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Neapel ist von der Entzauberung der Welt verschont geblieben, und doch ist es eine moderne Stadt. Schon geologisch doppelbödig, hat es eine Affinität zum Zwischenreich ausgebildet : Transgender und Geister, Adoptionsgemeinschaften als Familien, anonyme Totenschädel als Vorfahren. Ulrich van Loyen begibt sich mit seinem wissenschaftlichen Reisebuch in diese Schwellenzonen und versucht, anhand der Totenkulte die Matrix dieser Stadt zu entschlüsseln. Dabei leitet ihn weniger die europäische Hochkultur, für die Neapel eine dauernde Fremdheitsressource darstellt, als vielmehr die teilnehmende…mehr

Produktbeschreibung
Neapel ist von der Entzauberung der Welt verschont geblieben, und doch ist es eine moderne Stadt. Schon geologisch doppelbödig, hat es eine Affinität zum Zwischenreich ausgebildet : Transgender und Geister, Adoptionsgemeinschaften als Familien, anonyme Totenschädel als Vorfahren. Ulrich van Loyen begibt sich mit seinem wissenschaftlichen Reisebuch in diese Schwellenzonen und versucht, anhand der Totenkulte die Matrix dieser Stadt zu entschlüsseln. Dabei leitet ihn weniger die europäische Hochkultur, für die Neapel eine dauernde Fremdheitsressource darstellt, als vielmehr die teilnehmende Beobachtung am Leben der sogenannten einfachen Leute. In den Gassen der Sanità, in den Unterkirchen der "Seelen im Fegefeuer", bei Camorristi, die sich als Sozialhelfer geben, durch die Freundschaft mit Seherinnen, die die Toten zum Sprechen bringen und damit den politischen Klientelismus stürzen wollen, wird unter anderem deutlich, dass der Alltag das größte aller Geheimnisse, die Familie ein Mysterium und die Stadt eine permanente Krise bedeuten. Davon kann man mit Neapel erzählen, und damit erzählt Neapel uns.
Autorenporträt
Ulrich van Loyen, 1978 in Dresden geboren, ist Ethnologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitet nach mehreren Stationen in Italien und Deutschland am Lehrstuhl für Medientheorie der Universität Siegen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Ronald Düker erkennt in Ulrich van Loyens mehrjähriger ethnologischer Feldforschungsarbeit in Neapels Unterwelt einen Gegenbeweis für die Vermutung, in Zeiten der alles gleichmachenden Globalisierung stehe es schlecht um die Ethnologie. Ein echtes Widerstandsnest gegen die Entzauberung entdeckt er gemeinsam mit dem Autor, trifft Kerzenverkäuferinnen, Knochenputzer und Wahrsagerinnen und andere Besucher im Reich der Toten. Für Düker ein veritabler ethnologischer Gespensterroman, der für ihn dadurch glänzt, dass sein Autor sich jede Schwärmerei versagt, wenn er diese "symptomatische" Widerstandsgemeinschaft gegen den politischen Zerfall in Italien besucht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.09.2018

Gemeinschaft der verlorenen Seelen
Warum in Neapel die Gentrifizierung nicht gelang? Ulrich van Loyen findet eine Antwort in der Unterwelt
Der kürzeste und schnellste Weg aus der Altstadt von Neapel hinauf zum Königsschloss auf dem Capodimonte führt über eine Brücke. Sie ist nicht lang, nur wenig mehr als hundert Meter. Doch ist sie von großer Bedeutung, und zwar nicht nur, weil sie die nördlichen Stadtviertel erschließt. Sie isoliert auch den Stadtteil Sanità, der, seit es diese Brücke gibt, also seit Joachim Murat, der Schwager Napoleons, über die Stadt herrschte, unter den Pfeilern in Altertümlichkeit und Armut verharrt. Auf dieser Brücke steht im Juni 2013 Ulrich van Loyen und betrachtet die kleine Welt unter sich, in der er sich ein paar Monate zuvor niedergelassen hat. Es ist Nachmittag, und die Motorroller sind zu Hunderten losgelassen. Zwei Gedanken gehen dem Ethnologen bei diesem Anblick durch den Kopf. Der eine handelt von dem Gewusel der Menschen und Maschinen, das aus lauter ähnlichen, sich laufend wiederholenden, aber separaten und immer wieder neu einsetzenden Bewegungen besteht, die sich gleichwohl zu einer Einheit namens „Sanità“ formieren. Der andere zieht einen Vergleich zur dunklen Welt der Katakomben, die sich unter der Sanità erstrecken. Denn so wie die Bewohner dieses Viertels vom Rest der Stadt wahrgenommen werden wollen, so glauben die Menschen hier, so möchten auch die Toten von den Lebenden nicht vergessen werden.
Ein ungewöhnliches Buch hat Ulrich van Loyen mit „Neapels Unterwelt“ geschrieben, ein wissenschaftliches Werk und einen Erlebnisbericht in einem. Es handelt vom Verkehr zwischen den Bewohnern der Sanità und den Toten unter ihnen, in einem praktischen und einem symbolischen Sinn. Denn die Toten sind nicht wirklich tot, und das Reich der Lebenden ist von dem der Verstorbenen nicht wirklich getrennt. Ihre Seelen sollen zwar an ihre bleichen Knochen gebunden sein. Aber die Toten erscheinen nicht als Gespenster, sondern sie machen sich im Leben und in den Menschen selbst geltend, in Gestalt von unerwarteten Ereignissen, von Traumgesichten und inneren Wandlungen, fassbar nur für die Gläubigen selber. Und weil das so ist, muss man sich um sie kümmern, damit sie nicht vergessen werden in ihren Tuffsteinhöhlen und darüber bedrohlich werden – man kümmert sich also etwa um die Gebeine, indem man einen beliebigen Schädel adoptiert, einen Totenkopf von Tausenden, ihn poliert, bis er glänzt, und ihm vielleicht sogar ein kleines Gehäuse baut. Ulrich van Loyen urteilt nicht über solche Praktiken, die keineswegs nur der Vergangenheit zugehören, sondern nach wie vor gegenwärtig sind. Er folgt ihnen, er schreibt auf, was ihm dabei widerfuhr, und im Nachdenken über das Erlebte kommt er zu oft erstaunlichen – und erstaunlich plausiblen – Schlüssen.
Als möblierter Herr in der Sanità untergekommen, lernt Ulrich van Loyen seine Nachbarn kennen, den Gemüsehändler mit den guten Beziehungen zur Camorra, den ehemaligen Besitzer einer Bar, der sein Lokal verkauft hat und nun in einem auffällig guten Anzug durch die Altstadt wandert, den Frührentner, der sich als Abendlehrer im Kloster das Essen verdient. Vor allem aber macht er die Bekanntschaft von Frauen, die sich, zu kleinen Gruppen zusammengeschlossen, dem Totenkult widmen und darüber zu Medien, zu Wahrsagerinnen werden. Sie erfüllen in den altertümlichen Vierteln Neapels offenbar eine wichtige Aufgabe.
Die Frauen sind die Vermittler zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, genauer: Sie ordnen das Diesseits, indem sie das Jenseits ordnen. In ihnen setzt sich deswegen nicht nur ein Klientelismus fort, wie er in Italien stets entsteht, wenn große Institutionen und kleinteilige Strukturen zusammengeschlossen werden sollen. Sie treten vielmehr auch in Konkurrenz zum offiziellen Katholizismus und zu seinen Pfarrern, die in einem Viertel wie der Sanitá zugleich als Distriktsmanager und Sozialarbeiter wirken müssen, mit einer zwar unbedingt geltenden, im Zweifelsfall aber elastischen Autorität.
Woher die Schädel und Skelette kommen, die in den Höhlen liegen, ist nicht immer gewiss. Die Fontanelle, die bekannteste der Katakomben, ist vermutlich ein Friedhof der Friedhöfe: Die Gebeine wurden aus älteren Begräbnisstätten zusammengetragen, die Opfer von Pest und Cholera kamen hinzu. Warum aber gehen die Bewohner der Sanità nicht zu ihren verstorbenen Verwandten auf dem Friedhof, um in eine Verbindung zum Jenseits zu treten? Warum der Kult um die anonymen Toten? Während die Beziehungen zur verstorbenen Verwandtschaft selten unbelastet seien, voller nicht aufgelöster Verwicklungen und Zweideutigkeiten, erklärt Ulrich van Loyen, scheinen die Toten ein Kollektiv zu bilden: eine Schicksalsgemeinschaft der verlorenen Seelen und darin den Bewohnern der Sanità ähnlich in ihrer Armut, ihrer oft improvisierten Existenz und ihrer Abhängigkeit von äußeren Mächten, die Camorra eingeschlossen.
In der Hinwendung zu den unbekannten Toten werde versucht, nicht nur eine brüchige Gemeinschaft zu reparieren, sondern auch eine beschädigte Vergangenheit in einen sozialen Zusammenhalt zu verwandeln. Von besonderer Bedeutung sei der Totenkult deshalb für die ehemaligen Bewohner der Sanità, und zwar vor allem für solche, die nach dem Erdbeben von 1980 ein Angebot der Stadt wahrnahmen und in die neu errichteten Vororte zogen. In diesen schnell verelendenden Siedlungen wurden sie nie heimisch, den Verlust der alten Umgebung empfinden sie als eigene Schuld. Der Totenkult aber erlaubt ihnen, die Bindung an die Herkunft wenigstens im Glauben wiederherzustellen.
Das Heilige ist immer regional. Von solcher Gebundenheit zeugen nicht nur die Bedeutung des heiligen Gennaro (Januarius) für Neapel oder, viel jünger und an die modernen technischen Medien geknüpft, der Kult um Padre Pio in San Giovanni Rotondo bei Foggia. Regional sind auch die Marienkulte, die in Süditalien und weit darüber hinaus eine größere Rolle für die täglich praktizierte Religiosität spielen als die Verehrung des Gottessohns. Diese Madonnen nehmen, auch wenn sie sich stets auf dieselbe Figur des Neuen Testaments beziehen, jeweils höchst individuellen Charakter an – eine Eigenart, die dadurch verstärkt wird, dass wundertätige Madonnen im italienischen Süden gewöhnlich auch verletzte Madonnen sind.
In Ulrich van Loyens Werk über die paganen Kulte innerhalb des neapolitanischen Katholizismus bildet die Marienverehrung daher ein Komplement zum Totenkult in der Sanità. Auch Maria ist eine Mittlergestalt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Zudem soll sie in der Lage sein, gepeinigte Seelen dem Fegefeuer zu entziehen. Dass sich das Buch dabei vor allem auf die Madonna dell’Arco in Sant’Anastasia, einem Vorort von Neapel, bezieht, liegt indessen auch an der offenen Konkurrenz, in der ihre Verehrung zur offiziellen Kirche steht. Begangen wird das Fest der Madonna dell’Arco am Ostermontag – mit einer Intensität, die für die Feier der Auferstehung Christi am Ostersonntag weder Zeit noch Kraft übrig lässt.
In den vergangenen Jahren wurde Neapel für ein Millionen zählendes Publikum auf der ganzen Welt zur Heimstatt eines besonders ursprünglichen oder authentischen Lebens – vor allem durch die Romane von Elena Ferrante. Dafür gibt es sachliche Gründe: „Wenn Neapel bis heute eine der wenigen europäischen Städte ist, in denen die Gentrifizierung der Innenstädte nicht gelang, so liegt dies nicht zuletzt an der Dichte der einander überlappenden Orte und Familienbeziehungen.“ Welcher Art diese Beziehungen tatsächlich sind, wie viel Bewusstsein von Zurücksetzung und Verlorenheit – und wie viel paganer Glaube – ihnen zugrunde liegt: Das erfährt man weit eher in Ulrich van Loyens Buch über „Neapels Unterwelt“ als in der Romanliteratur.
Und mehr noch: Man gewinnt ein Verständnis für die aktuelle politische Situation, vor allem in Süditalien. Das gilt insbesondere für den Movimento Cinque Stelle, die Partei, die in einer Koalition mit der fremdenfeindlichen Lega die Regierung stellt. Denn weist der Movimento, formal betrachtet, nicht erstaunliche Parallelen zu den neapolitanischen Totenkulten auf? Wie Gebetskreise in kleinen Zellen organisiert, betreibt auch der Movimento einen Reinheitskult, als dessen Ende eine ideale Gesellschaft anvisiert wird, in der alle miteinander befriedet sind, weil sie (über das Internet) einen gemeinsamen Willen entwickelt haben – während alle unreinen Elemente ausgeschieden sind. So verwandelt sich das Regionale in das Universale und das Universale in das Regionale. Und liegt darin nicht der Sinn beider Veranstaltungen?
THOMAS STEINFELD
Ulrich van Loyen: Neapels Unterwelt. Über die Möglichkeit einer Stadt. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2018. 456 Seiten, 28 Euro.
Das Reich der Lebenden
ist von dem der Verstorbenen
nicht wirklich getrennt
Neapel, Sanità: Hier begann Ulrich van Loyen seine Stadterkundung.
Foto:  SZ Photo / Andreas Fischer
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