllische Kindheitsräume oder in eher melancholisch eingetrübten Erinnerungen des erwachsenen Ich auf Reisen zu den Lofoten oder nach Russland, erklärt die Rezensentin. An der Übersetzung ins Deutsche von Raphael Urweider hebt die eingenommene Rezensentin die "geistige" Übereinstimmung mit den Originaltexten hervor, die sie in der engen Anlehnung an die englischen Texte auszumachen meint.

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