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Meßmers Reisen ist eine Selbst- und Welterkundung von geradezu bestürzender Radikalität. Was der Autor hier vorstellt, ist nichts weniger als eine Art Autobiographie der 4. Dimension. Er bezieht nicht den Schutzraum einer erzählten Geschichte, sondern erfindet sich die Figur Meßmer, an die er sich nachdenklich, aggressiv, erkenntnissüchtig wendet; immer wieder wechselt er dabei vom "er" zum unverstellten "ich", das sich weder Maske noch Schonung gönnt. Walser läßt seinen Meßmer unterwegs sein, etwa auf Lesereisen im Deutschland der Jahre 1989/90 und danach, als Gastprofessor in Kalifornien,…mehr

Produktbeschreibung
Meßmers Reisen ist eine Selbst- und Welterkundung von geradezu bestürzender Radikalität.
Was der Autor hier vorstellt, ist nichts weniger als eine Art Autobiographie der 4. Dimension. Er bezieht nicht den Schutzraum einer erzählten Geschichte, sondern erfindet sich die Figur Meßmer, an die er sich nachdenklich, aggressiv, erkenntnissüchtig wendet; immer wieder wechselt er dabei vom "er" zum unverstellten "ich", das sich weder Maske noch Schonung gönnt.
Walser läßt seinen Meßmer unterwegs sein, etwa auf Lesereisen im Deutschland der Jahre 1989/90 und danach, als Gastprofessor in Kalifornien, als jemand, der seine Erfahrungen nicht geringschätzt und doch mit schärfster Neugier alles und sich selbst in Frage stellt - eben, um neue Erfahrungen zu machen jenseits des Meinens.

Der erste Satz heißt: »Phantasie ist Erfahrung.« Und der letzte Satz heißt: »Alles, was ich mir sagen kann, ist nichts gegen das, was ich mir nicht sagen kann.«
Mit Meßmers Reisen knüpft Martin Walser an sein 1985 erschienenes Buch Meßmers Gedanken an (und führt es fort), über das die Kritik durchgehend nur in Superlativen sprach.
Autorenporträt
Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg/Bodensee, lebt heute in Nußdorf/Bodensee. 1957 erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, 1962 den Gerhart-Hauptmann-Preis und 1965 den Schiller-Gedächtnis-Förderpreis. 1981 wurde Martin Walser mit dem Georg-Büchner-Preis, 1996 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und 1998, dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels und dem Corine - Internationaler Buchpreis; Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten 2008 ausgezeichnet. 2015 wurde Martin Walser der Internationale Friedrich-Nietzsche-Preis für sein Lebenswerk verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2003

Selbstbewusstes Flügelschlagen in der 1. Klasse
Ein Leitartikel gegen das Meinung-Haben: Martin Walsers gesammelte Kalendersprüche „Meßmers Reisen”
Martin Walser, als Erzähler ein unerschöpflicher Wortemacher, Dauer- und Bauchredner, hat immer wieder darauf bestanden, dass die Literatur in jedem einzelnen ihrer Sätze an ihr Ziel gelangen müsse. Nicht der Umweg über eine Struktur, eine Erzählhaltung mit ihren Balancen und Kontrastmöglichkeiten soll solchen Sätzen dann ihr Gewicht geben, sondern unmittelbare Überzeugungskraft. Der gern einmal tausendseitige Walser hat über Kafkas kleine Formen promoviert, liebt den versponnenen Prosalyriker Robert Walser und ist in der Philosophie eher bei den Systemzerstörern Nietzsche und Kierkegaard zu Hause als bei Hegel oder Plato. Und gelegentlich erfüllt er sich selber diese Sehnsucht nach dem gedrungenen oder abgesplittert einschneidenden Wort und gibt ein Sentenzenbuch heraus. 1985, mitten in den depressiven achtziger Jahren, machte das Bändchen „Meßmers Gedanken” großen Eindruck durch den Leidenston, mit dem einer der zornigen Männer der frühen Bundesrepublik seinen ersten Altersschub aufs Illusionsloseste protokollierte.
Jetzt, fast zwei Jahrzehnte später, hat Walser erneut seine Notizbücher durchforstet und den bockig-ernüchterten, oft kaustisch verzweifelten und brutal offenen Herrn Meßmer wieder auferstehen lassen. Meßmer ist Walser, beziehungsweise fast; ich ist ja immer auch ein anderer, und so lässt sich die freimütigste Introspektion dann eben doch nur mit einem Bisschen Künstlichkeit ins Werk setzen. Dieser Meßmer ist viel unterwegs, und zwar genau seit der Zeit, in der sein erstes Gedankenbüchlein herauskam: Wir erleben mit seinen Augen noch kurz die DDR vom Interzonenzug aus, Ronald Reagan geistert durch die Zeilen, der ICE hieß noch einfach IC, und Meßmers Erfahrungen als Gastprofessor an der University of California in Los Angeles spiegeln eine Postmoderne, die inzwischen schon einigermaßen angeschimmelt wirkt. Auch an Walsers letzten Kampfesstürmen hat er noch Anteil, manche Motive von dessen Sonntagsrede in der Paulskirche geistern durch die Notate. Vermutlich aber ist solche historische Einordnung dieser Gedankensplitter ganz gegen die Intention von Walser/Meßmer.
Was lesen und lernen wir hier? Es gibt den ganz alten schönen Kalenderspruch, den man in der U-Bahn anheften könnte, wenn mal die Werbeflächen nicht vermietet wurden: „Solange man noch unglücklich sein kann, kann man auch noch glücklich sein” – das ist nicht von Marie von Ebner-Eschenbach, sondern echter Meßmer. „Wenn es einem schlecht geht, denkt man an das Leben. Wenn’s einem gut geht, an den Tod. Die Waage.” Daneben steht, ähnlich einleuchtend, der nicht ganz so zeitlose Kalenderspruch der immer noch bürgerlichen modernen Welt: „Die Herren in der Ersten müssen meistens arbeiten, sonst könnten sie sich die Erste nicht leisten.” „Nichts wird so hoch bezahlt wie Selbstbewusstsein.” Oder der Nietzsche-Kalenderspruch: „Wir haben den Befehl zu leben und müssen so tun, als gehorchten wir gern.” Oder der Deutschland-Kalenderspruch: „Wer sich gegen Schuld nicht wehrt, empfindet sie nicht.” Ganz kühn, für Benjamin-Leser: „Die Flügel der Geschichte schlagen unsere Lebensluft. Flügel hat die Geschichte, einen Körper nicht. Sie ist nichts als Flügelschlagen.” Hm. Eher beeindruckend als zwingend.
Wo das Alter herannaht, ist bekanntlich noch einmal viel vom Sex die Rede. Auch Meßmer gibt Erfahrungen weiter: „Schön, wenn man beim Ficken zu zweit ist.” „Tatsächlich ist die Identität am wenigsten problematisch beim Geschlechtsverkehr.” „Soll eine Frau, auch wenn ihr nicht danach ist, so tun, als wolle sie um ihretwillen ihren Mann verführen? Sklavenleistung. Die Ehe als eintöniges Bordell.” Das sind so Sätze, von denen wir uns im Zusammenhang eines Romans vielleicht doch reicher beschenkt fühlen würden, was auch für diese Beobachtung gilt: „Wie erschöpfte Vergleiche kommen die Frauen und Männer aus dem Kaufhaus heraus. Die Farben lügen. Der Wind ist gekauft.” Natürlich fehlt bei so viel Herumreisen auch die Heimatlyrik nicht: „Bäume im Nebel, Satzzeichen eines verloren gegangenen Textes. Man fährt an Gedichten vorbei.”
Die Freude der Verzögerung
Gedankenbücher belohnen ihre Leser mit dem Kopfnicken, das sie hervorrufen. Wie beim Sex macht hier die Verzögerung die meiste Freude: „Die Unkenntnis ist immer größer als die Kenntnis.” Das ist mit goethescher Bedächtigkeit gesagt, und überhaupt liegt Walser die vorschnelle Pointe des Aphoristischen nicht, sondern eher das Pathos der Existenzerhellung. Die Antisystematik, die in der kleinen Form angelegt ist, hat doch einen Kern, Walsers tiefes Misstrauen gegen jede Form der Transzendenz. Ein mächtiger Antrieb sind wohl die eigenen schlechten Erfahrungen mit dem Ideologischen, weil es absieht vom unverrechenbar Besonderen des Lebens und weil es das Zuhören im Gespräch so stört. Walser nennt das Meinung.
Ein paar verstreute Sätze bilden aber gerade hier doch etwas wie ein Gedanken-Gebäude. „Transzendenz, die wirkliche Erbsünde. Säkularisiert tritt sie auf als Universalismus.” „Mehr Erfahrung, als auf einen Standpunkt geht, macht man schnell.” „In mir gibt es keine Einigung. Sobald in mir eine Meinung auf sich aufmerksam macht, leuchtet in mir ihr Gegenteil auf. Es ist wie Notwehr.” „Nichts, was mir wichtig ist, ist links oder rechts.” Das ist mehr als jene Beeindruckbarkeit, die einen gern die Meinung haben lässt, die man als letzte gehört hat. Das ist der Widerspruch gegen eine ganze Tradition abendländischer Metaphysik: „Dass es nichts mehr gäbe als das, was man sieht. Von mir aus noch: jeweils. Darauf möchte ich die gesündeste Religion gründen, die je gegründet wurde”, so hebt eins der längsten Notate dieses Büchleins an. „Die Gegenwart entscheidet darüber, was für eine Vergangenheit und wieviel davon ich gerade gebrauchen kann.”
Auch diesen Graswurzel-Einspruch gegen die Systeme und ihre Hoffahrt, gegen Religion und Gewissen, gegen das Meinen und seine Sicherheiten hat Walser schon anderwärts entwickelt. Doch nicht einmal hier, in der allerpersönlichsten Brechung, wird er uns den Eindruck ausreden, dies sei auch wieder Meinung. Thomas Mann, den Walser nicht mag, hat in den „Betrachtungen eines Unpolitischen” ein höchst politisches Buch geschrieben und sich später so revidiert, wie es jedenfalls Herrn Meßmer nicht gegeben ist. Walsers Feldzüge gegen das Meinen haben Leitartikelschlagkraft und werden von vielen heftig beklatscht: Ganz meine Meinung! Doch die Welt ist schlecht, und es gibt kein Leben jenseits der Meinung. Ein gelassenerer Dichter reimte: Lass mir meine Meinung, ich lass dir deine Deinung.
GUSTAVSEIBT
MARTIN WALSER: Meßmers Reisen. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 191 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Wer sich ins Subjekt versenkt, kommt darin um
Kündigung statt Verkündigung: Der Aphoristiker Martin Walser schickt einen Strohmann auf Reisen / Von Hans-Jürgen Schings

Meßmers Reisen" knüpfen an "Meßmers Gedanken" von 1985 an und präsentieren den sprachlichen Alleskönner Martin Walser als hochkarätigen Aphoristiker. Das kommt nicht von ungefähr, hat doch die aphoristische Form besondere Vorteile: Aphoristiker "plappern" und "plaudern" nicht. Und Walser zeigt, daß er über das gattungsspezifische "génie de la brièveté" verfügt, mit Lust und oft genug mit Glanz. "Der geradezu jubelnde Zugriff, sprachlich, wenn es um Genauigkeit beziehungsweise Ausdruck geht."

Das kann er; das einzige Mal, wo Meßmer sich lobt, ist er im Recht. Es funkelt und blitzt in der künstlichen Ökonomie des knappsten Raumes. Und dies, obwohl Walser den apodiktischen Entlarvungston der alten Moralisten, der gern Verachtung und Heiterkeit paart, nur selten anschlägt. Dazu ist Meßmer, bei allem Witz, nicht stark und hochfahrend genug, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu anfällig für die eigenen Nöte. Jouberts "Il faut cacher sa sensibilité" ist deshalb seine Sache nicht. Meßmers Aphorismen sind empfindlich und subjektiv, lassen ihre Pointen nicht brillieren, verbergen ihre Aggressivität. Wenn er ins Schwarze trifft, ist es oft genug die eigene Schwärze. Doch auch dafür ist die aphoristische Schreibweise, zumindest seit Lichtenberg, zuständig.

Denn der Feind des Aphorismus ist seit je das System und sein Partner die ganz individuelle Erfahrung. Und so verlaufen auch hier die Fronten. Walser sagt nicht "System", sondern "Meinung" und "öffentliche Meinung" oder auch "adressierte Sprache" und "Verkündigung" oder kurzum "Universalismus". Schon bei Chamfort ist zu lesen: "Es gibt Zeiten, wo die öffentliche Meinung die schlechteste aller Meinungen ist." Von Schopenhauer übernimmt Meßmer den Satz George Berkeleys: "Few men think, but all will have opinions."

"Die öffentliche Meinung als die neueste Kirche, der letzte Gott", weiß Meßmers Schriftstellerkollege im Roman "Ohne einander" (1993). Der "Gott Öffentlichkeit" habe die "größten Chancen, seine Vorgänger zu übertreffen", wiederholt Meßmer, und er sagt sich, auch sonst auffällig theologiekritisch gestimmt, los von diesem Gott, Schlag um Schlag: "Was willst du machen, wenn sich jeder außer dir für den Sohn Gottes hält." - "Verkündigung. Tritt heute auf als Theorie . . . Sich aufplustern mit etwas, das mehr ist als man selbst . . ." - "Die Geringfügigkeit unserer eigenen Erfahrung führt manchen dazu, sich universalistisch zu geben. Je beschränkter unsere Erfahrung ist, desto allgemeiner wollen wir zuständig sein." Am Ende der Sequenz schließlich: "Nichts, als was ihn selber sein läßt. Das Gegenteil von Verkündigung. Entkündigung. Oder einfach: Kündigung." Das widerständige Losungswort ist gefunden.

Und im Aphorismus hat solche Kündigung ihr angestammtes Medium. Das aphoristische Selbstgespräch jedenfalls entgeht dem performativen Widerspruch, der die Paulskirchen-Rede ins Zwielicht rückte. Wohl aber läßt es das Ausmaß des Öffentlichkeitshasses spüren, der im höchst umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" hervorgebrochen war. Wie Michael Landolf sich dort auf das denkbar entlegene Gebiet von Mystik und Geheimwissenschaften verlegt, um ein Buch über die Geschichte der "Ichwichtigkeit" zu schreiben, so sucht der Ketzer Meßmer Zuflucht vor "Vokabularquirlen" und öffentlichen Tribunalen, um in der kleinen Form und in der kleinen Erfahrung nichts als er selbst sein zu wollen. Er folgt damit dem Gesetz des Genres. "Nichts, was mir wichtig ist, ist links oder rechts", auch so kann man es formulieren.

Sätze, die mit Ich anfangen, solle man streichen, hatte Meßmer früher erklärt, und er meinte es weniger höflich denn sarkastisch. Jetzt ist das Ich, meist auch grammatisch, immer präsent und streicht den Fiktionsvorbehalt des Romans durch. Kaum noch kann Meßmer als Versteck dienen. Erfahrungen wollen in eigener Sache und auf eigenes Risiko gemacht werden. Sogar eine kleine Philosophie stellt sich dafür ein, ein provokanter Impressionismus. Die "gesündeste Religion" heißt sie, weil sie ohne Transzendenz, ohne Geschichte, ohne Lehre, ohne Standpunkt auskommt: "Die Welt ist, was man gerade sieht."

Das sind immer auch Abwehrreaktionen von trotziger und zunehmend beängstigender Konsequenz. Betreiben sie noch "Selbst- und Welterkundung", wie der Klappentext vorschlägt, ist hier womöglich die Liebe zum Hiesigen zu Hause, wie Walser gelegentlich mit Nietzsche sagt? Oder läuft das nicht schon auf Weltverengung, ja Weltverlust zu? Meßmers Existenzraum wird schmal. Mehr noch: Ein Autor kündigt, samt zugehörigem "Richtlinieneifer", die Wertetafel, die gut ein halbes Jahrhundert über die deutsche Nachkriegsliteratur gewacht hatte.

Ein Beben durchläuft dieses Buch, auch wenn es nicht zum Ausbruch kommt. Verletzungen bilden den cantus firmus, sie sind gut bekannt. Niederlagen im Fernsehen kommen vor, natürlich "der" Kritiker und die "Opernfoyersprache der bürgerlichen Kritik für die Krankheitsberichte anderer", nicht weiter benannte "Feinde" auch, Kafka ähnelnde Albträume gar von Schlägern und ehrenwerten, ja prominenten Erschießungskommandos. Für Larmoyanz bleibt kein Raum, auch davor schützt die Form, glücklicherweise, denn welcher Leser hätte noch Lust, vom ewigen Kampf mit dem kritischen Widersacher zu hören? Entlastung bietet zudem ein willkommener Szenenwechsel - das ausgedehnte satirische Intermezzo, das den (allzugern) reisenden Meßmer als Gastprofessor nach Los Angeles versetzt. Sein Witz entspannt sich und genießt die Chancen, die ihm die "Lächel-Society" einer amerikanischen Universität zuspielt. Ein paar hübsche Party-Anekdoten, Bonmots am Kaffeeautomaten, ein paar Geplänkel mit der leidigen "Biopflicht", viel mehr kommt nicht heraus: "You may never be able to go so far for so little."

Nach der nicht eben geglückten Erholungspause freilich zeigt Meßmers Existenzkurve wieder und entschieden nach unten. "Ich möchte schneller stürzen", notiert er (gleich zweimal). Seine Leiden überspringen die öffentlichen Bezugspunkte und werden grundsätzlich. "Unsere Empfindungsfähigkeit ist spezialisiert auf Schmerz. Etwas anderes läßt sich gar nicht empfinden." Sicher weiß Walser, daß ähnlich schon Goethe die Falle für jeden Selbstbeobachtungsfuror beschrieben hat: Wer sich ins Subjekt versenkt, kommt darin um. In Meßmers Worten: "Ich möchte tauschen mit einem Toten, der leben möchte." Das flüstert derselbe Meßmer, der vor "Wohlgesonnenheit" und Verehrungsbereitschaft schier überströmen und zu den anrührendsten Weltzustimmungsbildern finden konnte: "Jeder Vogel bohrt mit seinem Gesang nach Gold in mir."

"Ich vertraue. Querfeldein" hatte Walser im Jahr 2000 eine Essay-Sammlung überschrieben. Das alte "Welt- und Lebensvertrauen", so steht zu befürchten, ist endgültig dahin. Der Schriftsteller Meßmer schreibt sich in die altehrwürdige Gegen-Sozietät der Melancholiker und Saturniker hinein; der Saturnismus-Experte Hans Lach war ihm darin vorangegangen. Opposition und Verzweiflung werden eins. "Jemand hat uns das Licht weggetrunken", heißt es. Manchmal versammeln sich lyrisch gleich alle schwarzen Begriffe: "Willkommen Schwärze und Schwere, / herein Lichtlosigkeit und Sturz, / tänzerisch führt sich die Leere auf, / Sauerstoff gewährt das Nichts." Am Ende regiert die Schwärze in jedem nur möglichen Sinn. Aus Kierkegaards "Entweder-Oder" notiert sich Meßmer: "Der Unglückliche ist allezeit abwesend von sich selbst, niemals sich selber gegenwärtig." Der Befund steht bei Kierkegaard in einem Wettstreit um das Maximum an Unglück, betitelt "Der Unglücklichste". Man darf nur hoffen, daß Meßmer, trotz einschlägiger Indizien, diese Konkurrenz nicht gewinnt. Solange er schreibt, solche Aphorismen schreibt, ist er nicht verloren.

Martin Walser: "Meßmers Reisen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 191 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Anfangs preist Iris Radisch Walsers Notatensammlung geradezu überschwänglich, sie wirkt erfrischt und energiegeladen nach diesem Urlaub vom literarischen Alltag. "Endlich einmal: keine aufgedonnerte Story, kein Dekor, keine Kolportage und keine gelben Pollunder." Radisch schätzt den Minimalismus des Buches, Walsers selbstverordnete Leichtigkeit und seinen Mut, noch einmal "mit so gut wie nichts" neu anzufangen. Aber ganz könne sich Walser in der Porträtskizze seines schon 1985 eingeführten Alter Ego Meßmer nicht von dem alten Motiv der Selbsterniedrigung lösen, das der Rezensentin mittlerweile "schrecklich routiniert" vorkommt, ja "Bundesbahn-kompatibel". Ein letzten Endes vertrauter Walser also, in ungewohnt reduziertem Gewand einer fragmentarischen Sentenzensammlung.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Meßmers Reisen ... ist ein urkomisches Buch. ... Das ihm zugrundeliegende Selbstgefühl, die Situation, nicht mit sich identisch zu sein. Und wie Walser aus dieser mittlerweile für die Moderne klassischen Situation Funken schlägt, das zeigt ihn auf der Höhe seines Könnens.« Tilman Krause DIE WELT 20030726