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Babadag heißt einer der Orte, die Stasiuk zwischen Ostsee und Schwarzem Meer durchreist. Einer dieser »schwachen Orte«, die verschwinden, sobald man sich abwendet. Die Panik, sie und ihre Bewohner könnten aufhören zu sein, wenn er sie nicht beschreibt, sie könnten mit ihm und seinem erlöschenden Blick untergehen, treibt ihn an. Aus dieser Angst ist Stasiuks neues Buch entstanden - sein wohl schönstes über eine Welt weit hinter Dukla.
Kuhherden auf einer Bahnstrecke hinter Oradea, Schafe in einer Vorortstraße von Satu Mare, ein Schimmel, der mitten in Suceava weidet - den schmutzigsten,
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Produktbeschreibung
Babadag heißt einer der Orte, die Stasiuk zwischen Ostsee und Schwarzem Meer durchreist. Einer dieser »schwachen Orte«, die verschwinden, sobald man sich abwendet. Die Panik, sie und ihre Bewohner könnten aufhören zu sein, wenn er sie nicht beschreibt, sie könnten mit ihm und seinem erlöschenden Blick untergehen, treibt ihn an. Aus dieser Angst ist Stasiuks neues Buch entstanden - sein wohl schönstes über eine Welt weit hinter Dukla.

Kuhherden auf einer Bahnstrecke hinter Oradea, Schafe in einer Vorortstraße von Satu Mare, ein Schimmel, der mitten in Suceava weidet - den schmutzigsten, entlegensten Teil unseres Kontinents bevölkern die Tiere. In der Endlosigkeit verrosteter Lagerhallen, im Schatten gigantischer Schornsteine, zwischen schaukelnden Lastwagen zupfen sie vergiftetes Gras, ohne eine Spur von Angst oder Interesse. Als weideten sie dort seit Urzeiten.
Sequenzen wie aus Filmen von Buñuel oder Fellini durchziehen Andrzej Stasiuks literarische Reportagen ausAlbanien, Moldawien, Rumänien, der Ukraine, Ungarn und der Slowakei. Nach der Rückkehr kann er kaum glauben, daß er wirklich dort war, nicht alles nur geträumt hat - die Bunker, Satellitenschüsseln und UNO-Flaggen, das Dorf im Donaudelta, das langsam im Wasser versinkt, die Städtchen, in denen die Kinder schon müde zur Welt kommen.
Babadag heißt einer der Orte, die Stasiuk zwischen Ostsee und Schwarzem Meer durchreist. Einer dieser »schwachen Orte«, die verschwinden, sobald man sich abwendet. Die Panik, sie und ihre Bewohner könnten aufhören zu sein, wenn er sie nicht beschreibt, sie könnten mit ihm und seinem erlöschenden Blick untergehen, treibt ihn an. Aus dieser Angst ist Stasiuks neues Buch entstanden - sein wohl schönstes über eine Welt weit hinter Dukla.
Autorenporträt
Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden. 1994 erschienen Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte), 1995 Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen) und Bialy Kruk (Der weiße Rabe; 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband Przez rzeke (Über den Fluss; diesem Band ist Die Reise entnommen) und 1997 Dukla. 2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch Unterwegs nach Babadag. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint in 30 Ländern. 2016 wurde er mit dem Staatspreis für europäische Literatur 2016 ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2005

Geographie der Glühbirne
Das Unbewußte Europas: Andrzej Stasiuk reist nach Babadag

"Unterwegs nach Babadag" hat der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk seine Sammlung von Reiseskizzen genannt, und der Titel ist Programm. "Babadag" klingt für westliche Ohren fast dadaistisch oder wie ein Kinderlaut, aber es existiert wirklich. Es ist ein kleiner Ort in der ostrumänischen Dobrudscha in der Nähe des Donaudeltas. Und so unbekannt wie Levoca, Gönc, Zborov, Oradea, Dulabka und all die anderen auf kaum einer Karte verzeichneten Orte, die der Autor in seinem Buch durchmißt. Doch in all seiner Winzigkeit ist "Babadag" die Chiffre für eine Welt.

In den insgesamt vierzehn Texten will der 1960 geborene Autor, der eine der wichtigsten und eigenwilligsten Stimmen seiner Generation in Polen ist, einem im Versinken begriffenen Kulturraum, dem des alten Mittel- und Osteuropa, huldigen. Ähnliches hatte er schon früher, etwa in dem Roman "Die Welt hinter Dukla" (2000) getan, mit dem ihm der internationale Durchbruch gelungen war. Auch diesmal gilt seine Aufmerksamkeit wieder dem Peripheren und Vergessenem, allem, "was man eingestellt, aufgegeben und sich abgeschminkt hat, alles, was nicht überlebt, keine Spuren hinterläßt, was nur um seiner selbst willen besteht und keine Wehmut, Trauer oder Erinnerung weckt. Vollendete Gegenwart." Das Ergebnis seiner Erkundungen sind keine in sich geschlossenen Berichte. So wie bei der von Spontaneität geprägten Reise geht es in der Erzählung nicht gezielt voran, sondern eher kreisförmig und in Variationen.

Von seinem Heimatort in den polnischen Beskiden fährt der Autor in die Slowakei, nach Ungarn, Slowenien, Rumänien, die Ukraine und Moldawien. "Mitteleuropa" nennt er diese geographische Schnittmenge aus früherer Donaumonarchie und Ostblock. Diesem Begriff hatte er schon in dem zusammen mit Juri Andruchowytsch herausgegebenen Essayband "Mein Europa" (2004) eine überraschende Wendung gegeben. "Mitteleuropäer zu sein bedeutet: Zwischen dem Osten, der nie existierte, und dem Westen, der allzu sehr existiert, zu leben." Der Begriff "Mitte" rückt den Landstrich zwischen Ostsee und Schwarzem Meer zwar in den Fokus, doch "Mitte" steht nicht für einen komfortablen Zustand, sondern für ein ungemütliches "Dazwischen".

Mitteleuropa wird mit einer schwimmenden Insel verglichen, einem Schiff, das entgegengesetzten Winden und Strömungen aus Ost und West ausgesetzt ist. Stasiuk mißtraut Rußland und mehr noch dem Westen. Im aggressiven Kapitalismus, in der kalten Vernunft westlicher Provenienz sieht er die eigentliche Bedrohung für "Babadag". Es werde "erlöschen wie eine Glühbirne" und "ein kugelförmiges Nichts" hinterlassen, das "von irgendwelchen neuen Formen ausgefüllt wird", beschreibt er das Unspektakuläre und zugleich Unbestimmte des Vorgangs.

Als Gegenentwurf zu den expandierenden Großstädten mit ihren gläsernen Oberflächen setzt der Melancholiker Stasiuk die "stillen und kleinen Orte", die der Leser auf einer wahrhaft ungewöhnlichen Bildungsreise kennenlernt. Die Sonne, der Himmel und das Wetter werden in immer neuen Bildern von poetischer Leuchtkraft beschworen, Geographie und Geschichte sind Ausgangspunkte für die Vorstellungskraft. Da kriecht aus irgendeiner Falte der Landschaft ein Volksheld mit blutverkrusteten Händen - hier beginnt man übrigens, sich bei all den unbekannten Namen nach einem erklärenden Anhang zu sehnen -, oder die zwölf Paar Ochsen werden plastisch, die im neunzehnten Jahrhundert die erste rumänische Lokomotive durch die gleislose Landschaft zum Kaiser nach Wien ziehen. Erstarrte Geschichte wird in kleinen Episoden lebendig, um wieder in der "ewigen Gegenwart" der Landschaft zu versinken. Gelegentlich droht auch der horror vacui: "Ich muß das alles neu erfinden, denn irgendwas muß doch passiert sein an diesem langen Tag." Erzählanfänge tauchen verführerisch im leeren Raum auf und werden vom Erzähler spielerisch hin- und hergerollt, bis er sie wieder verwirft.

Geradezu Musilschen Möglichkeitssinn zeigt Stasiuk auch, wenn er sagt, daß "eigentlich alles, was passiert ist, auch anderswo hätte geschehen können". Ja, viele Themen sind in der Tat mitteleuropäisch und grenzüberschreitend: die Korruption und der Schwarzmarkt, die Armut und das Improvisationstalent, die Koexistenz von Mensch und Tier und der Zivilisationsmüll, die verbreitete Sehnsucht nach dem Sozialismus und die Großmachtphantasien, die Massengräber aus den Zeiten von Krieg und Terror. Skurril anmutende Details illustrieren nationale Eigentümlichkeiten. So fehlt auf dem Grab des transsilvanischen Diktators Ceausescu mitten im Sommer jeder grüne Halm, und in Albanien werden Miniaturbunker als Aschenbecher verkauft, als Andenken an die noch vorhandenen sechshunderttausend Bunker aus der paranoischen Hodscha-Zeit.

Albanien nennt Stasiuk "das Unbewußte unseres Kontinents" und fügt mit Lust an der Provokation hinzu: "die Angst, die nachts das schlafende Paris, London und Frankfurt am Main heimsucht". Ausdrücklich begrüßt der Erzähler, was er das "balkanische Chaos" nennt - auf seiner Landkarte gehört auch Polen zum Balkan -, und wird in dem Augenblick widerständig, wo er in der slowenischen "Schweiz des Balkans" auf unerbittlich korrekte Polizisten trifft. Dieses idyllische Land, das so "fix und fertig" ist, nennt er in burleskem Ton "Verräter des slawischen Saustalls". Um kurz darauf kleine Länder sympathisch zu finden, weil sie so jenseits allen Größenwahns seien. Das Buch ist voll von solchen plötzlichen Volten; sie verhindern, daß ein Eindruck zum Vorurteil gerinnt.

Andrzej Stasiuk ist weder ein Idylliker noch ein Ostalgiker. Dazu hat das Bild, das er uns gibt, zu viele Brüche. Vielleicht trifft hier das vielzitierte Wort von dem, der die Scherben aufsammelt, tatsächlich einmal zu. Dank seiner ungeheuer lebendigen Sprache schafft er ein Werk, das poetische, essayistische und reportagehafte Elemente mühelos integriert und eine Momentaufnahme von Mitteleuropa liefert, die literarisch Bestand haben wird.

JUDITH LEISTER

Andrzej Stasiuk: "Unterwegs nach Babadag". Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 300 S., geb., 22,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2006

Der blinde Geiger und die Glühbirne
Chronist der Epochenverschleppung: Andrzej Stasiuk in seinen Reiseskizzen „Unterwegs nach Babadag”
Wer mit Andrzej Stasiuk reisen wollte, müsste Courage und Geduld aufbringen, dürfte weder Hitze noch Kälte, weder Giftmüll noch grimmige Grenzposten scheuen und vor allem keine empfindliche Leber haben. Denn im wilden Osten Europas, wo dieser besessene Liebhaber der Peripherie seit Jahren seine Erkundungsfahrten durch die entlegensten, rückständigsten, ärmsten Regionen des Kontinents unternimmt, sind geistige Getränke mehr als nur ein erschwingliches Genuss- und Kommunikationsmittel: Sie scheinen der Kraftstoff zu sein, das Lebenselixier, das von morgens bis abends die Körperfunktionen reguliert und die Seelenhygiene gewährleistet.
Mit ungarischem Palinka und rumänischem Brandy, moldavischem Weinbrand und albanischem Fernet, mit serbischem Slibovitz und türkischem Raki, ergattertem Cognac und Selbstgebranntem wird hier das Dasein bewältigt, mit Bier und Wein der Nachdurst gelöscht, und der Schriftsteller aus dem nicht minder trinkfesten Polen passt sich den jeweiligen Landessitten an, ohne zu klagen. Längst hat er sie lieben gelernt, „die ruhige, konsequente Sauferei am Mittag und die glasigen Blicke, die mühelos durch die Wirklichkeit hindurchgehen, um sich furchtlos dem Nichts zu öffnen”.
Wunderbarerweise bleibt sein eigener Blick dabei ganz ungetrübt, besitzt vielmehr eine überwache, die Wirklichkeit hell ausleuchtende Klarheit, die man aus Träumen kennt oder vom Kamera-Auge mancher Regisseure.
Die im Band „Unterwegs nach Babadag” versammelten Reiseskizzen aus Ungarn und Rumänien, Moldavien und Albanien, der Ukraine und der Slowakei sind bildkräftig wie Dokumentarfilme, detailscharf wie alte Schwarzweißfotografien und oftmals bewusstseinserweiternd wie jene Kinokunstwerke, bei denen Reales und Surreales ineinander fließen - zu Recht erwähnt der Klappentext die Namen Buñuel und Fellini. Das alles dient in Stasiuks literarischen Reportagen einem gewissermaßen denkmalpflegerischen Zweck: Es geht um das Bewahren und Archivieren einer versinkenden Welt, die in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts und während des kommunistischen Zwangsexperiments schwere Blessuren davongetragen hat, jedoch erst jetzt, mit dem unaufhaltsamen Vorrücken der westlich-kapitalistischen Postmoderne und ihrer gedächtnisfeindlichen Gleichmacherei, vom Untergang bedroht ist.
In jener Welt mischen sich Restbestände alteuropäischer Milieus und Lebensformen mit den Provisorien, die beim Zusammenprall von schläfrigem Chaos und hektischer Neuzeit entstanden sind. Unberührte Landschaften stoßen an Industriebrachen und ökologische Wüsten, Dorfidyllen wie aus dem Märchenbuch existieren neben Schrotthalden und Kriegsnarben, intakter Provinzalltag mit Kleinbahnen, Gemüsegärten und Gemischtwarenläden behauptet sich inmitten von Vernachlässigung und Verfall. Die „Epochenverschleppung”, die ein anderer Ostmitteleuropäer, Gregor von Rezzori, schon vor Jahrzehnten beim Namen nannte, verbindet sich mit den Relikten einer fehlgeleiteten Fortschrittsdoktrin, mit einer lethargischen Grundskepsis gegenüber allen neueren Verheißungen sowie einer Improvisationskunst, wie sie in Randzonen der Zivilisation gedeiht.
Einöden von Shqiperia
„All das wird verschwinden”, notiert Stasiuk, „wird erlöschen wie eine Glühbirne, und es wird nur eine kugelförmige Leere bleiben, die von irgendwelchen neuen Formen ausgefüllt wird . . .”. Denn es leben dort zwar Menschen, denen unser Zeitalter mit seinen Errungenschaften „einfach am Arsch vorbeigeht”, aber man wird sie im Zweifelsfall nicht fragen. Aus dem Beskidendorf nahe der polnisch-slowakischen Grenze, wo er seit zwanzig Jahren lebt, bricht Andrzej Stasiuk immer wieder auf in diese Gegenden, in denen einerseits die Zeit stillzustehen scheint, andererseits die existenzielle Erfahrung des Transitorischen, Flüchtigen, der „Hinfälligkeit der Materie” sich aufdrängt wie nirgendwo sonst. Die Zukunft, bekennt der Reisende, „interessiert mich schon lange nicht mehr, und es zieht mich immer mehr an Orte, die an einen Anfang erinnern, Orte jedenfalls, an denen die Trauer die Kraft der Vorsehung besitzt. Kurzum, es geht mich einen Dreck an, wohin wir gehen, mich interessiert nur, woher wir kommen.”
Wer sich so radikal dem Vergangenen und Vergessenen, dem Abseitigen und Aufgegebenen zuwendet, muss in einer besinnungslos frischwärts drängenden Gegenwart starke Argumente haben, um seine „perverse Liebe zu allem, was verschwindet, zerfällt und zugrunde geht” begreiflich zu machen. Andrzej Stasiuk braucht nicht zu argumentieren, denn seine Stärke ist das Beschreiben. Er lässt Bilder sprechen, die Erinnerungen wie aus früheren Leben wachrufen - die irrationale Ahnung, dies alles schon einmal gesehen zu haben, auch wenn man geographische Namen wie Transnistrien oder Gagausien noch nie gehört hat, auch wenn man nicht die Unerschrockenheit besäße, an verlassenen rumänischen Bahnstationen zu warten oder die gewaltigen Einöden des Landes Shqiperia zu bereisen, das wir Albanien nennen und von dem Stasiuk sagt, es sei das „Unbewusste Europas”. Unter den Autoren, die topographische Erkundungen und Bestandsaufnahmen zur literarischen Kunstform entwickelt haben, zeichnet er sich durch die Gabe aus, Orte und Szenerien in einer halb nüchternen, halb poetischen Sprache so abzubilden, dass sich hinter ihnen tiefe Räume zu öffnen scheinen, Tunnel oder Brunnenschächte, die durch die Ablagerungen der Geschichte zu einem verschütteten Erfahrungsgrund führen.
Stasiuk selbst sieht die Sehnsucht, in den Innenraum eines bestimmten Bildes vorzudringen, als Motivation und Antrieb hinter all seinen Reiseschilderungen. Die Fotografie von André Kertész aus dem Jahre 1921, die dem Band als einzige Illustration beigegeben ist, zeigt einen blinden Geiger und einen barfüßigen Jungen auf einer ungepflasterten Kleinstadtstraße in Ungarn, im Hintergrund einen Bretterzaun, Bäume, ein Stück Hausfassade und ein Kleinkind, das aus dem Bild hinaus in die Ferne schaut. Wohin er auch fahre, berichtet Andrzej Stasiuk, an allen vergessenen Orten Osteuropas lege sich für ihn dieses Foto über den Schauplatz, und überall sei er auf der Suche nach seinen dreidimensionalen, farbigen Versionen.
Glättung der Dinge
Für den Leser und Betrachter behält die Aufnahme ihr Geheimnis, aber der Kommentar Stasiuks lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was sich hinter ihr verbergen könnte. Umgekehrt öffnen seine Schilderungen uns die Augen für das fast schon Verlorene, ohne dabei, wie es konventionelle Reiseschriftstellerei häufig tut, dessen Aura zu zerstören. Denn, so heißt es, „Blicke glätten die Dinge und Landschaften. Ebendaher kommen Zerstörung und Zerfall. Von zu vielen Blicken verbraucht sich die Welt, nutzt sich ab wie eine alte Karte”. Im immer glatter werdenden, touristisch bald restlos erschlossenen und entschlüsselten Westeuropa lässt sich dieses Phänomen mit Händen greifen. Apropos Karte: Die hätte man sich in diesem kostbaren Buch gewünscht, um Andrzej Stasiuks Pfadfinderrouten durch die Randgebiete des Abendlandes mit dem Finger nachzufahren und die Orte, die niemand kennt, wenigstens auf dem Papier zu suchen.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
ANDRZEJ STASIUK: Unterwegs nach Babadag. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 304 Seiten, 22,80 Euro.
An seinen Rändern, sagt der polnische Autor Andrzej Stasiuk, begegnet Europa seinem Unbewussten: Kosovo, 1999
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kristina Maidt-Zinke steht ganz im Bann von Andrzej Stasiuks "Unterwegs nach Babadag", den Reiseskizzen aus einer untergehenden Welt des Ostens, in der die "Restbestände alteuropäischer Milieus" und die Hinterlassenschaften des real existierenden Kommunismus gleichermaßen versickern. Nüchtern und poetisch schildert der Chronist dieses Verfalls, wie in dem Leser gänzlich fremden Regionen - von ungarischen Dorfkneipen bis zu albanischen Provinzbahnhöfen - die Allgegenwart des Stillstands sich verbindet mit der "Erfahrung des Transitorischen, Flüchtigen". Stasiuk, ausgestattet mit einer "überwachen" Schärfe des Blicks, die Maidt-Zinke an die Kameraführung einiger Regisseure erinnert, verlässt sich dabei ganz auf seine große Kunst: das Beschreiben. Maidt-Zinke lobt, wie es dem Autor gelinge, dem Leser die Augen zu öffnen für das "fast schon Verlorene", ohne dabei dessen Aura zu beschädigen. Dass Stasiuk die Klarheit seines Blicks behält trotz enormer Alkoholaufnahme - oder dass er die Klarheit seines Blicks dem Alkohol sogar verdankt -, vermerkt Maidt-Zinke mit Staunen. Überhaupt beeindruckt es sie spürbar, wie hier einer, nach eigenem Bekunden angewidert von einer stets hohler werdenden Gegenwart, sich unter Einsatz seiner Person auf die Suche begibt nach dem verlorenen Ursprung unserer - seiner - Existenz. Das Einzige, was sie bei ihren Reisen mit Stasiuk vermisst hat, ist eine Karte.

© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dank seiner ungeheuer lebendigen Sprache schafft er ein Werk, das poetische, essayistische und reportagehafte Elemente mühelos integriert. « Frankfurter Allgemeine Zeitung