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Produktdetails
  • Akte Exil
  • Verlag: B & S Siebenhaar
  • Seitenzahl: 290
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 532g
  • ISBN-13: 9783934189478
  • ISBN-10: 3934189474
  • Artikelnr.: 08579231
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2001

Der Sommerhimmel? Nur gemalt!
Lektüre im Exil: Zwei neue Studien zu Walter Benjamin

"Swinging Benjamin" stand in knallbunten Lettern auf dem Einband eines Taschenbuchs aus dem Jahr 1973, dessen Umschlag ein psychedelisch verfremdetes Porträt des Titelhelden zierte. Aus der Feder des Musikkritikers und Popautors Helmut Salzinger stammend, dabei schmal und wohlfeil, begleite das Büchlein den Aufstieg Walter Benjamins zur Ikone unverbrauchten und für beinahe jede aktuelle Geisteslage anschlußfähigen Denkens. "Benjamin live" hieß das Eingangskapitel, das seinem Protagonisten geradewegs auf den Leib rückte, und "Nachspiel: Life live" das Schlußkapitel, das ihn zum postumen Zeugen der turbulenten Gegenwart bestellte. So viel Leben war nie um Walter Benjamin.

Drei Jahrzehnte später sind alle Wunschzeiten der Verbrüderung mit dem einsamen Mann von der Landstraße nach Port Bou dahin, und der vollständig edierte Benjamin schaut auf seine Leser und Kommentatoren aus ähnlich entrückter Ferne zurück wie jener "Erzähler", von dem es am Eingang des gleichnamigen Essays heißt, er sei "keineswegs durchaus gegenwärtig". Die Benjamin-Renaissance ist unterdessen in ein nachbarockes Stadium der Inschriftenkunde eingetreten, darin die Philologen den Relikten ihres Objekts wie arkadische Hirten den steinernen Resten von Grabmälern und Urnen begegnen: Dokumente werden entziffert, deren "Beziehung auf das Subjekt" - mit Benjamin gesprochen, der die Beobachtung an Briefwechseln festmachte - ganz "so bedeutungslos ist wie die Beziehung irgendeines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) auf die Person seines Urhebers". Im Schattenreich seines Fortlebens ist Walter Benjamins Lebens- und Arbeitsprogramm aufgegangen, und wie der chinesische Maler aus einem seiner Lieblingsmärchen ist er im selbstgemalten Bild verschwunden.

Zwei Neuerscheinungen machen den epigraphischen Antrieb zur Leitmelodie und laden zur Parallellektüre ein: "Was noch begraben lag" heißt eine von Geret Luhr herausgegebene Sammlung brieflicher und anderer Dokumente von Freunden und Bekannten, die mit Benjamin nach seiner Flucht aus Deutschland korrespondierten oder im Exil seine Gefährten und Gesprächspartner waren. Ein Briefbericht von Max Aron, der nach Kriegsausbruch mit Benjamin zusammen interniert war, bezeugt, wie fremdartig dieser bereits auf seine Zeitgenossen wirkte: "Es war etwas Würdevolles, sowohl in seiner Ruhe wie in seiner Haltung. Er paßte so gar nicht in diese Umgebung. Und da saß dieser Mann, als ob das Ganze ihn nichts anginge." Ein rührendes Bild der Gefahr erhielt der Vater von seinem Sohn Stefan, der einem Brief die Kritzelei einer kleinen Szene mit der Erklärung hinzufügte, dies sei "der Teufel, der die Zunge herausstreckt und an der Kette einen kleinen, spindelbeinigen Gelehrten fortführt. (Das ist Papa.)"

Mit dem Abdruck von an Benjamin gerichteten Briefen - sie stammen unter anderen von der geschiedenen Frau Dora, vom Jugendfreund Alfred Cohn, von der Freundin Margarete Karplus-Adorno sowie von den Liebhaberinnen Asja Lacis und Anna Maria Blaupot ten Cate - leistet der Band einen bescheidenen Beitrag zur Kompensation eines Defizits, denn die Briefedition Benjamins verzichtet auf die gleichrangige Wiedergabe der Gegenbriefe. Zu den schönsten Stücken in Luhrs Sammlung gehören die Briefe von Elisabeth Hauptmann. Den ungeduldig nach ihren persönlichen Befindlichkeiten Fragenden beschied sie mit einer souveränen Geste: "Ja, was soll ich Ihnen schreiben. Sie wissen, ich ... habe nie recht Dinge, die mich wirklich betreffen, zu Papier bringen können. Weil ich erst lange Zeit nachher immer erst davon reden kann, wenn ich überhaupt davon reden kann. Wissen Sie noch, ich habe Ihnen mal Verschiedenes aus meiner Kindheit erzählt, als diese längst vorbei war."

Unter zerstreuten und bis in die Leerräume zwischen den Zeilen und an den Seitenrändern im Frage-und-Antwort-Spiel des Lesens, Wiederlesens und Überschreibens von vielen Händen beschrifteten Blättern gräbt auch Alexander Honold: Seine Untersuchungen, die nicht nur gedanklich, sondern auch sprachlich aus der Flut der exegetischen und katechetischen Literatur herausragen, gelten Benjamins kometenhaften, auf ferne Korrespondenzen und extreme Konstellationen erpichten Lektüren im Kosmos eines persönlichen Literaturkanons, dessen Fixsterne Hölderlin, Goethe, Hebel, Kraus und Kafka hießen. Honold, der Benjamin liest, indem er sich zu dessen Mitleser macht, stellt seine Arbeit unter eine Devise, die Benjamin selbst bei Hugo von Hofmannsthal aufgelesen hatte: "Was nie geschrieben wurde, lesen."

"Nur am gelesenen Leben", befindet Honold über Benjamins Theorie und Praxis der Lektüre, die sich an durchweg kritischen Punkten der eigenen Biographie in literarische Überlieferungen einschreibt, ließe sich "vor und zurück blättern", und solche Lektüre könne zuweilen "den Eindruck vermitteln, die Kommunion mit dem Vergangenen sei möglich" - bis hin "zu einer Begegnung mit jener Trennungsmacht, die dabei zu überspringen wäre". Das ist nicht einmal weit entfernt vom brieflichen Modell des persönlichen Gedankenaustauschs: Denn wenn zwei ihre Verbindung zueinander brieflich pflegen, so tun sie das nur, weil sie vorübergehend oder dauerhaft voneinander getrennt sind. Dazwischen liegt nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit, die seit dem Schreiben und bis zum Empfang eines einzigen Briefes und erst recht bis zum Durchblättern eines ganzen Bündels vergeht: dieselbe Zeit, deren mortifizierender Fluß doch zu überwinden wäre.

An diesem Punkt setzt Benjamins Freiheitsbegriff ein, den er für seine literarischen und menschlichen Beziehungen reklamiert, um so mehr, als letztere mit der zunehmenden Vereinsamung im Exil auf den vorwiegend schriftlichen Austausch zurückgeworfen sind. Seine Tage verbrachte Benjamin in der Pariser Bibliothèque Nationale, und wenn es unter dem "gemalten Sommerhimmel" des Arbeitssaals einmal zu einer zufälligen persönlichen Begegnung kam, so wanderten im günstigsten und doch zugleich gefährlichsten Fall "die Zettel von Tisch zu Tisch". Dies bezeugen die von Luhr wiedergegebenen Tagebuchnotizen von Werner Kraft, Benjamins zeitweiligem Sternenbruder zwischen zwei Zerwürfnissen.

"Ich habe keine Heimat, kein Vaterland, keine Befreundeten mehr, und wenn ich an das Vergangene denke und mich noch für verbunden halte, so ist das bloß meine Wahl und meine Vorstellungskraft, kein Zwang der Verhältnisse." Mit leiser Kommentatorenstimme zitierte Benjamin diese Stelle eines Briefs von Georg Forster aus dem Pariser Exil in der unter dem Pseudonym Detlef Holz herausgegebenen Brieffolge "Deutsche Menschen" - seiner "Flaschenpost" von der mit wenigen Mitteln erbauten "Arche". Unschwer kann man darin sowohl Benjamins Selbstporträt als auch den Verfahrensmodus seiner Lektüren erkennen, zwischen deren Zeilen er seinen Bleistift spazierenführt. Die Vorzüge einer - wie Forster ebenfalls schrieb - "Lage, wo man an nichts mehr gebunden ist", hatte der Leser und Literaturkritiker Walter Benjamin schon immer gegen einen obsoleten Kanon ins Feld geführt. Der Ausnahmezustand, der mit dem Niedergang der bürgerlichen Welt einherging, sollte auch das regulieren, was Benjamin die "Ökonomie" seines Daseins nannte: von daher die "extremen Positionen", in denen sich - wie es in einem berühmten Brief an Margarete Karplus heißt - "mein Leben so gut wie mein Denken" bewegt: "Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, nebeneinander zu bewegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr." Doch sobald die ",gefährlichen' Beziehungen" ihm aufgrund allzu großer Nähe im Sternenhaus als "unheilvolle Konstellationen" erschienen, brach er sie abrupt ab.

"Was passiert", so fragt Honold, "wenn mehrere heterogene Körper aufeinandertreffen?" An Benjamins Schlüssellektüren läßt sich dies ebenso studieren wie an seinen persönlichen Beziehungen. In den von Werner Kraft protokollierten Gesprächen stand nicht zufällig Franz Kafka, Benjamins letzter literarischer Leitstern auf der Umlaufbahn von Briefen und Büchern, im Mittelpunkt: Es war die Geste der Verwandlung, die Benjamin zu Kafka und nach Art einer Koinzidenz der Gegensätze gleichzeitig zu Brecht hinzog: "Was nie geschrieben wurde, lesen" - mit diesen Worten trat in Hofmannsthals Einakter "Der Tor und der Tod" der Schnitter kopfschüttelnd von der Bühne ab, als der Held Claudio ("Erst, da ich sterbe, spür ich, daß ich bin.") tot zu Boden gesunken war: "Wie wundervoll sind diese Wesen, / Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, / Was nie geschrieben wurde, lesen, / Verworrenes beherrschend binden / Und Wege noch im ewig Dunklen finden." Es ist nicht leicht, in der Abenddämmerung das Morgengrauen zu finden.

VOLKER BREIDECKER

Geret Luhr (Hrg.): "Was noch begraben lag". Zu Walter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente. Bostelmann & Siebenhaar Verlag, Berlin 2000. 296 S., br., 48,- DM.

Alexander Honold: "Der Leser Walter Benjamin". Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000. 431 S., br., 58,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Benjamin-Renaissance, befindet Rezensent Volker Breidecker, sei in ein "nachbarockes Stadium der Inschriftenkunde" eingetreten, "darin die Philologen den Relikten ihres Objekts wie arkadische Hirten den steinernen Resten von Grabmälern" begegnen würden. Er bespricht zwei Neuerscheinungen zu Benjamin, die "den epigraphischen Antrieb zur Leitmelodie" machten und gleichzeitig zur Parallellektüre einladen würden.
1 Geret Luhr: "Was noch begraben lag"
Diese Sammlung von Briefen und anderen Dokumenten von Freunden und Bekannten, die mit Benjamin auch nach seiner Flucht aus Deutschland noch in Verbindung standen, leistet nach Ansicht von Volker Breidecker "einen Beitrag zur Kompensation eines Defizits". Die Briefedition Benjamins habe nämlich auf "die Wiedergabe der gleichrangigen Gegenbriefe" verzichtet. Möglich, dass jetzt der "vollständig edierte Benjamin" aus nicht mehr ganz so "entrückter Ferne" auf seine Leser und Kommentatoren blickt, wie bisher. Jedenfalls hat der Rezensent in diesem Buch ein paar schöne Stücke gefunden. Einen Brief des Benjamin-Sohns Stefan samt Zeichnung beispielsweise ("ein rührendes Bild der Gefahr") oder ein Schreiben der Brecht-Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann, den Briefbericht eines Freundes, der mit Benjamin kurz nach Kriegsbeginn interniert war sowie Briefe von Ex-Frau und -Liebhaberinnen.
2 Alexander Honold: "Der Leser Walter Benjamin"
In den Augen von Rezensent Volker Breidecker ragen diese Untersuchungen nicht nur gedanklich sondern auch sprachlich "aus der Flut der katechetischen Literatur" heraus. Honold habe Benjamin "gelesen", indem er sich zu dessen Mitleser gemacht habe. Seine Betrachtungen gälten Benjamins "kometenhaften, auf ferne Korrespondenzen und extreme Konstellationen erpichte Lektüren im Kosmos eines persönlichen Literaturkanons". An diesen Lektüren lässt sich, wie Rezensent Breidecker ganz praktisch vorführt, das Bild Benjamins noch einmal ganz eigen zusammenfügen. Und obwohl man gar nicht so recht erfährt, was in diesem Buch eigentlich steht, ist man doch neugierig geworden.

© Perlentaucher Medien GmbH
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