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Nicht alle Wünsche müssen in Erfüllung gehen. Man kann auch als Akademischer Rat glücklich werden. Eine Zeitlang zumindest. Doch kurz vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag beginnen Stephan ungewohnte Ängste und Träume umzutreiben, und außerdem ist da immer dieser Schmerz in der Herzgegend. Und war nicht sein Vater mit vierundfünfzig an einem Infarkt gestorben? Stephan entscheidet sich zu einer einjährigen Auszeit vom Familienleben und zieht in eine kleine Steglitzer Wohnung in der Nähe vom Lilienthalpark. Er hat Bilanzbedarf. Und nach Ägypten reisen möchte er endlich auch einmal. Die…mehr

Produktbeschreibung
Nicht alle Wünsche müssen in Erfüllung gehen. Man kann auch als Akademischer Rat glücklich werden. Eine Zeitlang zumindest. Doch kurz vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag beginnen Stephan ungewohnte Ängste und Träume umzutreiben, und außerdem ist da immer dieser Schmerz in der Herzgegend. Und war nicht sein Vater mit vierundfünfzig an einem Infarkt gestorben? Stephan entscheidet sich zu einer einjährigen Auszeit vom Familienleben und zieht in eine kleine Steglitzer Wohnung in der Nähe vom Lilienthalpark. Er hat Bilanzbedarf. Und nach Ägypten reisen möchte er endlich auch einmal.
Die Beschäftigung mit sich selbst führt Stephan nicht nur in die ägyptische Wüste, sondern auch in seine Vergangenheit. Und zum erstenmal fragt er nach der Herkunftseines Vaters, der aus dem Osten kam, worunter sich Stephan nie etwas vorstellen konnte. Für ihn war alles Ostpreußen. Oder Pommern. Und was hatte es eigentlich mit dem Sohn auf sich, den seine Eltern während der Flucht zurücklassen mußten
Autorenporträt
Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Findelkind Nummer 2307 darf nicht erben
Röntgenbild einer Familie: Hans-Ulrich Treichel sucht einen Bruder und findet deutsche Geschichte / Von Pia Reinacher

Geld geht vor Gefühlen. Eine triviale Einsicht, die aber in Hans-Ulrich Treichels Roman "Menschenflug" auf scharfsinnige Weise deklamiert wird. Erneut hat der dreiundfünfzigjährige Schriftsteller und Literaturprofessor auf einen autobiographischen Stoff zurückgegriffen, mit dem er sich schon einmal auf Anhieb aufs literarische Podest katapultieren konnte.

Bereits in der Erzählung "Der Verlorene" (1998) thematisierte der Autor deutsche Vergangenheit anhand des eigenen Familientabus. Die Eltern hatten lange verschwiegen, daß sie auf der Flucht vor den Russen im Zweiten Weltkrieg einen Bruder zurückließen. Bis zu ihrem Tod versuchten sie vergeblich, das Kind über die Suchlisten des Roten Kreuzes wiederzufinden.

Im neuen Roman arbeitet der Autor mit einem historischen Vexierbild, das ständig beunruhigende Signale sendet. Hinter der meisterhaft erzählten Beziehungs- und Milieustudie um Stephan, einen Akademischen Rat an der Freien Universität Berlin, der mit Anfang Fünfzig plötzlich in eine Lebenskrise gerät und sich zu archäologischen Streifzügen in die eigene Unterwelt aufmacht, blitzen die prekären Folgen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und der engherzigen Inventurmentalität des Westens gegenüber dem Osten auf. Es handelt sich also um ein bleischweres historisches Bilanzprogramm, das dem Leser jedoch mit großer Leichtigkeit und Eleganz serviert wird. Mit federnder Ironie, robuster Erfindungskraft und messerscharfer Beobachtungsgabe erzählt Treichel die Geschichte einer durchschnittlichen deutschen Familie, die das ehemalige Findelkind Nummer 2307 nach langwierigen Akten-Recherchen in Celle ausfindig gemacht hat. Ein einsamer, verbitterter, versehrter Mann ist aus dem Bruder geworden. Die anfängliche Freude über die familiäre Zusammenführung weicht der Ernüchterung. Nach kühler Prüfung der Erbverhältnisse verzichtet der Familienrat darauf, sich als Verwandtschaft aus dem reichen Westen zu erkennen zu geben.

Hans-Ulrich Treichel hat also einen deutschen Roman geschrieben - oder gerade nicht. Die Überzeugungskraft seiner Geschichte liegt nämlich darin, daß sie weder deckungsgleich mit dem stereotypen Bild einer bestimmten nationalen Mentalität ist noch mit einer bündigen politischen Botschaft. Vielmehr entblößt sie die Fratze aller menschlichen Natur, wie sie sich unter einer dünnen Schicht von Zivilisation und Anpassungsleistungen versteckt: Selbstsucht, Habgier, Liebesunfähigkeit.

Mit solch einer offenen Erzählkonstruktion hat Treichel den ersten Trumpf in der Hand. Ein zweiter Vorzug ergibt sich aus der flimmernden Zeichnung des Protagonisten. Der Autor entlarvt den inneren Zwiespalt eines Intellektuellen, der zwar die Verhältnisse sofort durchschaut, sich aber in widersprüchliches Handeln verstrickt oder aus Feigheit totstellt. Von couragiertem Einsatz für den verlorenen Bruder keine Spur. Sein Held nämlich ist seit seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag aus der Rolle gefallen. Dumpfe Angstvorstellungen treiben ihn um. Die Mutter, eine versteinerte Eisheilige, erscheint ihm in Albträumen. Herzschmerzen bringen ihn plötzlich der eigenen Vergänglichkeit nahe. Ist sein Vater nicht im gleichen Alter an einem Infarkt gestorben? In der Not beschließt der Didaktiker für Deutsch als Fremdsprache eine einjährige Auszeit, die ihm von Frau und Töchtern verständnisvoller gewährt wird, als ihm lieb ist. Er bezieht eine Dachwohnung in Berlin-Steglitz. Das Familiensabbatical soll, da Stephan die Lebensmitte überschritten hat, nochmals einer Selbstfindung dienen. Das Stottern seines Herzens läßt sich ohnedies nicht länger ignorieren. Noch schlimmer: Die unterdrückten Signale aus dem Innern bedrohen ihn bereits gefährlich in Form psychosomatischer Beschwerden. Eine Zeitlang, so beschließt er, will er sich ausschließlich der Frage widmen, wie er zu dem geworden ist, der er ist.

Das Erzählkonzept von Krise und Lösung als pulsierendes Zentrum des Romans eröffnet dem Schriftsteller vielfältigste Spielmöglichkeiten, die er bravourös nutzt. Etwa im Porträt der dumpfen, durch das Unglück der Vertreibung aus dem ukrainischen Wolhynien und der mißtrauischen Aufnahme im alten Vaterland stumpf gewordenen Eltern des Protagonisten: im Nachdenken über den Vater, der mit amputiertem Arm aus dem Frankreich-Feldzug zurückgekommen ist und dem Sohn fremd und bedrohlich bleibt; im Bild der Mutter, die ihm als verschlingendes Wesen erscheint, das ihn noch zu ersticken droht, als sie längst tot ist. Am brillantesten aber ist Treichels Roman im soziologischen Röntgenbild der Familie, das auf einen Schlag alle unterirdischen Kälte- und Wärmeströme sichtbar macht. Allein die Passagen, die den unterschiedlichen Schwestern gewidmet sind, lohnen das Lesen des Buches.

Gerda, als Kind hübsch, aber schon immer herb und streng, führt das Leben einer eleganten Dame. Obwohl sie seit Jahren mit einem verwitweten Rechtsanwalt liiert ist, heiratet sie ihn nicht, um auf die Unterhaltszahlungen ihres geschiedenen Mannes nicht verzichten zu müssen. Ganz anders Waltraud, deren Schönheit, eine italienisch-russische Mischung, sich schon zeigt, als sie noch klein ist. Mit ihrem Mann führt sie einen Hof, der kaum genug zum Leben abwirft, und kommt aus den Gummistiefeln nicht heraus. Gerda wittert mit dem Auftauchen des verlorenen Bruders blitzschnell die Gefahr, bilanziert den finanziellen Schaden und wendet ihn ab.

Waltraud und Stephan dagegen sind Seelenverwandte. Der Bruder fühlt sich schon früh auf nicht ganz geheure Art zur Schwester hingezogen. Manchmal trägt er tagelang eines ihrer Wäschestücke in der Hosentasche oder spielt mit ihr vor dem Spiegel das "Bis hierher und nicht weiter"-Spiel. Wie dieser Schriftsteller das Hinundherkippen der beiden Geschwister beschreibt, die zwar Mitgefühl für den Bruder aufbringen, aber nach langem Nachdenken immer kleinlauter werden, immer schwankender und sich schließlich für das eigene Erbe und gegen den lästigen Eindringling entscheiden, beweist große literarische Gestaltungskraft. Er zeigt keine Bösewichte, sondern zwei liebenswürdige Menschen, die im entscheidenden Moment nur an sich selbst denken.

Bei alledem kommt Hans-Ulrich Treichel ganz ohne moralischen Kommentar aus. Allerdings gelingt auch diesem Schriftsteller nicht alles. So belasten stellenweise überdeutlich psychoanalytische Versatzpassagen den Text. Ödipuskomplex und Inzestmotiv im Psychogramm der Geschwister könnte man noch hinnehmen. Aber das Bild der "Vagina dentata", das zusammen mit der "bösen Mutter" aus dem Unbewußten des Helden auftaucht, ist dann doch zu prätentiös, die Anspielungen auf die Theorien von Melanie Klein in diesem Zusammenhang wirken geradezu oberlehrerhaft. Auch die Reise nach Ägypten, die Stephan unternimmt, wirft durch ihre Zeigefingerpsychologie Fragen auf. Alles viel zu eindeutig. Den Abstieg in das Innere der Pyramiden, die Suche nach den Grabkammern im Dunkeln und den zwielichtigen Anblick der Sphinx muß man wohl als Rückkehr des Helden in den mütterlichen Schoß und Wiedergeburt des eigenen Ichs lesen. Aber wenn die Verwandlung im Mutterschlund auch noch in einen Beischlaf mit einer älteren Archäologin mündet, die zufällig vor Ort auftaucht, wird die Geschichte vorübergehend doch allzusehr mit bedeutungsschwangerem Ballast beschwert.

Allerdings bleiben solche Abschweifungen inszenierte Showeinlagen des Autors und können dem gelungenen Ganzen nichts anhaben. "Menschenflug" beeindruckt als Geschichte der Forschungsreise eines wankenden Helden zu sich selbst, die sich auf der Folie deutscher Geschichte mehrfach spiegelt. Und das ist so spannend erzählt, daß man den Roman bis zum Schluß nicht einmal aus der Hand legt.

Hans-Ulrich Treichel: "Menschenflug". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 234 S., geb., 17,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.08.2005

König Zufall und seine Staatsstreiche
Tui-Prosa: Sind Unkündbare interessante Menschen? Hans-Ulrich Treichels neuer Roman „Menschenflug”
Stephan ist knapp über fünfzig, Akademischer Rat und in der Midlifecrisis - großer epischer Stoff. Sein Herz stolpert und damit auch sein Leben. Er nimmt ein Sabbatical von seiner Familie, der intelligenten Psychotherapeutin Helen und ihren zwei hübschen, kühlen Töchtern aus erster Ehe. So gerne hätte Stephan einen Satz eigener Töchter, aber in seinem Leben sind selbst die Kinder aus zweiter Hand. In seiner einsiedlerischen Selbstfindungsklause über den Dächern von Berlin-Steglitz besinnt sich der leidenschaftslose Mann aus dem akademischen Mittelbau auf das Ursprüngliche zurück: Woher komme, wohin gehe ich?
Die Antwort auf die letzte Frage liegt in unmittelbarer Sichtweite: Da Stephan in das Alter kommt, in dem sein Vater an einem Herzinfarkt starb, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er schon bald die Kardiologie des Benjamin Franklin-Klinikums von innen kennen lernen wird. Schon jetzt kreist der Rettungshubschrauber wie ein knatterndes Menetekel über seiner Jogging-Strecke am Teltow-Kanal, die ihn vorbeiführt an einem Denkmal für Otto Lilienthal, dem Erfinder des Menschenflugs. Ach könnte man doch nur abheben, heiter durch die Lüfte gleiten, in himmlischer Leichtigkeit! Aber meist reicht es ja doch nur wieder zu einem Flug mit dem Rettungshubschrauber auf Krankenkassenkosten.
Die Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft zwingt unseren Akademischen Rat zur Beschäftigung mit einem lange verdrängten Familientrauma. Stephans Eltern waren Wolhyniendeutsche. Bei ihrer Flucht aus der heutigen Ukraine haben sie ihren ältesten Sohn auf einem Wagen des Flüchtlingstrecks zurückgelassen, als sie vor russischen Truppen in den polnischen Wald flüchteten. Dieser verlorene Sohn war die traumatische Leerstelle, um die herum Stephans Familie organisiert war. Die fünfköpfige Familie wurde vor allem durch einen Schuldkomplex zusammengehalten. Darüber hat Stephan einen Roman geschrieben. Genau wie Hans-Ulrich Treichel, der in seinem Roman „Der Verlorene” eben dieses Thema behandelt hat.
Nun hat Treichel das Sequel zu seinem 1998 erschienenen Porträt der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft geschrieben. Sein Akademischer Rat tastet sich linkisch an den verlorenen älteren Bruder heran. Lieblos, ohne wirkliches Engagement, weil gerade sowieso nichts anderes zu tun ist in seiner Steglitzer Selbstfindungsklause, macht er sich auf die Suche nach Findelkind 2307. An dieser Halbherzigkeit krankt nun auch Treichels Roman, der lustlos zwischen Vertriebenendrama und Midlifecrisis-Klamauk schwankt. In drei stilistisch farblos dahererzählten Teilen mischt Treichel deutsche Vergangenheitsbewältigung (geht immer) mit den menschlichen, allzu menschlichen Betrachtungen eines Mannes von fünfzig Jahren. Zwischendurch gibt es eine Runde Sex in Ägypten vor dekorativ vor sich hinbröselnden Pyramiden mit aufreizend durch den Pool kraulenden Damen aus dem akademischen Oberbau.
Sowieso, Ägypten! Ein Drittel dieses Vertriebenen-Romans spielt nicht etwa am Dnjepr, sondern am Nildelta, was Treichel Gelegenheit gibt, eine Grabkammer voller lebloser Reiseeindrücke in seinem Text abzuladen. Sechzig Seiten Tui-Prosa in einem Flüchtlingsdrama. Und das Kamel und die Feluke und der Bettelbub. Natürlich soll das irgendwie Stephans Flucht vor der eigenen bedrohlichen Vergangenheit in die unverfängliche Menschheitsvergangenheit zeigen. Aber diese unmotivierte Urlaubsprosa zeigt nicht viel mehr als die seitenschinderische Flucht des Romanciers vor seinem eigentlichen Thema. So bekommt das Genre Flüchtlingsdrama eine ganz neue Bedeutung.
Stephans hervorstechendste Eigenschaft ist seine Unkündbarkeit. Er ist rundum abgesichert, nichts kann ihn wirklich berühren. Seine Nachforschungen stellt er eher aus Langeweile als aus einer obsessiven Notwendigkeit heraus an. Nur die Panik vor einem drohenden Herzinfarkt vermag diesem vollimprägnierten Charakter noch zwei, drei Extrasystolen zu entlocken. Nun ist ein solch Unkündbarer, der dem Leben selbst schon gekündigt hat, nicht per se eine uninteressante Figur. Im Gegenteil. Doch Treichel beschreibt das Schicksal seines Mittelbau-Menschen leider in einer blassen und zu scherzhaftem Geplänkel neigenden Sprache, die in ihren besten Momenten Leitartikel-Niveau erreicht. Seite um Seite unterfordert der Autor seine Leser mit all den vermeintlich heiteren, aber leider nur faden psychischen und physischen Midlifecrisis-Zipperlein eines Übersättigten.
Treichel ist bemüht, seine Belanglosigkeiten durch forcierte dramaturgische Konstruktionen zusammenzuhalten und ihnen durch gezwungene motivische Verklammerung einen pseudo-literarischen Anstrich zu geben. So gerät Stephan am Ende seiner Suche zufällig in ein Wolhyniertreffen in Uelzen. Wie das? Weil Uelzen gleich neben Celle ist, wo Stephan das Findelkind 2307 ausfindig gemacht hat, und der dortige Hundertwasserbahnhof den Helden an die wolhynischen Erdhütten erinnert. Man kommt aus dem Schmunzeln über so viel heiter-luftige Ironie nicht mehr heraus. Ach könnte der „Menschenflug” doch nur fliegen! All die wenig überraschenden Überraschungen und mal großen, mal kleinen Staatsstreiche von König Zufall lassen diesen vermeintlich heiteren Roman endgültig in pure Albernheit umkippen.
Das Porträt von Stephans Gefühlswelt beschränkt sich auf stereotype Vulgärpsychologie. Der Mann hat ein Mutterproblem, so viel steht fest: „Vielleicht hatte sie ihn ein wenig zu fest in die Arme geschlossen. Zumindest manchmal. Dann aber so fest, dass er keine Luft mehr bekam.” Die Mutter wollte nämlich den verlorenen Sohn aus dem verbliebenen herauspressen. So aber bekam Stephan Asthma und jenes fatale Herzdrücken, das ihn eines Tages noch in die kardiologische Notaufnahme bringen wird. Das Psycho-Consulting-Team der Lindenstraße schmiedet plausiblere Neurosen.
Treichel hat mit der kardiologisch bedingten Lebenskrise seines Anti-Helden ein durchaus tragfähiges Flüchtlingsdrama verwässert, was allerdings nicht weiter tragisch ist, denn schließlich hat er es schon in dem „Verlorenen” erschöpfend abgehandelt. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, Treichel habe mit diesem Sequel nur auf die sichere Bank setzen und noch einmal an den Erfolg seines „Verlorenen” anknüpfen wollen. Stephans Überlegungen zu seinem Roman legen eine solche Vermutung nahe: „Das Buch hatte seine Leser gefunden, es war in mehrere Sprachen übersetzt und sogar zum Prüfungsstoff für die Sprachexamina der Goethe-Institute ausgewählt worden.” Hans-Ulrich Treichel ist sogar zum Professor für das Deutsche Literaturinstitut Leipzig ausgewählt worden. So geht das in diesem Land, wenn man als Autor vor allem Arbeitsmaterial für den vergangenheitsbewältigenden Deutschunterricht produziert. Treichels neuer Roman ist exakt die Art von Text, die man aus dem akademischen Oberbau eines Literaturinstituts erwartet: Ohne jede Dringlichkeit, satt, abgesichert, voller akademischer Formalismen und hanebüchener dramaturgischer Kniffe, lächerlich überkonstruiert - irgendwie unkündbar.
STEPHAN MAUS
HANS-ULRICH TREICHEL: Menschenflug. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 234 S., 17,80 Euro.
Sex in der Wüste für den Akademischen Rat
Foto: photothek
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als Höhepunkt des Buches identifiziert Walter van Rossum die Stelle, an der der Held Stephan in Ägypten von einer attraktiven älteren Archäologin "umgepflügt" wird. Obwohl sich Rossums Zusammenfassung des Inhalts von Hans-Ulrich Treichels Roman "Menschenflug" recht uninspiriert liest, ist der Rezensent dann überraschenderweise des Lobes so voll, dass er geradezu überschäumt. Eine "hinreißende Sinnstiftungskomödie" sei dieses Buch, ein "gekonnt-gewollt unauffälliger Roman", und wer keinen Sinn hat für die Klasse und den Witz dieses Werkes, so van Rossum apodiktisch, der sei für die Welt des Humors überhaupt verloren. Dieses laudatorische Crescendo steigert sich in eine hymnische Anrufung des "spöttisch-melancholischen Buches": Wer bei der Lektüre die vermutlich hypochondrischen Herzschmerzen des Helden Stephan - 52 Jahre alt, Mittelstandakademiker, von einer missratenen Kindheit und Jugend behelligt -, nicht nachzuempfinden vermag, der - da kennt van Rossum kein Pardon - "ist einmal zu viel amputiert".

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