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Der Begriff ist zwar neu, doch hat es das Virtuelle immer schon gegeben. Mehr als hundert virtuelle Gräber Christi gab es im Mittelalter, Liturgie und Zeremoniell führten dazu, konkrete Räume neu zu definieren; Panoramen, Glas-Eisen-Konstruktionen, die Villen von Mies van der Rohe, Installationen, Film, Werbung, Cyberspace - stets entstehen im Kopf des Betrachters Raumdispositionen, die neue Elemente einbringen. Wie im Film ordnet der Betrachter das Virtuelle in einer Einheit mit dem Bestehenden zu einer kompakten Welt, in der er sich wiederfindet. Der Verfasser dieses Buches zeigt, dass diese…mehr

Produktbeschreibung
Der Begriff ist zwar neu, doch hat es das Virtuelle immer schon gegeben. Mehr als hundert virtuelle Gräber Christi gab es im Mittelalter, Liturgie und Zeremoniell führten dazu, konkrete Räume neu zu definieren; Panoramen, Glas-Eisen-Konstruktionen, die Villen von Mies van der Rohe, Installationen, Film, Werbung, Cyberspace - stets entstehen im Kopf des Betrachters Raumdispositionen, die neue Elemente einbringen. Wie im Film ordnet der Betrachter das Virtuelle in einer Einheit mit dem Bestehenden zu einer kompakten Welt, in der er sich wiederfindet. Der Verfasser dieses Buches zeigt, dass diese Innovationen einen historischen Ursprung haben und dass der Begriff des Virtuellen zwar neu, jedoch auf viele historische Kunstwerke anzuwenden ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2000

Auch Barbarossa schätzte das Bacardi-Gefühl
Gründliche Erlebnisraumpflege: Gottfried Kerscher liebt es auf die virtuelle Tour

Verglichen mit der Weltreise, hat die Zeitreise den Vorteil, daß man, um sie anzutreten, keinen Fuß vor die Tür setzen muß. Das spart Kosten und bewahrt zudem vor der Gefahr, in widrige Geschicke verwickelt zu werden. Rührt doch, folgt man Blaise Pascal, das ganze Unglück der Menschen einzig vom Umstand her, daß sie nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben können. Glücklich daher der Zeitreisende: TV, Video, Bücher und PC in Griffweite, lockt ihn nichts aus dem Sessel, vom Zimmer zu schweigen.

Zu einer Zeitreise im Medium des Buches lädt Gottfried Kerscher ein. Sie beginnt bei den virtuellen Büros der Gegenwart und endet in den Sakralräumen der Kirche Santo Stefano im Bologna des zwölften Jahrhunderts. Ihre Stationen sind: die Strandhütte in einem Werbespot von Bacardi; das Zimmer der Wunscherfüllung in Andrej Tarkowskijs Film "Stalker"; der Bahnhof "Roma, Stazione Termini" in dem gleichnamigen Film von Vittorio de Sica; Bruno Tauts Architektur der Gartenstadt; der "Barcelona Pavillon" von Mies van der Rohe; die Warenhäuser, Passagen und Weltausstellungshallen sowie die Panoramen des neunzehnten Jahrhunderts; die Revolutionsarchitektur von Claude-Nicolas Ledoux und Etienne Louis Boullée; Vaux-le-Vicomte, eines der Schlösser von Nicolaus Fouquet, Finanzminister unter Ludwig XIV.; die Wandgemälde im Palazzo del Te und in der Villa Barbaro; die Privatgemächer und Zeremonialräume in italienischen Palästen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts; zwei französische Kardinalshöfe anläßlich des Papstbesuches 1343.

Diese Bauwerke waren jeweils für die Öffentlichkeit ihrer Zeit bestimmt. Der Weg führt vom egalitären Publikum der Konsumenten und der Bürger bis zum exklusiven Publikum des Hofes und des Klerus. Die Struktur der jeweiligen Öffentlichkeit, lautet nun die These, habe jenseits der architektonischen Räumlichkeiten stets einen Handlungs- und Erlebnisraum hervorgebracht, der virtuell genannt werden könne. Allen sei zu eigen, "daß sie ohne den Rezipienten, der mindestens Teile der kulturellen Besonderheit durchschaut, entschlüsselt oder spürt, nicht existieren. Es existierte dann nur eine Hülle, ein Steinkonglomerat, ein Haus, ein Bau ohne Bedeutung oder mit anderem Sinngehalt." Für eine These ist das ziemlich allgemein formuliert. Denn welches Gebäude stünde nicht in Beziehung zu seinem Benutzer und dessen soziokultureller Kompetenz? Auch verschleift Kerscher das gegenwärtige Verständnis von Virtualität als elektronischer Raumsimulation und Kommunikation mit der Auffassung des Virtuellen als eines werkästhetischen Sinnpotentials, das sich im Verlauf der Rezeption konkretisiert. Daher fällt die behauptete Virtualität nicht für jede Station der Zeitreise einsichtig aus.

Überzeugend sind die Darlegungen zu den Panoramen sowie zu den Wand- und Deckengemälden des Manierismus. Kerscher nennt beide Raumkonzeptionen virtuelle Räume "par excellence". Beide Male liegt eine Verschränkung von realem und illusionistischem Raum vor. Der Betrachter sieht sich, sofern er den idealen Blickpunkt einnimmt, in eine simulierte Realität getaucht.

Für die Interpretation der Strandhütte in dem Werbespot von Bacardi verwendet Kerscher den Virtualitätsbegriff in der Bedeutung eines zu konkretisierenden Sinnpotentials. "Vereinfacht könnte man sagen, daß der virtuelle Raum in dem Moment entsteht, in dem Bacardi getrunken wird." Rezeptionsästhetisch gesprochen: Beim zweiten Glas beginnen die glückverheißenden Bilder der Werbung sich verstärkt der Phantasie zu bemächtigen. Man kennt das als Bacardi-Feeling, ohne es schon gleich virtuell nennen zu wollen.

Einen Schwerpunkt bildet die Architektur des Absolutismus und der Renaissance. Im Rekurs auf die Analysen von Norbert Elias zur höfischen Gesellschaft macht Kerscher anhand ausgewählter Beispiele deutlich, in welch hohem Grade die Schloß- und Palastanlagen auf den Regenten und dessen Appartement hin ausgerichtet waren. Selbst dort, wo die fürstlichen Audienz- und Studierzimmer, wie im Palazzo Ducale in Urbino, dezentral liegen, bezeichnen sie das Zentrum der Anlage. Die höfische Architektur bezieht ihren Sinn in toto aus dem Funktionssystem der Repräsentation, des Zeremoniells, der Etikette. Erlischt dieses System oder gerät es in Vergessenheit, dann bleibt in der Tat ein bloßes "Steinkonglomerat" zurück. Wenn Kerscher jedoch darüber hinaus betont, die Schloß- und Palastanlagen erzeugten durch die "Kombination der räumlichen Struktur mit sozialen Elementen" einen virtuellen Raum, so ist dies letztlich nichtssagend, weil das gleiche auf eine Straßenkreuzung oder einen Kasernenhof, eben auf nahezu alles zutrifft. Weitet man Virtualität zum Synonym für die Appellstruktur architektonischer Gegebenheiten aus, verspielt man das Potential, das ein enger gefaßter Begriff enthält.

Die vorletzte Station der Zeitreise bietet dafür ein überzeugendes Beispiel. Indem Gottfried Kerscher die Umfunktionierung zweier Kardinalshöfe zu päpstlichen Residenzen rekonstruiert, wirft er ein erhellendes Licht auf das, was man heute als virtuelles Büro bezeichnet. Ähnlich wie der Arbeitsplatz aus Notebook, Internet und Mobiltelefon war die Residenz eines mittelalterlichen Regenten an keinen Ort gebunden. Sie befand sich stets dort, wo der Regent Einzug hielt oder zeitweise seine Zeltburg aufbauen ließ. Ihr Status definierte sich allein durch die ablaufenden Kommunikationsprozesse. So gesehen hätte Friedrich Barbarossa, versetzte ihn eine Zeitmaschine in die Gegenwart, vermutlich geringere Assimilationsprobleme als unsere eigenen Urgroßeltern.

RALF DROST.

Gottfried Kerscher: "Kopfräume - Eine kleine Zeitreise durch virtuelle Räume". Ludwig Verlag, Kiel 2000. 240 S., Abb., br., 49 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ralf Drost scheint dieses Buch nicht wirklich überzeugend zu finden. Zwar macht er neugierig, indem er berichtet, dass der Leser bei diesen Zeitreisen durch ganz verschiedene Orte geführt wird, von der Strandhütte aus der Bacardi-Werbung über Kirchen, Bauten berühmter Architekten bis hin zu alten Schlössern. Wenig plausibel findet Drost jedoch Kerschers Thesen zu Virtualität. Kerscher, so der Rezensent, weist darauf hin, dass all diese Orte nur durch den kulturellen Hintergrund des Rezipienten Sinn bekommen und ansonsten nichts als ein `Steinkonglomerat` sind. Dies findet Drost zu allgemein, denn demnach träfe dies auch auf eine "Straßenkreuzung oder einen Kasernenhof" zu. Zum anderen findet Drost die Verwendung des Begriffes `Virtualität` heikel, der heute eher in Zusammenhang mit elektronischen Scheinwelten verwendet werde und weniger in Kerschers Sinn eines "werkästhetischen Sinnpotentials", in dem etwa ein bestimmtes Gebäude untrennbar von einem Zeremoniell zu denken ist. Gut gefallen dem Rezensenten jedoch die Passagen zu "Wand- und Deckengemälden des Manierismus", weil es hier seiner Ansicht nach tatsächlich zu einer "Verschränkung von realem und illusionistischem Raum" kommt.

© Perlentaucher Medien GmbH