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Produktdetails
  • Verlag: Semele Verlag
  • Seitenzahl: 223
  • Abmessung: 21mm x 140mm x 215mm
  • Gewicht: 340g
  • ISBN-13: 9783938869093
  • ISBN-10: 3938869097
  • Artikelnr.: 20853289
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2007

Gleichheit im Freudenhaus
Ist der Pornograph und Sozialist Charles Fourier „aktuell”?
In seinen Berichten über die „Französischen Zustände” hat Heinrich Heine das Bild seines Zeitgenossen Charles Fourier festgehalten, wie er in abgetragenen Kleidern an den Pfeilern des Palais Royal vorübereilt, „die Taschen schwer belastet, so daß aus der einen der Hals einer Flasche und aus der anderen ein langes Brot hervorguckten”. Heines melancholische Skizze ist ein genaues Porträt. Neben den Zeichen der Vereinsamung vergisst er auch das priapische Symbol des ragenden Brotes nicht, das auf die eudämonistischen, zuweilen aber auch promiskuitiven Züge von Fouriers Soziallehre anspielt.
Dieser Mann, den das fortschrittsbegeisterte 19. Jahrhundert neben Hegel gestellt hat, war ein echter Pornograph und zugleich ein überzeugter Feminist, er war Eudämonist und Utopist, vor allem aber und in erster Linie ein Sozialist in der doppelten Bedeutung, die der Begriff in seiner Zeit noch besaß: sowohl schwärmerischer Anhänger einer Gesellschaft der Gleichen als auch Reißbrett-Konstrukteur einer neuen, gerechten und auf den vermeintlich zeitlosen Gesetzen des Sozialen gründenden Ordnung.
Allerdings war Fourier weder ein Marx noch ein Proudhon, erst recht kein Systemdenker vom Range Hegels. Als das Haupthindernis für die Neuordnung der sozialen Welt bestimmte er die „Zivilisation” – das Dasein der Kleinbürger, die Verhaltenslehren der Industrie, die paternalistische Unterdrückung. Im Rahmen einer Stufentheorie der Geschichte, wie sie vor ihm bereits Vico und dann Auguste Comte propagiert hatten, bezeichnet Fouriers „Zivilisation” sowohl das Stadium der Gegenwart als auch den Wendepunkt zur künftigen Stufe der „Harmonie”. Vor diesem Hintergrund eines von natürlichen Gesetzen getragenen Fortschritts setzt Fourier alles daran, jenen „Zweifel”, den der Cartesianismus methodisch gebändigt und für die Zwecke rationaler Erkenntnis eingesetzt hatte, zu entgrenzen und direkt „auf die Zivilisation anzuwenden”. Die rücksichtslos eingesetzte Rhetorik der Kulturkritik ist das Mittel, um dieses verhasste, zutiefst lustfeindliche und kleinkarierte Stadium der Zivilisation so schnell wie möglich zu überwinden.
Fourier war ein Phantast, und es ist leicht, diesen Mann mit dem Weißbrot dem Gespött auszusetzen. Er wollte nicht nur die Sahara landwirtschaftlich erschließen, nicht nur die Geschlechterverhältnisse nach den Prinzipien eines matriarchalisch geführten Freudenhauses regeln, er wollte auch die Meere in Limonade verwandeln und den Seefischen die klebrige Süßigkeit schmackhaft machen. Die Fische sollten fliegen, Raubtiere dem Menschen dienstbar sein. Fouriers Phantasien bestätigen den Vorstellungszusammenhang der prästabilierten Harmonie, dem er unbeirrbar anhing. Wie die bösen Tiere sollten in diesem System auch die bösen Menschen zum Nutzen des Gemeinwohls einsetzbar sein – einfach dadurch, dass die Kleingruppe, die berühmte „Phalanx”, dem Einzelnen den zur Entfaltung seiner individuellen Möglichkeiten geeigneten Ort anweist. In der Grausamkeit Neros erkannte und pries Fourier das Talent zum Schlachter, und wenn der Wüterich erst einmal gelernt habe, mit Futtermitteln zu hantieren, werde er einen perfekten Landwirt abgeben.
Solche Beispiele zeigen, dass Fourier die Illusionen, die er attackierte, vielfach teilte und neuen Illusionen den Weg bahnte. Die „große Abweichung”, die seine Kulturkritik verkündete, gipfelt im strengen Regiment einer Ordnungsutopie, deren Bestandteile von den stählernen Bändern „des sozialen Mechanismus” zusammengehalten werden.
Martin Burckhardt, der Herausgeber der vorliegenden Werkauswahl, glaubt seinem Helden einen Gefallen damit zu tun, wenn er ihn als Pionier vorstellt. Fourier habe die Ökonomien des Begehrens und der Aufmerksamkeit vorweggenommen, und schon bei ihm seien Grundbegriffe der Psychoanalyse und der Medientheorie zu finden. Derlei Behauptungen wirken, wie übrigens auch der alberne Titel dieser Auswahl, recht bemüht und offenbaren ein fragwürdiges Verständnis von Aktualität. Nicht die zufällige Übereinstimmung mit der heutigen Zeit und dem, was sie für gut und richtig hält, macht ein Werk aktuell, sondern die Herausforderung, die es trotz seiner Fremdheit für uns sein kann. Walter Benjamin hat die Vergegenwärtigungsleistung historischen Denkens mit dem Beiseitewälzen eines jahrzehntelang im Waldboden ruhenden Steins verglichen. Die Faszinationsgeschichte der Moderne, die in Fourier einen wichtigen Zeugen hat, müsste den Abdruck in seiner Frische und Deutlichkeit zeigen, den dieser wilde Träumer im Erwartungsraum seiner Zeit hinterlassen hat. RALF KONERSMANN
CHARLES FOURIER: Der Philosoph der Kleinanzeige. Ausgewählt und kommentiert von Martin Burckhardt. Semele Verlag, Berlin 2006. 222 S. , 23,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Bis heute bekannt ist der französische Philosoph Charles Fourier als "Frühsozialist". Er liebte die Blumen, schrieb vielerlei und war als Erbe eines Vermögens auf Einkünfte nicht angewiesen. Der Band sammelt Fourier-Texte, die bisher nicht leicht zugänglich waren, da selbst aus den von seinen Anhängern besorgten Ausgaben die anstößigen Passagen oft getilgt waren. Was Anstoß erregt hat, dürfte wohl seine Insistenz auf Eros und Libido als Kern- und Triebkraft allen Handelns und Wirtschaftens gewesen sein, vermutet der "upj" zeichnende Rezensent. Angesichts der entschiedenen Offenheit Fouriers könne einem gar Freud nur als "deutschzüngiger Nachbeter" vorkommen. Ausdrücklich gelobt wird auch der Herausgeber Martin Burckhardt, der den Band "seelenvoll begleitet".

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