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Finnische Dirigenten sind Botschafter einer ganz eigenen Musikkultur. Das Land hat nur knapp 5,5 Millionen Einwohner, aber eine Klassikszene, die mit erfreulicher wie überraschender Regelmäßigkeit Stars hervorbringt wie kaum eine andere: Jukka-Pekka Saraste steht als Chefdirigent am Pult des WDR Symphonieorchesters. In Wien begeistert Mikko Franck regelmäßig das Opernpublikum. Erkki Korhonen hat jahrelang das Opernstudio Zürich geleitet. In nahezu jeder Konzertsaison ist Esa-Pekka Salonen zu Gast beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Susanna Mälkki begeistert mit ihren…mehr

Produktbeschreibung
Finnische Dirigenten sind Botschafter einer ganz eigenen Musikkultur. Das Land hat nur knapp 5,5 Millionen Einwohner, aber eine Klassikszene, die mit erfreulicher wie überraschender Regelmäßigkeit Stars hervorbringt wie kaum eine andere: Jukka-Pekka Saraste steht als Chefdirigent am Pult des WDR Symphonieorchesters. In Wien begeistert Mikko Franck regelmäßig das Opernpublikum. Erkki Korhonen hat jahrelang das Opernstudio Zürich geleitet. In nahezu jeder Konzertsaison ist Esa-Pekka Salonen zu Gast beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Susanna Mälkki begeistert mit ihren internationalen Gastdirigaten die Fans der Neuen Musik. Sie alle sind Weltstars der klassischen Musik - und sie alle kommen aus Finnland.
Dieses Phänomen hat eine lange Tradition. Finnische Dirigenten scheinen eine Magie in ihren Taktstock legen zu können, wie es sie sonst nur selten gibt.
Vesa Sirén, finnischer Musikjournalist und Kenner der internationalen Musikszene, geht dem Erfolgsgeheimnis der finnischen Dirigenten auf den Grund.
Autorenporträt
Vesa Sirén, Jahrgang 1967, ist Musik- und Kulturjournalist und lebt in Finnlands Hauptstadt Helsinki. Er ist Redakteur im Feuilleton der traditionsreichen, überregionalen Tageszeitung "Helsingin Sanomat". Dort berichtet er über klassische Musik und das finnische Kulturleben. Er ist ein international gefragter Experte für das Werk des finnischen Komponisten Jean Sibelius. Vesa Sirén schreibt auch für die englischsprachige Fachzeitschrift "Finnish Music Quarterly". In Finnland wurde sein Buch "Finnlands Dirigenten - Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen" mit dem bedeutendsten Buchpreis des Landes ausgezeichnet, dem Finlandia-Sachbuchpreis. "Finnische Dirigenten" ist außerdem als eines der wichtigsten Sachbücher Finnlands ausgezeichnet worden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2017

Führungskräfte als Exportschlager

Ein kleines Land mit riesiger musikalischer Reichweite: Vesa Sirén weiß alles über die Erfolgsgeschichte der finnischen Dirigenten - und welche Rolle in ihr Schnaps, Geld und Sex spielen.

Mehr als eine Million Dollar Jahresgehalt, dazu eine kleine Armee, "die ihm das Leben meistern half: Privatsekretär, Chauffeur, Fitnesstrainer, Chiropraktiker, ein Agent in London und ein PR-Büro in Köln" - eine hübsche Kollektion von Statussymbolen, mit denen Esa-Pekka Salonen sich schmücken konnte und die Vesa Sirén in seinem Buch "Finnlands Dirigenten" ausbreitet. Salonen hatte es geschafft. Der finnische Schlacks mit dem "Bubigesicht" - so sah es die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter - war zum California Dream Boy geworden. Mit wendigen Händen und Hüften surfte er durch die Musik und kitzelte als Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic das Publikum, bis es von den Sitzen schoss. Mit seiner Eigenkomposition "Wing on Wing" konnte er im Jahr 2003 sogar den neuen Konzertsaal der Stadt, die von Frank Gehry entworfene Walt Disney Hall, einweihen. Eine finnische Erfolgsgeschichte.

Schon 1983 in London hatte Salonen seinen internationalem Durchbruch erlebt, danach folgte ein finnischer Spitzen-Dirigent auf den anderen: Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Sakari Oramo. Bald ging es weiter mit Mikko Franck, John Storgårds, Hannu Lintu bis in die jüngste Gegenwart zu Pietari Inkinen und Santtu-Mathias Rouvali. Wie konnte es zu diesem "Musikwunder" kommen, fragt sich Sirén, prominenter Kritiker von Finnlands wichtigster Tageszeitung "Helsingin Sanomat". Im hundertsten Jahr der staatlichen Eigenständigkeit Finnlands will er "ergründen, warum viele Finnen so gute Führungskräfte abgeben".

Selbstlob steckt schon in der Hypothese, und es fällt auf, dass der historische Rückblick des Buches erst mit dem Dirigenten Robert Kajanus um 1880 einsetzt, während der 1834 aus Deutschland eingewanderte Friedrich Pacius - Tomi Mäkelä widmete ihm 2014 beim Olms-Verlag eine große Monographie - mit seiner Pionierarbeit für das Musikleben Helsinkis als Marginalie behandelt wird. Dazu passt, dass Sirén im Vorwort Ungarn und Estland als weitere Dirigenten-Wunderländer anführt, finno-ugrische Völker also wie die Finnen selbst - Stammesstolz als Methode. Ob der Anteil von Spitzendirigenten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung dort signifikant höher ist, wäre statistisch erst zu prüfen.

Was Sirén stattdessen leistet, ist gleichwohl beachtlich: Er schreibt auf knapp eintausend Seiten nicht nur eine Kollektivbiographie der bedeutendsten finnischen Dirigenten der letzten 130 Jahre. Er legt zugleich wichtige Beiträge zur Geschichte des Symphoniekonzerts wie des Orchesters in Finnland vor. Die sechsunddreißig Musiker, die Kajanus im Jahr 1882 um sich scharte, wurden anfangs nur als Saisonkräfte für sieben Monate im Jahr bezahlt. Zusätzlich zu Konzerten mit "ernster Musik" spielten sie in Restaurants und konkurrierten in Hotels mit singenden Zauberinnen oder den Clowns Bibb & Bobb. Um den Sprachenstreit zwischen Schwedisch und Finnisch im russischen Großfürstentum Finnland zu umgehen, einigte man sich auf die Probensprache Deutsch. Deutsch- und russischstämmige Kaufleute waren die ersten Financiers des Orchesters, bis die Stadt Helsinki sich entschloss, dafür zu zahlen.

Die vier Dirigenten der Gründergeneration - Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt und Armas Järnefelt - waren sich oft nicht grün, wenngleich Sibelius über dem Konkurrenzgerangel stand, seit er als Nationalkomponist galt. Krankheiten, Intrigen, Frauengeschichten, Geld- und Ämterneid - alles breitet Sirén für diesen Rückblick quellenreich aus. Und es liest sich so kurzweilig wie Klatsch im Café Ekberg, dem Prominententreff in Helsinki.

Manches allerdings hat eine tragische Dimension, vor allem der Alkoholismus. Er kostete nicht nur Sibelius die Karriere als Dirigent, also die Tuchfühlung mit dem Orchester, was das Ende seiner Komponistenlaufbahn bedeutete. Das Alkoholproblem ist offenbar ein nationales. Paavo Berglund, gewiss einer der profundesten Dirigenten Europas, brachte sich durch die Trunksucht an die Grenze der Arbeitsfähigkeit; auch sein Rundfunksymphonieorchester gab sich zuweilen kollektiv dem Suff hin, bis die Qualität der Aufführungen bei Tourneen auf dem Spiel stand.

Man liest von diesen Exzessen wieder und wieder; liest von einem Umgangston bei Berglund, der jenem von Gutsherren mit Leibeigenen ähnlich gewesen sein muss; liest von Leif Segerstams Witzen über die Brüste von Musikerinnen und fragt sich: Sehen so die "guten Führungskräfte" aus, die Sirén uns vorstellen will?

Wenn man erfährt, dass der regelmäßige Alkoholkonsum bei der Auswertung von Dirigiervideos genauso zum Unterricht in der Klasse von Jorma Panula gehörte wie das Aufhacken eines Eislochs und das anschließende Bad im See, so versteht man, warum Frauen in dieser Welt eines virilen Exhibitionismus erst spät, mit Susanna Mälkki etwa, ihren Ort fanden. Sympathische Ausnahmen in diesem Macho-Club sind Sakari Oramo und Hannu Lintu. Sirén kritisiert das kaum, er analysiert auch weder die nationale Mentalität noch die Arbeitsstrukturen, die solchen Figuren Wettbewerbsvorteile verschaffen. Aber, und das ist verdienstvoll, er verschweigt das alles auch nicht.

Wenn er über Finnlands Dirigenten schreibt, was ihm aufgrund vieler Interviews sehr persönlich gelingt, dann geht es nicht nur um Klang und um lesenswerte Hinweise zur Probentechnik von Jorma Panula. Es geht auch um die materiellen und sexuellen Erzeugungsbedingungen von Kunst. Wir erfahren, dass Mikko Franck auf Mädchen in Uniform steht und besonders israelische Soldatinnen mag. Wir erfahren auch, dass für ein Konzert heute zwischen zwölf- und fünfzehntausend Euro Gage gezahlt werden. Und wir bemerken, dass kaum eine Dirigentenehe ein Leben lang hält.

Der Komponist Benjamin Schweitzer hat dieses Buch zusammen mit Roman Schatz und Ritva Katajainen aus dem Finnischen übersetzt, was angenehm auffällt, weil die Fachbegriffe alle richtig sitzen und die Sprache trotzdem flüssig bleibt. Die Antwort auf die Frage, warum so viele große Dirigenten aus Finnland kommen oder ob sie nur durch den britischen Agenten Jasper Parrott groß gemacht worden sind, kann Vesa Sirén nicht abschließend klären. Sein Buch ist aber ebenso fesselnd wie erschreckend, ebenso unterhaltsam wie ernüchternd, nicht nur für Finnlandfreunde, sondern für alle, denen Musik nahe ist.

JAN BRACHMANN

Vesa Sirén: "Finnlands Dirigenten". Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen.

Aus dem Finnischen von Ritva Katajainen, Benjamin Schweitzer und Roman Schatz. Scoventa Verlag, Bad Vilbel 2017. 992 S., Abb., geb., 49,90 [Euro].

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