Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 19,99 €
  • Gebundenes Buch

Johann Christian Müller hat in seinem ganzen Leben nichts wichtiges erlebt oder getan - mit einer Ausnahme: Er hat dieses ereignis- und tatenarme Leben präzise bis ins kleinste Detail hinein aufgeschrieben und damit ein einzigartiges Dokument der Sozial- und Kulturgeschichte des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts geschaffen. Im ersten Band seiner Memoiren erzählt Müller von seiner Kindheit und den Schuljahren in Stralsund, vom Studium in Jena, Leipzig und Greifswald sowie von den Reisen, die ihn u.a. nach Weimar, Erfurt, Dresden und Hamburg führten. Es entsteht ein farbenfrohes und höchst…mehr

Produktbeschreibung
Johann Christian Müller hat in seinem ganzen Leben nichts wichtiges erlebt oder getan - mit einer Ausnahme: Er hat dieses ereignis- und tatenarme Leben präzise bis ins kleinste Detail hinein aufgeschrieben und damit ein einzigartiges Dokument der Sozial- und Kulturgeschichte des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts geschaffen. Im ersten Band seiner Memoiren erzählt Müller von seiner Kindheit und den Schuljahren in Stralsund, vom Studium in Jena, Leipzig und Greifswald sowie von den Reisen, die ihn u.a. nach Weimar, Erfurt, Dresden und Hamburg führten. Es entsteht ein farbenfrohes und höchst unterhaltsames Bild vom Leben einer Handwerkerfamilie und eines Studenten in der ersten Jahrhunderthälfte. Der Leser erfährt von innigen Familienbanden und Rabauken an der Lateinschule, von Stubeneinrichtung und Hausrat, Mode und Nachtwäsche, Zahnschmerzen, Speisezetteln und Umgangsformen, Betten, Butterpreisen, Biersorten und Bildungsreisen, studentischen Schmausereien und Duellen, »leichtfertigen Weibspersonen«, Angst vor Räubern und miterlebten Hinrichtungen. Die sorgfältig kommentierte und durch Register erschlossene Edition des Textes stellt die Erforschung der Alltags- und Sozialgeschichte im Zeitalter der Aufklärung auf eine neue Grundlage.
Autorenporträt
Katrin Löffler, Dr. phil., Germanistin und Historikerin, lebt in Leipzig.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.04.2008

Kaum einer kehrt ungeschlagen heim
Ein Fernrohr ins 18. Jahrhundert: Johann Christian Müllers „Meines Lebens Vorfälle und Neben-Umstände”
Einen „Avanturier”, einen Abenteurer also habe er niemals abgegeben, versichert Johann Christian Müller, Pfarrer an der Heilig-Geist-Kirche in Stralsund, in der „Vorerinnerung” zu seiner Lebensgeschichte. Aber ist nur das Abenteuerliche des Aufschreibens wert? Was ist mit den Kleinigkeiten, den unbedeutenden Ereignissen, die im Leben eine so bedeutende Rolle spielen? Der Pfarrer will sie sich noch einmal vor Augen rücken, will an ihnen seine Gedächtniskraft erproben. Das Manuskript, das er zwischen 1763 und 1770 verfasst, nennt er „Meines Lebens Vorfälle und Neben-Umstände”. Er unterteilt es in vier Abschnitte: die Kindheit und Jugend in Elternhaus und Schule in Stralsund; die Universitätsjahre in Jena, Leipzig und Greifswald; die „Conditions”-Jahre als Hofmeister bei Adligen in Vorpommern; die Amtsjahre als Pfarrer in Stralsund. Als er zu schreiben beginnt, zählt er etwa 43 Jahre, als er 1770 aufhört, ist er ein Mann von fünfzig Jahren. Da ist nicht mehr viel Leben übrig. Im Jahre 1772 stirbt er.
Außergewöhnliches hat er nicht erlebt. Gäbe es die Nebenumstände nicht, Johann Christian Müller hätte nicht ganze 1554 Quartseiten so eng und dicht vollschreiben müssen. Für sich selbst, teils zur „ernstlichen Betrachtung”, teils zur „Belustigung”, will er das viele Papier gefüllt haben, rechnet aber wenige Zeilen später doch mit den Augen fremder Leser. Die kamen spät. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Auszüge publiziert. Erst jetzt wird das Manuskript vollständig veröffentlicht, in dem noch wenig normierten Schriftdeutsch des 18. Jahrhunderts, in dem es verfasst ist. Der erste von zwei Bänden ist in einer mustergültigen Edition des Lehmstedt Verlages erschienen: mit Worterklärungen, Sachkommentaren, Orts- und Personenregister sowie einem erhellenden Nachwort.
Ein in sich ruhendes Ich
Dieses Buch ist ein merkwürdiges, faszinierendes Dokument aus jener Epoche, in der das Leben und das Schreiben einander mehr und mehr zu durchdringen begannen. Das grammatische Ich schickte sich in Briefen und autobiographischen Aufzeichnungen an, eine literarische Großmacht zu werden, in den Selbstzweifeln der Frommen wurde die Innenwelt zum Schauplatz dramatischer Glaubenskämpfe.
Müller hat, anders als viele Pfarrer seiner Zeit, keine Predigten und Traktate veröffentlicht, auch keine gelehrten Kommentare zu einzelnen Bibelstellen. Für sein nachgelassenes Manuskript war das ein großes Glück. Dem Modell der Gelehrtenbiographie musste es sich nicht anbequemen. Gewiss, es hatte verlässlich in sich aufzunehmen, wann, wo und bei wem der Autor welche Kollegien belegte. Aber es konnte darauf verzichten, die geistige Seite der Bildungsgeschichte dieses protestantischen Theologen in den Vordergrund zu stellen. Kaum einmal wird hier umständlich der Inhalt eines gelesenen Buches erörtert oder das Thema eines Kollegs ausführlich referiert. Das Ich, das hier schreibt, ruht ungefährdet in der lutherischen Orthodoxie. Die lauernde Selbstbeobachtung der pietistischen Tagebücher und Autobiographien ist ihm fremd. Verlässlich bleibt es der folgsame Sohn des Vaters, des Schmiedes in Stralsund, der die Studienorte bestimmt und dem Sohn Tübingen verbietet, weil er dort unter den Einfluss der Herrnhuter geraten könnte.
Dieser Selberlebensbeschreiber blickt mit Wohlgefallen auf seine Jugend zurück. Aus allen Krankheiten und Versuchungen hat ihn die göttliche Vorsehung gerettet. Sein Ich ist nicht sich selbst auf der Spur, will nicht erzählen, wie es wurde, was es ist. Es ist vor allem ein Organ, das die erlebte Welt so vollständig wie möglich aus dem Gedächtnis heraufruft. Von Introspektion und Selbstvergewisserung entlastet, kann es alle Energien der Verschriftlichung des Lebens auf die Außenwelt konzentrieren: auf die Personen, mit denen es Umgang hat, auf die Räume, in denen es lebt, auf die Bestecke, mit denen es isst, auf die Kutschen, in denen es reist, auf den Degen, mit dem es ficht, auf die Lampe, mit der es liest, auf die Kleider, die es sich schneidern lässt.
Facettenreich tritt so dem Leser das Studentenleben im mittleren 18. Jahrhundert vor Augen. Die derben Scherze mit den Nachttöpfen lassen ahnen, welche Plage die Studenten für die Bürger sein konnten. Minutiös schildert Müller Tumulte und Handgreiflichkeiten, und, am eigenen Beispiel, das Duellwesen: „wer von Jena kommt ungeschlagen, der kan von großem Glücke sagen.” Er registriert die Usancen des Tabakrauchens und Biertrinkens, der Abendständchen und des Vivat-Rufens, die feinen Unterschiede im Grüßen und Komplimentemachen, nicht zuletzt gegenüber den Frauenzimmern. Er ist ein überaus genauer Beobachter der Preise in Jena wie in Leipzig, des Schuldenmachens, Anpumpens und Prellens der Studenten.
Bei den Augustinern in Erfurt
Zur Bildungslandschaft, in der gelegentlich tote Duellanten auf der Wiese liegen, gesellt sich das Relief der Konfessionen einschließlich der frommen Sezessionsbewegungen. Mit Kälte und Spott betrachtet der orthodoxe Lutheraner die Anhänger der Pietisten unter den Studenten in Jena. Aber er reist mit wachem Blick nach Halle, besichtigt das Waisenhaus August Hermann Franckes und die Synagoge der Juden. Zwischen Aufgeschlossenheit und Angst schwankend bewegt Müller sich bei einem Abstecher nach Erfurt durch die katholischen Klöster.
Vom Prior der Augustiner lässt er sich etwas in Stammbuch schreiben. Aber dann wird es unheimlich: „Ich muste ein paar Stuffen heruntesteigen, und kam in ein Zimmer, welches gantz schwartz ausgeschlagen, und nur von einer Lampe über einen Tisch oder Altar sehr dunckel erleuchtet wurde. Ich kante die verschlagene Höfligkeit derer Catholicken, ich wuste, wie sie manchen Lutheraner an der Seite gebracht, daß niemand seinen Auffenthalt erfaren können, und wie sie in der Zeit ihm zugesetzet.”
Aber machtvoller als die religiösen Gefährdungen, denen der künftige Pfarrer ausgesetzt ist, sind die moralischen. Zunächst naiv, bemerkt er nach und nach die Allgegenwart der Prostitution im studentischen Milieu, muss andauernd „leichtfertige Personen” und „Menscher” abwehren. Die Gefahr wächst mit dem Wechsel von der Universität Jena in das „galante” Leipzig, wo Müller übrigens auch bei dem berühmten Gottsched Vorlesungen hört, in Gestalt der Neuberschen Truppe die ihm nicht geheure Welt des Theaters kennenlernt und in dem Juristen Schriftsteller Theodor Johann Quistorp einen Vertrauten findet. Er porträtiert Quistorp als von Krankheit geplagten Hypochondristen. Quistorp selbst hat 1745 in Gottscheds „Schaubühne” ein Lustspiel „Der Hypochondrist” veröffentlicht, in dem die Aufklärung die Hypochondrie verjagt.
Johann Christian Müller behält seine Gesundheit bis zum Abschluss seiner Studienjahre, den er an der Landesuniversität in Greifswald absolviert. Sein wohltemperiertes Ich wird er als Pfarrer beibehalten, wenn er auf seine Lehrjahre zurückblickt. Dieses Ich mag so durchschnittlich und langweilig sein, wie es will. Sein Buch aber ist interessant, weil dieses Ich nur die transparente Scheibe ist, durch die der Leser in eine ferngerückte Welt blickt. LOTHAR MÜLLER
JOHANN CHRISTIAN MÜLLER: Meines Lebens Vorfälle und Neben-Umstände. Teil 1: Kindheit und Studienjahre (1720-1746). Herausgegeben von Katrin Löffler und Nadine Sobirai. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2007. 422 Seiten mit 52 farbigen Abbildungen, 29,90 Euro.
Zum Studentenleben im 18. Jahrhundert gehörten die Stammbücher, in die oft Bilder oder Zeichnungen eingelegt wurden. Hier eine Auswahl (von oben nach unten): 1. Vier Studentenypen: der galante Leipziger „Stutzer”, der fromme Hallenser „Mucker”, der Jenaer „Renommist” und der trinkfeste Wittenberger (Jena, um 1773). – 2. Ankunft des väterlichen Wechsels in der Studentenstube (Leipzig, 1775). – 3. Quae voluptas in amore: Schmauserei mit Wein und Weibern (Leipzig, um 1750). – 4. Ein Student wird davongejagt (Jena, um 1745) Fotos: Lehmstedt Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein "merkwürdiges, faszinierendes" Buch hat Lothar Müller mit diesen Aufzeichnungen des Pfarrers Johann Christian Müller aus den Jahren 1720 bis 1746 in den Händen gehalten, also aus jener Epoche, in der sich Leben und Schreiben "mehr und mehr zu durchdringen begannen". Und es ist die gleiche Epoche, in der sich das grammatische Ich aufmachte, eine "literarische Großmacht" zu werden, wie  Müller schreibt. Doch was den Rezensenten so an diesem Buch fasziniert, ist, dass mit Müller ein ganz und gar bescheidener Mensch schreibt, der sich eben nicht selbst in den Mittelpunkt seiner Aufzeichnungen rückt. Er schreibt über andere! Selten hat Müller so facettenreich etwa das studentische Leben oder das Duellwesen im 18. Jahrhundert vor Augen geführt bekommen. Und auch dass der Pfarrer nicht ausführlich Bibelstellen kommentiert, betrachtet der Rezensent als großes Glück, zu dem auch die mustergültige Edition des Lehmstedt Verlags mit ihren ausführlichen Erklärungen und Kommentaren beiträgt.

© Perlentaucher Medien GmbH