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Wenn Schönheit die Welt retten könnte Man stelle sich vor: durch eine kleine Ritze der so feindlich gesonnenen Gegenwart könnte man entschlüpfen in die Zeit vor der Perestroika und die Liebe zur eigenen Zensorin noch einmal nachschmecken eine Liebe, die jetzt so gründlich auf den Hund gekommen scheint. Nur läßt sich bei dieser Zeitreise der Augenblick, bei dem man in der Vergangenheit ankommt, nicht wirklich genau bestimmen. Und so muß man damit rechnen, auch einmal auf dem Zahnarztstuhl zu landen natürlich mit der damals üblichen Wodkanarkose. Der Krieg zwischen Russen und Kaukasiern ist…mehr

Produktbeschreibung
Wenn Schönheit die Welt retten könnte
Man stelle sich vor: durch eine kleine Ritze der so feindlich gesonnenen Gegenwart könnte man entschlüpfen in die Zeit vor der Perestroika und die Liebe zur eigenen Zensorin noch einmal nachschmecken eine Liebe, die jetzt so gründlich auf den Hund gekommen scheint. Nur läßt sich bei dieser Zeitreise der Augenblick, bei dem man in der Vergangenheit ankommt, nicht wirklich genau bestimmen. Und so muß man damit rechnen, auch einmal auf dem Zahnarztstuhl zu landen natürlich mit der damals üblichen Wodkanarkose. Der Krieg zwischen Russen und Kaukasiern ist dagegen grausam immerwährende Gegenwart. Wie Makanin in der Titelgeschichte die Schönheit eines kaukasischen Gefangenen zum aufstörenden, aber letztlich chancenlosen Moment des ständigen Kriegszustandes macht, ist in Rußland längst Pflichtlektüre. Und dann sind da noch die Lagerinsassen irgendwo in der sibirischen Taiga mit ihrer stolzen Rebellion. Sie schleichen sich bei der Zwangsarbeit davon, um in unendlicher Mühsal eine Botschaft in den Berg zu meißeln. Das "A" haben sie schon, aber jetzt haben sie über die lange Zeit vergessen, wie es weitergehen soll. Was aber nicht weiter schlimm ist, denn inzwischen scheint sich die politische Großwetterlage geändert zu haben. Aus den vorsichtigen Annäherungen von Häftlingen und Aufsehern gewinnt Makanin große, mächtige Bilder seines literarischen Lebensthemas: Bilder vom unbesiegbaren Behauptungswillen der eigenen Würde.
Autorenporträt
Wladimir Makanin, geb. 1937 in Orsk, war Mathematiker und Filmemacher, bevor er 1965 literarisch debütierte. Makanin gilt heute als »Klassiker« unter den gegenwärtigen russischen Schriftstellern. 1993 erhielt er den Booker-Preis, 1998 den Puschkin Preis für das Gesamtwerk, 1999 den russischen Staatspreis, 2001 den italienischen Penne-Preis und 2012 den Europäischen Preis für Literatur der Stadt Straßburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2005

Die Geisel leuchtet irritierend
Lebender Klassiker: Wladimir Makanins erzählerisches Triptychon

In Rußland, wo man geschichtlichen Fortschritt eher wie einen Gletscher als wie eine Baustelle erlebt, scheint das Schöne schneller zu sterben, aber auch schmerzlicher verabschiedet zu werden als anderswo. Dabei können unverwechselbar gegenwärtige Erfahrungen in einer Sprache Gestalt finden, die, geprägt von den realistischen Erzählern des neunzehnten Jahrhunderts, im einundzwanzigsten zeitlos klingt.

Ein solch stoischer Ausläufer der Klassik ist Wladimir Makanin, der exemplarische Miniaturtragödien in präzisen, lakonischen Formulierungen umreißt, ganz ohne die Sprache expressiv zu deformieren, und als illusionsloser Zeitdiagnostiker mittlerweile selbst Klassikerstatus erworben hat. Als Monumentalist der knappen Form empfiehlt sich Makanin jetzt mit drei Erzählungen, die der Luchterhand-Verlag gesammelt herausbringt. Die Texte, die auf einem Raum von gut fünfzig bis knapp neunzig Seiten die Schönheit, die Freiheit und die Liebe besingen, addieren sich mit drei zugleich ganz gegensätzlichen wie "typischen" Lebenssituationen zu einer Standortbeschreibung als Triptychon.

Die Titelgeschichte, die kürzeste und niederschmetterndste, bereist der Hölle des Tschetschenien-Krieges ersten Kreis. Kein apokalyptischer Flammenschlund verschlingt hier den Menschen, der vielmehr eingespielter, abgestumpfter Teil der Stellungskriegsroutine geworden ist. Ein russischer Oberstleutnant feilscht mit einem Rebellenführer in seinem Safari-Lager über das nächste Bartergeschäft von Waffen gegen Lebensmittel. Seine eingekesselten Soldaten, für die der Vorgesetzte allenfalls Arbeitsaufträge in seinem Privatquartier übrig hat, versuchen sich das Lebensnotwendige zusammenzustehlen: Fusel, Sex, konvertierbare Geisel-Währung. Doch die Schönheit, von der Dostojewski schrieb, sie solle die Welt retten, leuchtet auch hier. Irritiert registriert der erfahrene Soldat sie in den Zügen seines tschetschenischen Gefangenen, den er aus einem flüchtenden Rudel zu Verhandlungszwecken willkürlich herausgegriffen hat.

Makanin spinnt auch die Kaukasus-Dichtung von Puschkin und Lermontow fort, wo die Liebe eines Bergmädchens russische Gefangene befreit. In Makanins Jetztzeit ist die Knechtung der naturhaften Barbarei durch die stärker technisierte ein beträchtliches Stück vorangeschritten. Symbolisch gerät ein mädchenhafter Jüngling in die Gewalt eines Russen, der ihm im kritischen Augenblick mit professionellem Kriegerautomatismus die Kehle zudrückt. Der Frontalltag zwischen Schießen, Rauchen, Schlafen hat ihn alsbald wieder. Doch eine erotische Traumvision vom Getöteten erzeugt noch einmal jenen Schmerz, der den modernen Menschen auch den stummen und selten befolgten Appell der Naturschönheit immerhin spüren läßt.

Der "Buchstabe A" macht eine sibirische Strafkolonie zum Gleichnis dafür, wie das sowjetische Zwangssystem sich erhielt und zugrunde ging. Physiologische Skizzen von "Prügelspielen" mit einem Sterbenden, beiläufigen Häftlingstoden beim Arbeitseinsatz, willkürlichen Strafaktionen mit scharfen Hunden und dem durchdringenden Gestank von Menschen und Baracken martern die Vorstellungskraft des Lesers. Doch die menschenzermalmende Maschine ist kaum merklich schon vom Virus der Freiheit befallen. In der Gefängnissuppe findet sich ein winziges Fleischstück. Ein Wachsoldat gibt einem Sträfling Hilfestellung. Die Verwünschungen, die ein anderer Häftling seinem Erschießungskommando entgegenschleudert, zerfressen die Moral seiner Mörder. Die "Zone" verliert Aufseher. Die Disziplin lockert sich. Im Finale vandalisieren die Haftinsassen den Ort ihrer Leiden mit einer Ausscheidungsorgie, die eines Sorokin würdig wäre.

Der Schliff von Makanins Prosa läßt die Wirklichkeit jedoch nicht zerbersten, seine Wortkunst sammelt und klärt eher als auszustrahlen. Das Gleichnis von der Strafkolonie enthält auch einen Nachruf auf die Spiritualität seiner Heimat. Die Gefangenen der Taiga meißeln in gemeinsamer Anstrengung den Buchstaben "A" auf einen kahlen Felsen, eine einsame, gleichsam an Außerirdische gerichtete Hieroglyphe, die einen Anfang des Denkens oder Erinnerns oder pyramidenhafte Standfestigkeit symbolisieren mag. Mit der Befreiung, die bei Makanin einer Fäulnisgärung ähnelt, verliert das Werk seinen Sinn.

Das postliterarische Rußland porträtiert die "Geglückte Liebesgeschichte", die am meisten optimistische der drei. Der Schriftsteller, den in der Marktwirtschaft keiner mehr braucht, verdient sich mit einer Fernsehtalkshow eine Art Gnadenbrot. Verschafft hat ihm die Stelle seine ehemalige Geliebte und Zensorin, um den Preis eines Stelldicheins mit dem Abteilungsleiter. Makanin zeichnet seinen Helden der Feder als eitel, kleinmütig und egoistisch wie ein alt gewordenes Kind. Ganz im Gegensatz zu der ihn liebenden Ex-Zensorin, die noch in ihrem neuen Job als Puffmutter sich für den alternden Lüstling um eine Gratisnummer mit einer ihrer Schützlinge bemüht. Die nutzlose, grundlose, längst nicht mehr erwiderte Liebe, deren einziger Lohn sie selber ist, haftet an der Heldin wie ein unsichtbares Adelsattribut, das sie heraushebt aus dem Kreislauf kommerzieller Nützlichkeiten. Diese Urenkelin von Dostojewskis reiner Hure Sonja Marmeladowa rettet trotz unromantisch fortgeschrittener Jahre nicht nur ihren abgehalfterten Romanschreiber, sondern stellt auch die einzige Rechtfertigung dar für das zivilisierte Machtspiel der modernen Welt.

KERSTIN HOLM

Wladimir Makanin: "Der kaukasische Gefangene". Drei Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 239 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Auch Wladimir Makanin, obgleich älteren Jahrgangs als die meisten seiner respektlosen Kollegen vom Schlage eines Wladimir Sorokin und Wiktor Pelewin, ist Mitglied der "Räumkommandos", die den "geistigen Unrat" des untergegangenen Regimes entsorgen - so beschreibt es Jörg Plath. Doch anders als die Jüngeren ist sein Wertesystem intakt, und deshalb vermitteln diese drei Geschichten echten Pessimismus, wenn sie den Niedergang von Idealen - Liebe, Freiheit, Schönheit - zeigen. Wie er das tut - durch eine "diskrete Anrufung der russischen Klassiker" und ohne Tendenz zur sinnbildhaften Sentenz -, das nötigt dem Rezensenten höchsten Respekt ab. Makanin ist ein "Meister der mittleren Form", ruft er - das habe schon sein großer Roman "Underground. Ein Held unserer Zeit" gezeigt, der ja eigentlich in lauter Geschichten zerfiel, und das werde auch hier augenfällig. Fazit: "Die Kombination aus literaturvermittelter Metaphysik und groteskem Realismus ermöglicht beispiellose Einblicke in die Seelenlage wohl nicht weniger Russen."

© Perlentaucher Medien GmbH
"Erwürgte Schönheit hier, abgetakelte Liebe dort. Makanin ist ein unsentimentaler Beobachter der Gegenwart. Kein heiteres Russlandbild, gewiss. Doch überzeugend und kraftvoll führt Makanin die realistische russische Erzähltradition fort." Literaturen