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Hat Schroth seinen Freund Thilo getötet?
"Nicht gleich übertreiben, hätte Thilo gesagt, wenn er sich so liegen gesehen hätte, dort, unter seiner Skulptur in einer eher unnatürlichen Haltung. Er hätte, wenn er sich so liegen gesehen hätte, selbst nicht gewusst, ob er noch lebte oder nur eine Haltung angenommen hatte, die an Leben erinnert, wenn auch vergehendes, die Leben letztlich nur imitierte."
Jahrelang hat Schroth auf Thilo gewartet. Aus der untergegangenen DDR kommend, wollten beide nach Amerika, doch nur Thilo hat es geschafft, als Künstler dort Fuß zu fassen. Schroth ist in
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Produktbeschreibung
Hat Schroth seinen Freund Thilo getötet?

"Nicht gleich übertreiben, hätte Thilo gesagt, wenn er sich so liegen gesehen hätte, dort, unter seiner Skulptur in einer eher unnatürlichen Haltung. Er hätte, wenn er sich so liegen gesehen hätte, selbst nicht gewusst, ob er noch lebte oder nur eine Haltung angenommen hatte, die an Leben erinnert, wenn auch vergehendes, die Leben letztlich nur imitierte."

Jahrelang hat Schroth auf Thilo gewartet. Aus der untergegangenen DDR kommend, wollten beide nach Amerika, doch nur Thilo hat es geschafft, als Künstler dort Fuß zu fassen. Schroth ist in Frankfurt hängengeblieben, hat eine Promotion geschmissen und arbeitet als Fensterputzer - und wartet. Und wartet. Und wartet.

Schroth sind seine Bojen abhanden gekommen, die auf dem Fluss des Lebens Orientierung geboten hätten. Nun fließt alles, Erinnerungen, Lebensmodelle, defekte Muster.

Als Schroth rein zufällig von Thilos Rückkehr nach Europa erfährt, schlägt alles über ihm zusammen. Er manipuliert eine von Thilos Installationen, eine große Stahlskulptur. Thilo wird wahrscheinlich tödlich verletzt, und Schroth kehrt zu seiner Mutter nach Chemnitz zurück, von wo er seine Geschichte erzählt.
Autorenporträt
Jan Kuhlbrodt, geboren 1966 in Chemnitz, lebt als Autor und Herausgeber in Leipzig. Er studierte Philosophie, Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaften in Leipzig und Frankfurt/Main sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Jan Kuhlbrodt hatte verschiedene Lehraufträge und Gastdozenturen für Literatur und Kreatives Schreiben inne, aktuell am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war Redakteur bei EDIT und Ostragehege und betreibt den Blog Postkultur. Von ihm erschienen mehrere Prosa- und Lyrikbände, er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. »Souverän wandelt Jan Kuhlbrodt zwischen narrativen und essayistischen Passagen und erweist sich dabei als Autor, der trotz hohen Reflexionsniveaus mit Leichtigkeit, Melancholie und Selbstironie erzählen kann.«
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2017

Einstürzende Stahlbauten
Jan Kuhlbrodts Roman "Das Modell" erkundet das Verhältnis von Zufall und Fall

Wenn ein Mann den Kopf über die Schulter dreht, lockert er dann seine Nackenmuskulatur, oder dreht er sich nach demjenigen um, der ein paar Schritte hinter ihm geht? Wenn eine Stahlskulptur umfällt und den Künstler erschlägt, hat der Ausstellungsbesucher sie dann gestoßen oder sie nur nicht rechtzeitig aufgefangen, als sie aus dem Gleichgewicht geriet? Jan Kuhlbrodts schmaler Roman "Das Modell" ist eine spielerische Reflexion über die Deutungsmöglichkeiten von Bewegungen, über das Verhältnis von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, Fall und Zufall, von Feststellung und Vorstellung, von Passivität und Aktivität, Stillstand und Bewegung.

Seit der Schulzeit verband Thilo und Schroth, den Ich-Erzähler, eine ungleiche Freundschaft: Thilo ist der künstlerisch Begabte, Kreative, Schroth derjenige, der immer ein paar Schritte hinter dem Freund hertappt und sich darauf verlegt, kunsttheoretische Bücher zu lesen und für den Freund zu exzerpieren. Eine gelungene Symbiose, meint Schroth. Was Thilo denkt, erfahren wir nicht, längst hat er den gemeinsamen Traum verwirklicht, ist nach Amerika gezogen und reüssiert dort als Künstler von überdimensionalen Stahlskulpturen. Dass auch Schroth hätte aufbrechen, Frankfurt am Main verlassen, einen Weg einschlagen können, darauf kommt er nicht. Er wartet, dass Thilo ihn nachholt. Oder sich zumindest bei ihm meldet. Aber nichts dergleichen geschieht.

Schroth verharrt, reglos geradezu, als hätte nur der vorangehende Thilo ihn in den Jahren zuvor in Bewegung gehalten. Das Bafög läuft während des Wartens genauso aus wie das Soziologiestudium, schließlich ist Schroth gezwungen, sein Geld als Fensterputzer zu verdienen. Nur langsam dämmert ihm - der anderen die Sicht freiwischen soll -, dass sein Blick auf das eigene Leben, wenn nicht verstellt, so doch zumindest verzerrt sein könnte. War das überhaupt Freundschaft, was ihn mit Thilo verbunden hat? Oder nur "eine zufällige Begegnung, den Gesetzen der Physik geschuldet, die wir so lange vor uns hin formulieren, bis sie einen Sinn ergibt, eine Bedeutung erhält, eine Funktion"?

Als Schroth Plakate entdeckt, die eine Ausstellung Thilos in Frankfurt ankündigen, erlischt der letzte Funke der Illusion: Der vermeintliche Freund meldet sich auch jetzt nicht. An diesem Punkt, mit dem Jan Kuhlbrodt "Das Modell" einsetzen lässt, wird das künftige Geschehen unklar - und mit diesem auch all jenes, was Schroth uns rückblickend über sein Verhältnis zu Thilo berichtet. Möglich ist: Schroth manipuliert, gekränkt durch die Zurücksetzung, auf der Frankfurter Ausstellung eine von Thilos Stahlskulpturen, so dass diese umkippt und den Künstler erschlägt. Möglich ist genauso, dass Thilo lediglich verletzt wird. Möglich ist gleichermaßen, dass Schroth diesen Racheakt nur imaginiert. Nicht wenig symbolträchtig freilich: den Künstler vom eigenen Werk erschlagen zu lassen.

Wahrscheinlich scheint: Schroth kehrt nach dem Schock, den Thilos Anwesenheit in der Stadt verursacht hat, in das Haus seiner Mutter zurück, vielmehr in dessen Hof, wo er nun, den Rücken an eine Mauer gelehnt (nicht das Gleichgewicht verlieren!), seine Erinnerungsschnipsel zusammenklaubt und in immer neuen Formationen zusammensetzt. Ein Archiv seiner Erinnerung anlegen, nennt er das, aber was nach Ordnung und Verfügbarkeit klingt, verdreht Kuhlbrodt ins Gegenteil: Bei ihm werden die Karten mit Erinnerungspartikeln zu Spielkarten, die beliebig durcheinandergemischt werden und so immer neue Bedeutungen generieren. Dass dem Erzähler selbst längst die Souveränität über diese wechselnden Konstellationen und Interpretationen abhandengekommen ist, macht dessen Tragik aus.

Die Essenz von Kuhlbrodts Prosastück mutet denkbar einfach an: Dass wir in dem Moment, in dem wir einer Bewegung eine Bedeutung verleihen, stets irren können, vielleicht sogar müssen, und dass deshalb das Nacherzählen auch des eigenen, doch miterlebten Lebens zur Unmöglichkeit wird. Sicher ist es kein Zufall, sondern eine bewusst gesetzte Irritation, dass die angedeuteten Lebensstationen Schroths mit denen des Autors übereinstimmen. Jan Kuhlbrodt gelingt es, diese Unsicherheit des Blicks und der Deutung in eine Bewegung des Textes zu überführen, ihn in ein Kaleidoskop zu verwandeln. Dass Kuhlbrodts Sprache hingegen mitunter statisch anmutet und so der Roman über den Charakter einer modellhaften Skizze selten hinauskommt, ist ein Widerspruch, der auf frappante Weise stimmig erscheint.

WIEBKE POROMBKA

Jan Kuhlbrodt: "Das Modell". Roman.

Edition Nautilus, Hamburg 2016. 112 S., geb., 16,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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