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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2002

Wer hat auf die Quadriga geschossen?
Michael S. Cullen klärt ein altes Rätsel, Otto Sander leiht seine Stimme
Michael S. Cullen, der amerikanische Berliner, ist ohne Zweifel der beste lebende Kenner der Geschichte des Brandenburger Tors. Es dürfte eine Kuriosität im wissenschaftlichen Publikationswesen sein, dass es ausgerechnet ein Hörbuch ist, in dem schon wieder unbekanntes Quellenmaterial und neue Tatsachen erstmals vorgelegt werden. Diese 145 Minuten übertreffen an Reichhaltigkeit alles, was es gedruckt über die Geschichte des Brandenburger Tores und der Schadowschen Quadriga zu lesen gibt.
So konnte Cullen klären, wer 1945 die Quadriga zerschossen hat: Es war ein Wehrmachtsoffizier, der auf die am Tor schon wehende Rote Fahne feuerte – womit die Symbolgeschichte dieses 1806 von Napoleon geraubten, 1814 in einer nationalen Jubelprozession zurückgeführten, von Schinkel überarbeiteten Meisterwerks zu einem angemessen signifikanten Ende kam: in einem Akt der Selbstverstümmelung, der des Regimes würdig war, das Deutschland in den Abgrund führte. Die heutige Quadriga – aufgepasst, Schlossgegner! - ist eine Nachkriegskopie, in Kupfer getrieben nach einem Gipsabguss.
Die wichtigsten neuen Quellen fand Cullen in Paris, wo die Quadriga 1807 bis 1814 auf ihre Bestimmung in einer neu zu schaffenden imperialen Hauptstadtlandschaft des Napoleonreiches wartete. Eines der Quadriga-Pferde diente bei der Wende von 1814 sogar als Form für einen Gipsabguss, auf dem König Heinrich IV. am Pont Neuf paradierte, um seinen Nachfahren, den restaurierten König Ludwig XVIII., zum Einzug in Paris zu begrüßen.
Was im Buch die Abbildungen, das sind im Hörbuch die Tondokumente. Sie demonstrieren einige der dramatischsten Episoden dieses zum Symbol gewordenen Berliner Prunktores: den Fackelzug der Nazis bei der Machtergreifung, den 17. Juni, den Mauerbau 1961 und, immer wieder bewegend, die Maueröffnung 1989. Mit Otto Sander hat Cullen einen Sprecher gewinnen können, der diese Parallelgeschichte zum Gang der deutschen Nation durch das Zeitalter der Revolutionen von 1789 an mit angemessen bekümmerter Stimmlage erzählt. Sander sollte noch mehr Geschichtsbücher vorlesen, schließlich wird es Hörer geben, die im Autostau nicht immer nur Romanen lauschen wollen.
Für Cullen ist das Tor ein Symbol der Freiheit, auf das die Deutschen stolz sein dürfen, aber er verschweigt auch nicht den obrigkeitsstaatlichen und militaristischen Missbrauch, der damit getrieben wurde: Kaiser Wilhelm II. ließ es zum Empfang des österreichischen Kaisers im Jahre 1900 vergolden, und Hitler nutzte es als Kulisse von militärischen Drohparaden.
Darf man überhaupt von Missbrauch sprechen? Man darf, wenn man die kunsthistorische Formensprache und damit die ursprüngliche Bedeutung des Tores in seiner Entstehungszeit analysiert: den nachfriderizianischen Versuch, aus athenischem Stadttor, absolutistischem Ehrenhof, Siegeszeichen und Friedensfeier eine Synthese von Fürst und Vaterland zu erschaffen. Merkwürdigerweise aber verliert Cullens Hörbuch, so genau es die Entstehung rekonstruiert, zu seiner ästhetischen Gestalt kein Wort. Wer dieses Buch angehört hat, der betrachte hinterher das beigelegte alte Bild: Das Tor ist schön, vielleicht überhaupt das schönste Bauwerk Berlins. Ohne diese Schönheit hätte es seine Geschichte wohl schwerlich überlebt.
GUSTAV SEIBT
MICHAEL S. CULLEN: Das Brandenburger Tor und die Quadriga. Sprecher: Otto Sander. Hertzfrequenz Hörverlag, St. Augustin 2001. 145 Min., 22,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Rezensent Gustav Seibt von diesem Hörbuch. Das liegt nicht nur daran, dass es "eine Kuriosität im wissenschaftlichen Publikationswesen ist, dass es ausgerechnet ein Hörbuch ist, in dem schon wieder unbekanntes Quellenmaterial und neue Tatsachen erstmals vorgelegt werden". Seibt gefällt auch die Art und Weise, wie Otto Sander dieses Geschichtsbuch vorliest, "mit angemessen bekümmerter Stimmlage" und wünscht sich deshalb noch mehr von Sander vorgelesene Geschichtsbücher. Sein einziger Kritikpunkt ist, dass auf die "ästhetische Gestalt" und die "kunsthistorische Formensprache" des Brandenburger Tor mit keinem Wort eingegangen wird. Von dieser Einschränkung abgesehen findet Seibt aber, dass Autor Michael S. Cullen mit diesem Hörbuch in 145 Minuten an "Reichhaltigkeit" alles übertrifft, was es "gedruckt zum Thema" zu lesen gibt.

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