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Als "innerlich unerlöst" bezeichnet der Übersetzer Stefan Zweig Henry Barbusses Frühwerk Die Schutzflehenden. Nicht ganz zu unrecht. In der unsicheren und melancholischen Suche nach Wahrheit, Hoffnung und Liebe scheinen sich der Autor und Maximilian, der junge Protagonist, zu gleichen. So atmet der Roman noch die Wucht des unmittelbar Erlebten. Er erzählt in der Tradition des Entwicklungsromans von einer Kindheit des sprachlosen Glücks, einem Schulgebäude, das Maximilian als Gefängnis empfindet und aus dem er sich mittels einer selbstgebauten Bombe freisprengen will, von erster Liebe und…mehr

Produktbeschreibung
Als "innerlich unerlöst" bezeichnet der Übersetzer Stefan Zweig Henry Barbusses Frühwerk Die Schutzflehenden. Nicht ganz zu unrecht. In der unsicheren und melancholischen Suche nach Wahrheit, Hoffnung und Liebe scheinen sich der Autor und Maximilian, der junge Protagonist, zu gleichen. So atmet der Roman noch die Wucht des unmittelbar Erlebten. Er erzählt in der Tradition des Entwicklungsromans von einer Kindheit des sprachlosen Glücks, einem Schulgebäude, das Maximilian als Gefängnis empfindet und aus dem er sich mittels einer selbstgebauten Bombe freisprengen will, von erster Liebe und sexuellem Erwachen, von Tod und Verlusterfahrung. Über allem steht eine philosophisch-religiöse Sinnsuche, die in einem vehementen atheistischen Glaubensbekenntnis nur ihr vorläufiges Ende findet.
Autorenporträt
Henri Barbusse, geb. 1873 in Asniere/Frankreich, Schriftsteller, Theaterkritiker und Redakteur vd veröffentlichte Romane, Erzählungen und politische Reportagen. Der Autor verstarb 1935 in Moskau.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2006

Die schmale Unendlichkeit
Stefan Zweig als Übersetzer: Der Erstlingsroman von Henri Barbusse „Die Schutzflehenden” und das Ende des Fin de Siècle
Die Fälle, wo reine Literatur im Lauf eines Schriftstellerlebens sich politisch einfärbte, sind in Frankreich zahlreicher als in Deutschland. Gerade die Generation von André Gide fand wiederholt den Weg von Symbolismus und psychologischer Innenschau zum politischen Engagement. Der 1903 erschienene Erstlingsroman „Die Schutzflehenden” von Henri Barbusse ist ein solches Beispiel. Es zeigt den Aufbruch zu jener Entwicklung, die den später pazifistischen und kommunistischen Autor mit dem Antikriegsroman „Das Feuer” 1916 weltberühmt machte.
Maximilian, der junge Held des Buchs, strebt nicht nach gewöhnlicher Nützlichkeit in der Welt, sondern will „mit der Wahrheit selbst sich befassen” – doch ohne jede übersinnliche Schwärmerei, denn „er glaubte nur an das, was vorhanden war”. Vorhanden für ihn. Im Raum dieser schmalen Unendlichkeit zwischen Absolutheitsdrang und konkretem Erlebnisdurst wächst das Fin-de-Siècle-Kind auf dem noch ländlichen Montmartre heran. Das Dämmerlicht – halb, weil er es liebt, halb, weil im einfachen Haushalt abends an Kerzen gespart wird – bestimmt von Anfang an seine Welt.
Von der Schule ferngehalten, damit seine Persönlichkeit sich freier entfalte, sieht man ihn an der Hand des kunstverständigen Vaters durch die Gassen von Montmartre wandern. Was das Kind von diesen Gängen nach Hause trägt, ist jedoch nicht die Erinnerung an Gestalten, Farben, Namen, sondern eine „Art ehrfürchtiges Vergessen”: gegenstandslose Gestimmtheit, eher auf die Menschenlandschaft der Vorstädte als auf die Größe unsterblicher Natur ausgerichtet.
So entspringt dieser weltlose Entwicklungsroman aus einer Art Schwebezustand des Erzählens. Die Spaziergänge mit dem Vater und die Szenen abendlichen Vorlesens in der Stube, wo die Umarmung des Schlafengehens von Vater und Sohn im Schattenbild an der Wand ins Pathetische wächst, bleiben zeitlos allgemein – bis plötzlich an einem sich neigenden Augusttag doch etwas besonderes geschieht: Der Vater möchte ernsthaft mit dem Kind sprechen. Er hat bemerkt, wie sehr die dämmernde Empfindsamkeit seines Sohns in ihrer reinen Inwendigkeit sich vor der Welt verschließt. Der Knabe muss zur Schule, entscheidet der Vater. Das wirft das Romangeschehen auf eine neue Bahn.
Die Enge des Schulhofs und die Kleinlichkeit des Unterrichts wecken im Kind Widerstandsgeist. Aus Nachbarsgesprächen hat er von den Aktionen anarchistischer Gruppen gehört. Wo ein Hanno Buddenbrook sich ans Klavier setzt, bastelt Maximilian eine Bombe. Und mit der Explosion in der Mauer des Schulhauses bricht sein Ich auf: „Ich war, ich bin. Man hat mich gesehen”. Doch die Bombenexplosion ist eher dürftig und das Kind lernt, wie geringfügig die äußeren Dinge gegenüber der Vorstellung sind – „darin liegt die Lüge der Größe”. Mit dieser Einsicht stößt der Knabe zur Wirklichkeit vor. Erstmals spricht er beim Nachhausegehen den oft gesehenen bettelnden Waisenknaben auf der Straße an. „Du bist sehr arm, nicht wahr”, sagt er zu ihm, mehr nicht. Mit dem Wort „Armut” aber findet er aber einen Schlüssel zur Welt. „Seine eigene Armut war, wie für diesen Kleinen, größer als die Dinge”.
Die wandernde Nebelwand
Damit ist in diesem frühen Roman von Henri Barbusse das Thema angeschlagen, das im naturalistisch geprägten Folgeroman „L’Enfer” 1908 Aufsehen erregte: die soziale und existentielle Misere der Menschen. Diese Einsicht führt den jungen Helden in eine neue Freundschaft, die direkte Rede, wiederholte Ereigniswenden, mitunter Spannung mit sich bringt, mag auch das absolutheitssüchtige Selbstweh sich bis zuletzt wie eine Nebelwand durchs Buch ziehen. „Hier fühlt man noch das Suchen, das Sichselbstsuchen eines, der sich im entscheidenden Augenblicke gefunden hat”, schrieb Stefan Zweig 1932 im Nachwort seiner Übersetzung über Autor und Roman: Die Generation von Barbusse habe in ihrer verworrenen Ich-Befangenheit anders gefragt als spätere Generationen und sei dann mitsamt ihrer Wehleidigkeit den realen Problemen des Kriegsausbruchs doch besser gewachsen gewesen als die „Berufsoptimisten und Hurra-das-Leben-Schreier des Vorkriegs”.
Zweig trägt mit seiner einprägsamen, mitunter raunenden Übersetzung dazu bei, den nach innen wühlenden Empfindungsnebel noch zu verdichten. Oft verliert man über der Sprache Stefan Zweigs den trockeneren Klangraum des Originals und manche Stilwendungen wirken antiquiert. Dennoch bringt dieses lange vergriffene Werk und diese Übersetzung Lesefreude und Gewinn. Über sein dokumentarisches Gewicht hinaus verrät dieser Roman, wie aus Empfindungsschwaden politisches Gespür sprießen kann. JOSEPH HANIMANN
HENRI BARBUSSE: Die Schutzflehenden. Der Roman einer Vorkriegsjugend. Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Stefan Zweig. Schwartzkopff Buchwerke, Berlin 2005. 261 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Als seltsamen und eigenwilligen Roman lobt der mit "rox" zeichnende Rezensent Henri Barbusses "Schutzfliehende". Zwar könne die Geschichte um eine in Paris lebende "unheimlich symbiotische Kleinstfamilie" - einen Vater und seinen die Schule verschmähenden Sohn - mit einer Vielzahl "literarischer Etüden von größter Innerlichkeit bei gleichzeitiger Verlorenheit" aufwarten, wirklich passieren tue aber nichts, und wenn doch irgendein Ereignis die Handlungsarmut durchbreche, dann falle es dem Leser schwer, es nachzuvollziehen. Und doch kann man sich in Barbusses Sätzen verlieren, erklärt der Rezensent, auch dank der kongenialen Übersetzung von Stefan Zweig.

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