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Port-au-Prince, Anfang 2004, Jahr der zweihundertjährigen Unabhängigkeit Haitis. Der Student Lucien Saint-Hilaire begibt sich aus dem Slum, in dem er wohnt, zu einer Demonstration. Die Stimmen der Personen, denen er begegnet, und die, mit denen er im Geist Zwisprache hält, treten in Dialog zu seinen Gedanken und bilden eine Typologie der haitianischen Gesellschaft. Vor dem Leser, der Lucien Saint-Hilaire bis zur letzten Polizeiattacke begleitet, entsteht das Bild eines zutiefst zerrissenen Landes, aber auch der erneuernden Kräfte.

Produktbeschreibung
Port-au-Prince, Anfang 2004, Jahr der zweihundertjährigen Unabhängigkeit Haitis. Der Student Lucien Saint-Hilaire begibt sich aus dem Slum, in dem er wohnt, zu einer Demonstration. Die Stimmen der Personen, denen er begegnet, und die, mit denen er im Geist Zwisprache hält, treten in Dialog zu seinen Gedanken und bilden eine Typologie der haitianischen Gesellschaft. Vor dem Leser, der Lucien Saint-Hilaire bis zur letzten Polizeiattacke begleitet, entsteht das Bild eines zutiefst zerrissenen Landes, aber auch der erneuernden Kräfte.
Autorenporträt
Lyonel Trouillot wurde 1965 in Port-au-Prince geboren, wo er noch heute lebt. Nach einem Jurastudium wandte er sich ganz seiner eigentlichen Leidenschaft, der Literatur, zu. Er schreibt Lyrik und Prosa in kreolischer und französischer Sprache. Seine Romane, etwa "Thérèse en mille morceaux", "Les enfants des héros", "L'amour avant que j'oublie", "Yanvalou pour Charlie" sowie "La Belle Amour humaine" machten ihn international bekannt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Als Mitglied und Sprecher des Collectif Non, einer Initiative von haitianischen Intellektuellen, gehörte er zu den wichtigsten Opponenten gegen das Regime von Jean-Bertrand Aristide.Lyonel Trouillot lehrt französische und kreolische Literatur an der Universität Port-au-Prince.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2012

Die karibische
Tragödie
Lyonel Trouillots pessimistischer
Roman über seine Heimat Haiti
Der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Haitis von Frankreich am 1. Januar 2004 stand ganz im Zeichen einer Logik, die die Landesgeschichte seit der Befreiung durch General Toussaint Louverture kontinuierlich bestimmt: Bei Studenten-Protesten gegen Korruption, Armut und staatlicher Willkür unter dem autokratisch regierenden Präsidenten Jean-Bertrand Aristide kam es vor dem Regierungspalast zu Ausschreitungen, denen mehrere Studenten zum Opfer fielen. Nach weiteren Aufständen, die Haiti an den Rande des Bürgerkriegs brachten, verließ Präsident Aristide das Land – unter der Behauptung, von den Vereinten Nationen gekidnappt worden zu sein. Seither steht der Karibik-Staat unter der Kuratel der Staatengemeinschaft, aber auch die über 10 000 Soldaten, Beamten und Polizisten sind machtlos gegen die weitere Ausbreitung von Elend und Gewalt. Die Zerstörungen Haitis durch Naturkatastrophen wie das verheerende Erdbeben im Januar 2010 wirken da fast wie die zynische Pointe einer jahrhundertelangen Geschichte von blutigen Umstürzen, Ausbeutung, Armut und Elend.
  Der 1954 in Port-au-Prince geborene Literaturprofessor, Lyriker und Romancier Lyonel Trouillot hat unter dem Eindruck des Umsturzes von 2004 in seinem Roman „Jahrestag“ denjenigen eine Stimme gegeben, die längst nicht mehr miteinander sprechen: die reiche Oberschicht, verarmte Bildungsbürger, Mitglieder krimineller Banden, verelendete Massen, und die von der modernen Zivilisation weitgehend abgekoppelte Landbevölkerung. Dabei betreibt Trouillots Roman, der acht Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich nun ins Deutsche übersetzt wurde, keineswegs bloß eine literarische Aufarbeitung der blutigen Ausschreitungen zum Staatsjubiläum. Trouillot genügen drei Stunden, um den Kreislauf von Hass, Gewalt und Rache sowie die Spaltungen und zerstörerischen Mechanismen der haitianischen Gesellschaft aufzudecken.
  Am Morgen des 1. Januar 2004 verlässt der 24-jährige Student Lucien seine Wohnung in der Hauptstadt, um sich dem Demonstrationszug gegen Aristide anzuschließen. Sein jüngerer Bruder Ezekiel, der sich in seiner kriminellen Bande den Kampfnamen Little Joe zugelegt hat, warnt ihn, dass die Staatsmacht die Demonstranten ins offene Messer laufen lassen wird. Er muss es wissen, schließlich wird seine Gang dafür bezahlt, eine Eskalation herbeizuführen, auf die die Sicherheitskräfte des Regimes dann mit ungehemmter Gewalt reagieren können. Auf seinem Weg zum Champs de Mars vor dem Präsidentenpalast begegnet Lucien verschiedenen Personen – seinem Lebensmittelhändler, einem Arzt, dessen verzogenem Sohn er Nachhilfestunden gibt, und einer ausländischen Journalistin, die über die Proteste berichten will. Drei Stunden später liegt Lucien tot auf der Straße, wie von seinem Bruder vorhergesagt, getroffen von einer der Polizeikugeln, die blindlings in die Menge gefeuert wurden.
  Indem er die Handlungselemente auf ein Minimum reduziert und die wenigen Begegnungen Luciens an jenem Morgen wie unter dem Mikroskop seziert, blickt Trouillot seinem Volk umso tiefer in die verwundete Seele. Da ist die „unhörbare Unterhaltung“ zwischen dem bettelarmen Studenten Lucien und dem Arzt aus der reichen Oberschicht, die bei der Übergabe des Nachhilfe-Honorars höfliche Floskeln tauschen, und dabei ihre „offensichtliche Verachtung“ füreinander verschweigen, weil sie gleichgültig in ihrer jeweils „anderen Welt“ leben. Und auch der Lebensmittelhändler, bei dem Lucien seine Zigaretten kauft, versteht nicht, was aus seinem guten alten Port-au-Prince unter Papa Doc, „als noch Ordnung herrschte“, heute geworden ist, und wieso die Demonstranten ausgerechnet am Jahrestag der Unabhängigkeit auf die Straße gehen müssen.
  Wie Lyonel Trouillot in den einfachen Kauf einer Schachtel Zigaretten die Zerrissenheit der haitianischen Gesellschaft hineinlegt, ist atemberaubend. Interaktion, soziale Kohäsion, bürgerliches oder republikanisches Bewusstsein scheitert bei Trouillot am Elend, in dem jeder allein ums Überleben kämpft. Die Journalistin aus dem Ausland findet wenigstens „am Klima etwas Geniales“. Lucien weiß, dass über Haiti die Sonne längst nicht mehr scheint. Trouillot knüpft mit nur wenigen Figuren ein feines Netz aus Missverständnissen, Gleichgültigkeit, Egoismus sowie Hoffnungen und deren Enttäuschung, das Haitis Gesellschaft gefangen hält.
  Bereits das Vorwort des Romans kündigt an, dass „mehr Stimmen als Anliegen“ zu hören sein werden. Diese Stimmen, die Trouillot kunstvoll in Luciens Bewusstsein zusammenführt, verkünden ebenso unterschwellig wie unerbittlich, was in Haitis Gesellschaft nach über 200 Jahren Chaos und Gewalt zerbrochen ist. „Die Dinge haben keinen Grund. Man muss nur hinsehen“, legt Trouillot seinem Helden in den Mund, der bis kurz vor seinem Tod davon träumt, einen Roman zu schreiben „dessen Held das Schweigen“ ist, „ein Buch des Blicks, das sich den Lärm erspart“. Genau dieses Buch hat Lyonel Trouillot geschrieben und dem Schweigen eine Stimme gegeben.
  
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
    
Lyonel Trouillot: Jahrestag. Roman. Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt Verlag, Trier 2012. 96 Seiten, 11,90 Euro.
Drei Stunden, in denen sich
die ganze Zerrissenheit bündelt
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Lyonel Trouillot präsentiert in seinem Roman "Jahrestag" ein ziemlich düsteres Bild der haitianischen Gegenwart und Vergangenheit, findet Cornelius Wüllenkemper. Der Roman spielt im Jahr 2004, als es zum zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich zu Aufständen gegen Armut und Korruption kam. Drei Stunden schneide Trouillot aus dem Leben eines Studenten, der während der Niederschlagung der Proteste sein Leben verliert. Den Rezensenten fasziniert, wie der Autor in dieser kurzen Zeitspanne mittels detaillierter Betrachtungen die ganze "Zerrissenheit der haitianischen Gesellschaft" offenlege. Erschütternd findet Wüllenkemper hier erzählt, wie jede republikanische Bewusstsein oder Engagement am Elend der Bevölkerung scheitert, in dem jeder für sich allein ums Überleben kämpft.

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"'Die Dinge haben keinen Grund. Man muss nur hinsehen', legt Trouillot seinem Helden in den Mund, der [.] davon träumt, einen Roman zu schreiben, 'dessen Held das Schweigen ist', 'ein Buch des Blicks, das sich den Lärm erspart'. Genau dieses Buch hat Lyonel Trouillot geschrieben und dem Schweigen eine Stimme gegeben." (Cornelius Wüllenkemper, Süddeutsche Zeitung)