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"Eine Weltsensation zur rechten Zeit."Wieland Freund in der Literarischen Welt"Seltsam, dass die erste literarische Entdeckung der Trump-Ära ausgerechnet einen New-York-Roman von Walt Whitman ans Licht zieht. Eine Übersetzung wäre dem deutschen Publikum zu wünschen."Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung

Produktbeschreibung
"Eine Weltsensation zur rechten Zeit."Wieland Freund in der Literarischen Welt"Seltsam, dass die erste literarische Entdeckung der Trump-Ära ausgerechnet einen New-York-Roman von Walt Whitman ans Licht zieht. Eine Übersetzung wäre dem deutschen Publikum zu wünschen."Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung
Autorenporträt
Walt Whitman war einer der einflussreichsten US-amerikanischen Dichter des 19. Jahrhunderts, dessen bekanntestes Werk die mehrfach erweiterte Gedichtsammlung ¿Leaves of Grass¿ (1855) ist. Er wurde am 31. Mai 1819 in West Hills, Long Island, New York in den Vereinigten Staaten geboren und verstarb am 26. März 1892 mit 72 Jahren in Camden, New Jersey.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2017

Ein Waisenjunge unterdrückt seine Unfugstendenzen

Walt Whitmans Roman "Jack Engle" wurde erst kürzlich entdeckt. Drei Verlage lieferten sich ein Wettrennen um die deutsche Erstausgabe. Heute erscheinen zwei Übersetzungen. Welche ist besser?

Ein kleiner Fortsetzungsroman, den eine New Yorker Zeitung vor 165 Jahren anonym in sechs Folgen herausbrachte und der, wie unzählige andere, zur Unterhaltung der boomenden urbanen Leserschaft gedacht war und dazu eine verschlungene Geschichte mit etwas Typenkomik, reichlich Abenteuerflair und vor allem vielen Kolportageelementen aufbot: Kein Mensch, erst recht kein Verlag, würde sich heute dafür interessieren.

Tatsächlich aber interessiert sich seit drei Monaten jeder für diesen Roman, und gleich drei Verlage haben sich einen aberwitzigen Wettlauf um die deutsche Erstausgabe geliefert (F.A.Z. vom 21. April). Aus gutem Grund. Denn "Jack Engle" stammt von Walt Whitman (1819 bis 1892), dem größten Barden, Sprachmagier und Weltenkünder, den Amerika hervorgebracht hat - oder der Amerika erst eigentlich zu dem gemacht hat, wofür das Land als Glücksversprechen wie als Hoffnungschiffre bis in unsere Tage steht.

Anfang des Jahres wurde bekannt, was selbst wie ein amerikanischer Traum erscheint: Einem findigen Doktoranden namens Zachary Turpin gelingt im Zeitungsarchiv eine sensationelle Entdeckung. Der bis dahin völlig unbekannte Text lässt sich zweifelsfrei als Whitmans Werk identifizieren. Das Elektrisierende ist allerdings seine Datierung, drei Jahre vor der Erstveröffentlichung des Gedichtbands "Grasblätter" (1855), Whitmans großer Selbst- und Weltverkündungshymne, die er über vier Jahrzehnte zum monumentalen Lebenswerk ausbaut. Dass er also zur Entstehungszeit seiner Gedichte, die durch ihre ausschweifenden, freien Formen wie freizügigen Bekenntnisse einen radikalen Neubeginn markieren, diesen kolportagehaften Fortsetzungsroman herausgebracht hat, das überrascht und irritiert - als habe Schiller vor den "Räubern" grad noch eine französische Salonkomödie geschrieben oder Kafka vor dem "Urteil" eine bukolische Ballade.

Man kann also kaum anders, als bei der Lektüre ständig Spuren des großen Hauptwerks zu vermuten und nach Signalwörtern zu suchen, die uns zum eigentlichen Whitman, wie wir ihn zu kennen glaubten, führen. Und man wird fündig, zum Beispiel in der Friedhofsszene kurz vor Schluss, die überhaupt die stärkste in diesem bestenfalls gefälligen Episodenreigen ist. Für die Handlung ohne jeden Belang, verbringt der Held und Erzähler hier einen Tag auf dem Kirchhof der Trinity Church, in der Nähe von Wall Street und Broadway, doch fernab des lärmenden Großstadtgetriebes, grübelt über den Grabsteinen und über Amerikas historische Mission. Und dann unvermittelt dieser Satz: "Langes, wild wucherndes Gras streifte mein Gesicht" (Manesse) oder in der anderen deutschen Fassung: "Langes wucherndes Gras verdeckte mein Gesicht"; im Englischen lautet das Verb tatsächlich, noch erstaunlicher, "covered", also "bedeckte", als habe der Spaziergänger sich hier selbst zwischen die Gräber gelegt. Jedenfalls lädt dieser Moment, der in der programmatisch wie poetisch dichtesten Passage des gesamten Romans auf den Titel des Hauptwerks vorauszudeuten scheint, nachdrücklich ein, über den Zusammenhang von Gelegenheitsschreiberei und Weltliteratur nachzudenken: beide wurzeln offenbar im selben Boden.

Das ist eine zutiefst Whitmansche Erkenntnis, denn das Höchste wie das Nächste, das Feierliche wie das Triviale sind bei ihm verbunden und verweisen aufeinander. "Der Genius der Vereinigten Staaten", heißt es im ersten Vorwort zu den "Grasblättern" wenig später, "liegt stets am stärksten in den einfachen Menschen", und der Barde Amerikas sei mit diesen Menschen eins und einig. Es versteht sich, dass Whitman diese Rolle des Nationaldichters für sich selbst reklamierte. Bevor er sie mit 36 Jahren öffentlich antrat und in den Folgejahren zunehmend durchsetzte, hätte niemand diesen Zeitungsschreiber, Landschullehrer sowie Grundstücksmakler, der im Alter von elf Jahren die eigene Schulbildung beendet hatte, dafür ausersehen. Doch wenn man jetzt sein lebenslang nie mehr erwähntes Frühwerk liest, meint man buchstäblich, das Gras wachsen zu hören.

Worum es geht, ist rasch erzählt. Ein New Yorker Straßenstreuner, der von fürsorglichen Pflegeeltern aufgenommen wurde, kommt einem betrügerischen Rechtsanwalt auf die Schliche, enthüllt dessen Machenschaften, errettet eine unschuldige Schöne, entdeckt seine wie ihre wahre Herkunft sowie ihre schicksalshafte Verbindung miteinander, begegnet nebenbei einer begehrenswerten Tänzerin mit Aktienvermögen, einem rechtschaffenen Arbeiter ohne Rechtschreibkenntnisse, einer klugen Jüdin mit Tochter sowie einem treuen alten Kanzleidiener mit Alkoholproblem - und dann und wann auch einem kleinen farbigen Jungen. Das Vorbild Charles Dickens' ist überdeutlich, ebenso wie sich zahlreiche weitere Anleihen am englischen Kanon, beispielsweise an "Robinson Crusoe", in dieser fingierten Autobiographie finden lassen. Erzählerisch wirkt vieles reichlich unbeholfen oder nachlässig, mit Brüchen in der Perspektive und holprigen Überleitungen zwischen den Szenen.

Mit viel gutem Willen mag man solche Mängel als Mittel zur Gestaltung einer überwältigenden Großstadtwirklichkeit auffassen, die sich der bruchlosen Einholung ins Medium des Literarischen widersetzt. Denn was vor allem fasziniert, sind die gelegentlichen fast beiläufigen Einsprengsel, die uns immer wieder Blicke auf Manhattan, den Nabel von Whitmans Existenz, eröffnen: eine Insel auf dem Weg zur Weltgeltung. In der Ausgabe aus dem jungen Verlag "Das Kulturelle Gedächtnis" kommen noch hübsche zeitgenössische Illustrationen hinzu, die uns die Wall Street beispielsweise als verschlafenes Idyll mit Pferdekutschen zeigen.

Der Vergleich der beiden deutschen Fassungen, die jetzt gleichzeitig erscheinen - eine dritte ist bei dtv fürs kommende Jahr angekündigt -, bietet überdies ein klassisches Lehrstück in Übersetzerfragen. Bei Manesse liefern Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli, zwei der erfahrensten und besten Könnerinnen dieser hohen Kunst, eine kluge, historisch sprachsensible, idiomatisch elegante und sehr ansprechende Version, der man allenfalls vorhalten könnte, dass sie die vielen Holprigkeiten des Originals mitunter glättet. Dagegen müht sich die Version von Stefan Schöberlein, einem jungen Literaturwissenschaftler, der bislang nicht als Übersetzer hervorgetreten ist, um Wörtlichkeit und mutet damit auch den Lesern wie der deutschen Sprache einiges zu. "Mögest Du Platz nehmen", heißt es da beispielsweise (bei Manesse: "Nehmen Sie Platz"), um die antiquierte Redeweise eines Quäkers wiederzugeben, oder auch in schwer erträglicher Verquastheit: "Ihre Güte erstickte jedwede noch nachklingende Unfugstendenz in mir" (gegenüber: "Ihre Herzensgüte erstickte alle dummen Gedanken in mir im Keime"). Besonders wagemutig ist es, auch Redewendungen nicht sinn-, sondern wortgemäß wiederzugeben (und dann mit kulturkundlichen Kommentaren zu versehen), also etwa von einer Dame zu erzählen, die alt genug war, "um sich ihre Weisheitszähne abgestoßen zu haben" (gegenüber: "die Eierschalen abgestreift"). Die Frage wäre also wieder einmal, ob eine Übersetzung den Autor zum Leser oder den Leser zum Autor bringen soll.

Eine Entscheidung für das zweite Verfahren darf keine ungekonnte Übersetzerei entschuldigen, kann aber im Erfolgsfall helfen, sprachlich Sperriges als gezielte Wahl nachzuvollziehen. Dazu nimmt Schöberlein in seine Ausgabe auch noch fünf Zeitungsartikel mit thematisch passenden Stadtreportagen Whitmans auf. Solche Beigaben mögen mit den Eigenwilligkeiten seiner Sprachgebung versöhnen. Man darf jedenfalls schon jetzt gespannt schein, was Jürgen Brôcan, der 2009 eine kongeniale deutsche Übertragung der "Grasblätter" vorgelegt hat, kommendes Jahr aus "Jack Engle" macht.

Dem Autor hätte solche Vielfalt zugesagt. Sein berühmtester Satz lautet: "Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten." Whitman lesen war noch nie so lohnend wie in Zeiten, da die Beschwörung von Amerikas Größe zu einem aggressiven Selbstdurchsetzungsruf geworden ist. Whitmans Geste war nie die Abschottung, sondern immer überschwänglichste Umarmung. Es ist nicht schwer, sich dem anzuschließen.

TOBIAS DÖRING.

Walt Whitman: "Jack Engles Leben und Abenteuer". Roman.

Aus dem amerikanischen Englisch von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli. Manesse, Zürich 2017. 186 S., geb., 22,- [Euro].

Walt Whitman: "Das abenteuerliche Leben des Jack Engle". Roman.

Aus dem Englischen und hrsg. von Stefan Schöberlein. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 192 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2017

Fenster in ein vergangenes New York
Im Februar wurde Walt Whitmans Fortsetzungsroman „Life and Adventures of Jack Engle“ wiederentdeckt.
Nun sind gleich zwei Übersetzungen ins Deutsche erschienen
VON NICOLAS FREUND
Manche Bücher führen ein eigenartiges Nachleben. Einstige Bestseller werden oft vergessen, während manche Bücher, von deren Erstausgaben nur wenige Exemplare gedruckt wurden, heute in jeder Buchhandlung zu bekommen sind. Angesichts der Menge vergessener und verschollener Texte großer Autoren, die in Zeitungsarchiven und ungesichteten Nachlässen vergilben, ist es ein Glück, dass nun ein bisher unbekannter Roman des amerikanischen Dichters Walt Whitman gleich mehrfach auf Deutsch erscheint (SZ vom 27. Februar).
„Life and Adventures of Jack Engle“ erschien 1852 als Fortsetzungsroman in der New Yorker Wochenzeitung Sunday Dispatch und ist danach schlicht vergessen worden, was nicht ungewöhnlich ist, denn der Text wurde anonym publiziert. Und Fortsetzungsromane in Zeitungen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Dutzendware, selbst wenn sie sehr gut waren. Experten schätzen, dass Whitman mehr als 1200 Artikel für verschiedene Zeitungen verfasst hat. Da die meisten davon anonym veröffentlicht wurden, sind sie nur durch Hinweise in seinen Notizbüchern und mühsame Archivarbeit identifizierbar. Dass gerade jetzt ein ganzer Roman in dem Zeitungsberg auftaucht, ist aber kein Zufall. Durch neue digitale Datenanalysen wurden in den vergangenen Jahren viele Entdeckungen aus den Archiven gespült. Weitere werden folgen.
Zachary Turpin, Doktorand an der Universität Houston, der „Life and Adventures of Jack Engle“ entdeckte, ist seit Jahren verschollenen Texten Whitmans auf der Spur. 2016 entdeckte er eine Serie von Fitness-Texten, die Whitman unter Pseudonym für die Zeitung The New York Atlas geschrieben hatte. Solche kleinen Zeitungen sind nicht digitalisiert, also auch nicht mit Suchmaschinen zu durchforsten, anders als die New York Times, in deren Anzeigen Turpin auf eines der bekannten Pseudonyme Whitmans stieß, das ihn zu der Serie im New York Atlas führte, der in manchen Bibliotheken noch einsehbar ist.
Den „Jack Engle“ machte Turpin ausfindig, indem er die eigenwilligen Namen von Charakteren aus Whitmans Notizbüchern in die Suchmaschine eingab, und tatsächlich fand er eine Anzeige, die für den Fortsetzungsroman im Sunday Dispatch 1852 warb, der nur noch in der Library of Congress auf Mikrofilm verfügbar ist. Ein Abgleich des Fortsetzungsromans mit Whitmans Notizbüchern brachte dann die Gewissheit. Vor allem die eigenwilligen Namen („Smytthe“, „Wigglesworth“) konnten kein Zufall sein.
Walt Whitman ist der bekannteste und bedeutendste amerikanische Dichter des 19. Jahrhunderts. In seinen späten Jahren drohte er jeden zu erschießen, der es wagen sollte, sein Jugendwerk zu publizieren. Bekannt sein wollte er allein als Autor seines Hauptwerkes, des Gedichtbandes „Leaves of Grass“, den er gleich mehrmals publizierte und an dem er bis an sein Lebensende arbeitete. Er lässt sich als eine Art Manifest des weltoffenen, jungen, multikulturellen Amerika lesen.
Für seinen nun wiederentdeckten Zeitungsroman über die Alltags- und Liebesabenteuer des jungen angehenden Anwalts Jack Engle im New York des 19. Jahrhunderts hätte er sich aber nicht schämen müssen, obwohl manches etwas klischeehaft wirkt – ein Waisenkind, ein böser Anwalt und viele schöne Frauen kommen vor. Hellwach erzählt der Roman direkt aus dem Leben in New York Mitte des 19. Jahrhunderts und dass der Text nun wie aus einer Zeitkapsel im 21. Jahrhundert auftaucht, verstärkt noch den faszinierenden Effekt eines Fensters, das sich plötzlich in eine vergangene Zeit öffnet.
In einem Kapitel streift Jack Engle melancholisch über einen alten Friedhof und spinnt zu den Inschriften auf den Grabsteinen kleine Geschichten über Leben und Tod, über den stillen Ort inmitten der nie ruhenden Stadt. „Jack Engle“ scheint nicht nur in diesem Kapitel, in dem die hohen Grashalme Jack bis ins Gesicht reichen, über die Form des Zeitungsromans hinauszuweisen, als Wendepunkt zur nicht von einem Plot getriebenen Lyrik.
Auf Deutsch erscheint der Roman, der bei seiner Erstveröffentlichung mit Sicherheit ein überschaubares Publikum fand und nun zur globalen Sensation geworden ist, gleich mehrfach. Für das Frühjahr 2018 kündigte dtv eine Übersetzung an. Der kleine Verlag Das kulturelle Gedächtnis wollte seine Übersetzung von Stefan Schöberlein im September 2017 herausbringen. Beide wurden vom Manesse-Verlag überboten, der den im Februar aufgetauchten Roman von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli übersetzen ließ und Anfang dieser Woche auf den Markt warf. Das kulturelle Gedächtnis ließ sich auf das Rennen ein und hat seine Übersetzung vorgezogen.
Mit Sicherheit hat keine der Übersetzungen von dem Zeitdruck profitiert. Die leicht ironische, immer einen Dreh zu verschnörkelte Sprache des Originals wird allenfalls ahnbar, der leise Selbstzweifel, der über dem Text liegt, geht oft verloren. Sehr frei überträgt die Manesse-Übersetzung den Text in modernes Deutsch. Aus „‚And have you really the singular fortune‘, asked the dancing girl, ‚not to know who your parents were?’“, wird: „‚Und du hast wirklich das Pech, deine Eltern nicht zu kennen?’, fragte die Tänzerin“. Die Inversion, die in der Mitte des Satzes das „dancing girl“ auftauchen lässt, fehlt, die kosmische Dimension des „singular fortune“ ist verblasst. Bei Schöberlein heißt es treffender: „‚Und so ist es tatsächlich dein Schicksal‘, fragte das Tanzmädchen, ‚nicht zu wissen, wer deine Eltern waren?“ Wie hier trifft Schöberlein den Ton eines Fortsetzungsromans aus dem 19. Jahrhundert, dafür schießen bei ihm manchmal „Gewächshauspflanzen ins Kraut“. Die Antwort Jacks auf die Frage des Tanzmädchens fehlt übrigens in beiden Übersetzungen, bei Schöberlein ganz, Orth-Guttmann und Wehrli übertragen sie nur halb.
Peter Graf vom Verlag Das kulturelle Gedächtnis sieht die rasche Veröffentlichung des Romans auch als ein Statement für die multikulturelle Metropole und das Amerika Whitmans. Der amerikanische Professor James McWilliams hingegen befürchtet in der Paris Review, der Fund des Romans könnte das wichtigere Werk Whitmans gefährlich überblenden. An der dritten deutschen Fassung des Romans arbeitet für dtv übrigens Jürgen Brôcan, der schon „Leaves of Grass“ neu übertragen hat. Und Zachary Turpin, der den Roman aufspürte, wird im kommenden Semester Assistant Professor an der University of Idaho. Manche hoffen, dass sich mit seiner Mischung aus digitalen und analogen Recherchemethoden weitere Texte finden lassen, etwa der letzte Roman Herman Melvilles, der ebenfalls als verschollen gilt.
Walt Whitman: Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Aus dem Englischen von Stefan Schöberlein. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 192 Seiten, 22 Euro.
Walt Whitman: Jack Engles Leben und Abenteuer. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli. Manesse Verlag, Zürich 2017. 186 Seiten, 22 Euro.
Später drohte Whitman, jeden
zu erschießen, der sein
Jugendwerk publizieren würde
Walt Whitman (1819–1892) begründete die moderne
amerikanische
Dichtung.
Foto: Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
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Ein Waisenjunge unterdrückt seine Unfugstendenzen

Walt Whitmans Roman "Jack Engle" wurde erst kürzlich entdeckt. Drei Verlage lieferten sich ein Wettrennen um die deutsche Erstausgabe. Heute erscheinen zwei Übersetzungen. Welche ist besser?

Ein kleiner Fortsetzungsroman, den eine New Yorker Zeitung vor 165 Jahren anonym in sechs Folgen herausbrachte und der, wie unzählige andere, zur Unterhaltung der boomenden urbanen Leserschaft gedacht war und dazu eine verschlungene Geschichte mit etwas Typenkomik, reichlich Abenteuerflair und vor allem vielen Kolportageelementen aufbot: Kein Mensch, erst recht kein Verlag, würde sich heute dafür interessieren.

Tatsächlich aber interessiert sich seit drei Monaten jeder für diesen Roman, und gleich drei Verlage haben sich einen aberwitzigen Wettlauf um die deutsche Erstausgabe geliefert (F.A.Z. vom 21. April). Aus gutem Grund. Denn "Jack Engle" stammt von Walt Whitman (1819 bis 1892), dem größten Barden, Sprachmagier und Weltenkünder, den Amerika hervorgebracht hat - oder der Amerika erst eigentlich zu dem gemacht hat, wofür das Land als Glücksversprechen wie als Hoffnungschiffre bis in unsere Tage steht.

Anfang des Jahres wurde bekannt, was selbst wie ein amerikanischer Traum erscheint: Einem findigen Doktoranden namens Zachary Turpin gelingt im Zeitungsarchiv eine sensationelle Entdeckung. Der bis dahin völlig unbekannte Text lässt sich zweifelsfrei als Whitmans Werk identifizieren. Das Elektrisierende ist allerdings seine Datierung, drei Jahre vor der Erstveröffentlichung des Gedichtbands "Grasblätter" (1855), Whitmans großer Selbst- und Weltverkündungshymne, die er über vier Jahrzehnte zum monumentalen Lebenswerk ausbaut. Dass er also zur Entstehungszeit seiner Gedichte, die durch ihre ausschweifenden, freien Formen wie freizügigen Bekenntnisse einen radikalen Neubeginn markieren, diesen kolportagehaften Fortsetzungsroman herausgebracht hat, das überrascht und irritiert - als habe Schiller vor den "Räubern" grad noch eine französische Salonkomödie geschrieben oder Kafka vor dem "Urteil" eine bukolische Ballade.

Man kann also kaum anders, als bei der Lektüre ständig Spuren des großen Hauptwerks zu vermuten und nach Signalwörtern zu suchen, die uns zum eigentlichen Whitman, wie wir ihn zu kennen glaubten, führen. Und man wird fündig, zum Beispiel in der Friedhofsszene kurz vor Schluss, die überhaupt die stärkste in diesem bestenfalls gefälligen Episodenreigen ist. Für die Handlung ohne jeden Belang, verbringt der Held und Erzähler hier einen Tag auf dem Kirchhof der Trinity Church, in der Nähe von Wall Street und Broadway, doch fernab des lärmenden Großstadtgetriebes, grübelt über den Grabsteinen und über Amerikas historische Mission. Und dann unvermittelt dieser Satz: "Langes, wild wucherndes Gras streifte mein Gesicht" (Manesse) oder in der anderen deutschen Fassung: "Langes wucherndes Gras verdeckte mein Gesicht"; im Englischen lautet das Verb tatsächlich, noch erstaunlicher, "covered", also "bedeckte", als habe der Spaziergänger sich hier selbst zwischen die Gräber gelegt. Jedenfalls lädt dieser Moment, der in der programmatisch wie poetisch dichtesten Passage des gesamten Romans auf den Titel des Hauptwerks vorauszudeuten scheint, nachdrücklich ein, über den Zusammenhang von Gelegenheitsschreiberei und Weltliteratur nachzudenken: beide wurzeln offenbar im selben Boden.

Das ist eine zutiefst Whitmansche Erkenntnis, denn das Höchste wie das Nächste, das Feierliche wie das Triviale sind bei ihm verbunden und verweisen aufeinander. "Der Genius der Vereinigten Staaten", heißt es im ersten Vorwort zu den "Grasblättern" wenig später, "liegt stets am stärksten in den einfachen Menschen", und der Barde Amerikas sei mit diesen Menschen eins und einig. Es versteht sich, dass Whitman diese Rolle des Nationaldichters für sich selbst reklamierte. Bevor er sie mit 36 Jahren öffentlich antrat und in den Folgejahren zunehmend durchsetzte, hätte niemand diesen Zeitungsschreiber, Landschullehrer sowie Grundstücksmakler, der im Alter von elf Jahren die eigene Schulbildung beendet hatte, dafür ausersehen. Doch wenn man jetzt sein lebenslang nie mehr erwähntes Frühwerk liest, meint man buchstäblich, das Gras wachsen zu hören.

Worum es geht, ist rasch erzählt. Ein New Yorker Straßenstreuner, der von fürsorglichen Pflegeeltern aufgenommen wurde, kommt einem betrügerischen Rechtsanwalt auf die Schliche, enthüllt dessen Machenschaften, errettet eine unschuldige Schöne, entdeckt seine wie ihre wahre Herkunft sowie ihre schicksalshafte Verbindung miteinander, begegnet nebenbei einer begehrenswerten Tänzerin mit Aktienvermögen, einem rechtschaffenen Arbeiter ohne Rechtschreibkenntnisse, einer klugen Jüdin mit Tochter sowie einem treuen alten Kanzleidiener mit Alkoholproblem - und dann und wann auch einem kleinen farbigen Jungen. Das Vorbild Charles Dickens' ist überdeutlich, ebenso wie sich zahlreiche weitere Anleihen am englischen Kanon, beispielsweise an "Robinson Crusoe", in dieser fingierten Autobiographie finden lassen. Erzählerisch wirkt vieles reichlich unbeholfen oder nachlässig, mit Brüchen in der Perspektive und holprigen Überleitungen zwischen den Szenen.

Mit viel gutem Willen mag man solche Mängel als Mittel zur Gestaltung einer überwältigenden Großstadtwirklichkeit auffassen, die sich der bruchlosen Einholung ins Medium des Literarischen widersetzt. Denn was vor allem fasziniert, sind die gelegentlichen fast beiläufigen Einsprengsel, die uns immer wieder Blicke auf Manhattan, den Nabel von Whitmans Existenz, eröffnen: eine Insel auf dem Weg zur Weltgeltung. In der Ausgabe aus dem jungen Verlag "Das Kulturelle Gedächtnis" kommen noch hübsche zeitgenössische Illustrationen hinzu, die uns die Wall Street beispielsweise als verschlafenes Idyll mit Pferdekutschen zeigen.

Der Vergleich der beiden deutschen Fassungen, die jetzt gleichzeitig erscheinen - eine dritte ist bei dtv fürs kommende Jahr angekündigt -, bietet überdies ein klassisches Lehrstück in Übersetzerfragen. Bei Manesse liefern Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli, zwei der erfahrensten und besten Könnerinnen dieser hohen Kunst, eine kluge, historisch sprachsensible, idiomatisch elegante und sehr ansprechende Version, der man allenfalls vorhalten könnte, dass sie die vielen Holprigkeiten des Originals mitunter glättet. Dagegen müht sich die Version von Stefan Schöberlein, einem jungen Literaturwissenschaftler, der bislang nicht als Übersetzer hervorgetreten ist, um Wörtlichkeit und mutet damit auch den Lesern wie der deutschen Sprache einiges zu. "Mögest Du Platz nehmen", heißt es da beispielsweise (bei Manesse: "Nehmen Sie Platz"), um die antiquierte Redeweise eines Quäkers wiederzugeben, oder auch in schwer erträglicher Verquastheit: "Ihre Güte erstickte jedwede noch nachklingende Unfugstendenz in mir" (gegenüber: "Ihre Herzensgüte erstickte alle dummen Gedanken in mir im Keime"). Besonders wagemutig ist es, auch Redewendungen nicht sinn-, sondern wortgemäß wiederzugeben (und dann mit kulturkundlichen Kommentaren zu versehen), also etwa von einer Dame zu erzählen, die alt genug war, "um sich ihre Weisheitszähne abgestoßen zu haben" (gegenüber: "die Eierschalen abgestreift"). Die Frage wäre also wieder einmal, ob eine Übersetzung den Autor zum Leser oder den Leser zum Autor bringen soll.

Eine Entscheidung für das zweite Verfahren darf keine ungekonnte Übersetzerei entschuldigen, kann aber im Erfolgsfall helfen, sprachlich Sperriges als gezielte Wahl nachzuvollziehen. Dazu nimmt Schöberlein in seine Ausgabe auch noch fünf Zeitungsartikel mit thematisch passenden Stadtreportagen Whitmans auf. Solche Beigaben mögen mit den Eigenwilligkeiten seiner Sprachgebung versöhnen. Man darf jedenfalls schon jetzt gespannt schein, was Jürgen Brôcan, der 2009 eine kongeniale deutsche Übertragung der "Grasblätter" vorgelegt hat, kommendes Jahr aus "Jack Engle" macht.

Dem Autor hätte solche Vielfalt zugesagt. Sein berühmtester Satz lautet: "Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten." Whitman lesen war noch nie so lohnend wie in Zeiten, da die Beschwörung von Amerikas Größe zu einem aggressiven Selbstdurchsetzungsruf geworden ist. Whitmans Geste war nie die Abschottung, sondern immer überschwänglichste Umarmung. Es ist nicht schwer, sich dem anzuschließen.

TOBIAS DÖRING.

Walt Whitman: "Jack Engles Leben und Abenteuer". Roman.

Aus dem amerikanischen Englisch von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli. Manesse, Zürich 2017. 186 S., geb., 22,- [Euro].

Walt Whitman: "Das abenteuerliche Leben des Jack Engle". Roman.

Aus dem Englischen und hrsg. von Stefan Schöberlein. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 192 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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