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Produktdetails
  • Verlag: Klöpfer & Meyer Verlag
  • Seitenzahl: 352
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 555g
  • ISBN-13: 9783937667041
  • ISBN-10: 3937667040
  • Artikelnr.: 12416631
Autorenporträt
Friederike Waller, 1934 in Chemnitz geboren, lebt in Tübingen, engagiert sich seit vielen Jahren in der Hospiz-Bewegung und hat mehrere Bücher publiziert.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2004

Nicht göttlicher als andere Übel
Fallsucht, Grand Mal, Heilige Krankheit: Das Rätsel der Epilepsie ist ungelöst
„Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens”. Der Satz von Novalis steht dieser Epilepsie-Anthologie voran. Es ist wahr, bei keiner Krankheit sonst wird für den anderen so augenfällig, dass der Betroffene anfallsweise von fremden Mächten ergriffen wird. So muss es scheinen, daher die Rede vom Morbus sacer, der heiligen Krankheit: Nicht selbstverursacht ist sie, nicht simuliert, „jemand” hat einen gepackt. Für die Epilepsieforschung, für das Verständnis und die Therapie dieser Krankheit bedeutet es eine immense Schwierigkeit, dass etwas, was in der Tradition das „ganz andere” ist, einen Menschen ergreift. In der Antike bedurfte es des Mutes der Dämonenaustreiber, um den vermeintlich Besessenen zu „heilen”.
Dieses Verfahren blieb jedoch immer zwiespältig, denn es hieß, nur der Oberste der Dämonen könne sie auch austreiben. Bekanntlich war Jesus in seinen Anfängen Spezialist darin, Dämonen auszutreiben. Und da er nicht zu den obersten Dämonen gezählt werden wollte, sollte diese Tätigkeit geheim bleiben, und er verbot den Jüngern, davon zu erzählen.
Um der „heiligen Krankheit” nicht nur ehrfurchtsvoll zu verfallen, sondern die „Natur” in ihr zu sehen, bedurfte es des „Mutes”. Den zeigten die frühen Ärzte. Ein ganz erstaunliches Zeugnis der griechischen Aufklärung ist eine Schrift aus dem Corpus Hippocraticum, verfasst um 400 vor Christus. Der Autor - es ist nicht ganz gesichert, ob Hippokrates selbst oder einer seiner Anhänger - schreibt über die so genannte heilige Krankheit: „Um nichts halte ich sie für göttlicher als die anderen Krankheiten, sondern sie hat eine natürliche Ursache wie die übrigen Krankheiten.”
Dieser rationale Zugang hat seine Nachfolge in der heutigen Medizin. Sie macht möglich, dass die großen, dramatischen epileptischen Anfälle viel seltener geworden sind. Die Antiepileptika sind heute ziemlich genau zu dosieren. Wenn es aber doch zum Anfall kommt - etwa weil die Betroffenen ausprobieren wollen, ob sie vielleicht schon geheilt sind oder wenigstens weniger Medikamente brauchen, und deren Einnahme aussetzen - dann bleibt er so unheimlich wie eh und je. Die naturwissenschaftliche Begründung erklärt die Phänomene nicht weg, und der Eindruck, den sie außerhalb der Klinik machen, ist heute kaum anders als in früheren Zeiten. Hier stößt also alle Aufklärung an ihre Grenzen. In Schulklassen mit Epileptikern werden die Schüler alle zuvor aufgeklärt - wenn dann plötzlich ein Anfall hereinbricht, ist der Schrecken indes nicht weniger groß als bei den Nichtaufgeklärten. Und bis heute gibt es keine einheitliche Erklärung der Epilepsie. Es gibt Muster der Anfälle, aber keine Kausalerkenntnis.
In der literarischen und historischen Überschau über die Krankheit, die Friederike und Hans Dierck Waller und der Medizinforscher Georg Marckmann herausgegeben haben, findet dieses Unerklärliche, der „Griff von Mächten”, der die Autonomie aussetzt, seinen gebührenden Platz. Und doch wird hier nichts zum Morbus sacer zurückverherrlicht. Vielmehr wird der Gang dieser Anthologie durch die Literatur von der Epilepsie zu einem Gang durch die Geschichte der Entfremdung des Menschen. Denn um extreme Entfremdung handelt es sich, wenn ein Mensch so sehr der Kontrolle über sich selbst beraubt ist, dass er sich im Extremfall die Zunge abbeißt.
Dies zeigt sich etwa bei Thomas Mann, dessen Felix Krull in einer berühmten Szene den Anfall vortäuscht, als er zum Militär eingezogen werden soll. Dies ist Simulation, steht aber sozusagen auf einem Neigungsfundament. Bei seiner Performance vor der Musterungskommission kommt ihm zu Hilfe, dass er schon einmal mit Erfolg simuliert hat - als er, der nicht Geige spielen kann, den kleinen Wundergeiger gemimt hat. Thomas Mann will zeigen, dass etwas von dieser Art Betrug in der Figur des Artisten steckt. Vielleicht macht der Gebrauch der Epilepsie durch Felix Krull auch etwas von der mittelalterlichen Abwehr gegen sie - als Strafe für Sünder - verständlich: In einem Trugmanöver hatte Satan einen Menschen ergriffen, und deshalb verteufelte man die Krankheit selbst.
Die Aura des Schreckens bleibt
Große Autoren haben die Herausgeber als Zeugen aufgerufen: Aischylos, Platon, Plutarch, Bibel und Koran, Hildegard von Bingen, Dante, Shakespeare, Stendhal, Joseph Roth, Elsa Morante und viele andere. Für all diese Stimmen gilt, dass sie der Krankheit den Schrecken nicht ausgetrieben haben. Die Epilepsie behält trotz aller medizinischen Entzauberung eine Aura - ein Begriff übrigens, der gewissermaßen aus dem Herzen der Epilepsie stammt. Dostojewski, selbst Epileptiker und Schöpfer unvergesslich literarischer Epileptiker - des Fürsten Myschkin im „Idioten” und des Mörders Smerdjakow in den „Brüdern Karamasow” - soll die den Krampfanfällen vorausgehenden Glücksgefühle der Aura sehr genossen haben.
Hier sind wir an einer Nahtstelle zu unbewussten Wünschen, psychogenen Ursachen. Schon Freud grübelte über den Zusammenhang zwischen hysterischen und epileptischen Formen. Auf die Spitze getrieben wird die extreme Entfremdung von Ingeborg Bachmann in ihrem Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime „Der Idiot”, wo das Außersichsein zugleich zu einem Wahrheitsmenetekel gemacht wird.
Wer Epilepsie so sehr symbolisch nimmt, ist natürlich in Gefahr, sie zu einer Heiligsprechung der Entfremdung zu stilisieren. Zur Begegnung dieser Gefahr haben die Herausgeber den Band mit Einleitungen versehen, die der Wallers zeichnet die literarischen Gesichter der „Heiligen Krankheit” nach, Marckmanns befasst sich mit medizinischen und sozialpsychologischen Aspekten. Das Ergebnis ist eine kundig eingefasste Zusammenstellung menschlicher Extremzustände, zu der mit viel Gewinn keineswegs nur Fachleute oder Literaturforscher greifen können, sondern alle, die diesen Teil unserer Existenz nicht von sich weisen wollen.
CAROLINE NEUBAUR
FRIEDERIKE WALLER, HANS DIERCK WALLER, GEORG MARCKMANN, Hrsg.: Gesichter der „Heiligen Krankheit”. Die Epilepsie in der Literatur. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2004. 349 Seiten, 29 Euro.
„Pilgerfahrt der Epileptikerinnen” (anonymer Stich)
Foto: Bettmann/Corbis
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die moderne Medizin konnte die Epilepsie, die "heilige Krankheit", zwar entzaubern und ihre Folgen lindern, sie hat sie bisher aber immer noch nicht erklären können, weiß Caroline Neubaur. "Es gibt Muster der Anfälle, aber keine Kausalerkenntnis." Die unerklärliche Aura bleibt. Mit Gewinn hat die Rezensentin daher diesen von Georg Marckmann, Friederike und Hans Dierck Waller zusammengestellten literarischen und historischen Überblick gelesen, der Texte von Aischylos über Platon, Dante, Shakespeare, Stendhal und Dostojewski bis hin zu Elsa Morante umfasst. Dank der überzeugenden Einleitungen der Herausgeber sieht Neubaur im Ergebnis eine kundige "Zusammenstellung menschlicher Extremzustände" vorliegen, die nicht nur Fachleute interessieren sollte.

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